Das Landesprogramm radioBerlin 88.8 war, wie das Vorgängerformat SFB 1, über sehr lange Jahre ein verlässlicher Funkturm innerhalb der Berliner Radiolandschaft. Hohe Anteile an regionaler Berichterstattung und Service aus der Hauptstadtregion, eingebettet in ein durchhörbares Musikkonzept mit Pop-Hits der 80er Jahre bis heute prägten als markante Bausteine das Image der Welle. Nicht zu vergessen die liebevoll gemachten mono-thematischen Musikspecials am Abend.
Anfang 2019 wurde das Programm jetzt einem umfangreichen Relaunch unterzogen. Mit beispielsweise mit neuen Moderatoren, neuer Morgenstrecke, veränderter Abendschiene, neuem Claim – und einem neuen Namen. Seit 4. Februar firmiert der Berliner Landessender nun unter rbb 88.8. Viele Gründe, um nach den Motiven der Veränderungen zu forschen. Im Interview mit RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich erläutern Programmchef Konrad Kuhnt und Musikchef Holger Lachmann die Neuausrichtung von rbb 88.8.
RADIOSZENE: Herr Kuhnt, seit 4. Februar haben Sie Ihr Programm mit neuem Namen, neuem Claim und erneuerten Inhalten einem umfassenden Relaunch unterzogen. Was sind die wesentlichen Gründe für diese Veränderungen?
Konrad Kuhnt: Unser Vorläuferprogramm radioBerlin 88,8 ist 13 Jahre lang ohne große Veränderungen gelaufen. Da wurde es Zeit für ein paar auch durchaus deutliche Erneuerungen.
RADIOSZENE: Warum ist der Begriff „Berlin“ ist nun nicht mehr im Sendernamen präsent? War es nicht auch riskant während der MA-Erhebung einen solch umfassenden „Neustart“ zu vollziehen?
Konrad Kuhnt: Der Grund ist ganz einfach: radioBerlin 88,8 war ein ganz toller Name. Er hatte nur einen Nachteil. Er hat sich nicht durchgesetzt. Die Leute sagten zu unserem Programm entweder „rbb“ oder „88,8“. Manche sagten auch beides. Und das haben wir dann genommen. Erstaunlich ist, wie schnell sich dieser neue Name „rbb 88.8“ durchgesetzt hat. Das bestätigt mal wieder die These „Mach es so einfach wie möglich.“ Natürlich wäre es besser gewesen, wir wären Anfang Dezember an den Start gegangen und hätten die ganze MA-Erhebung als rbb 88.8 mitgenommen. Das hat nicht geklappt. Allerdings betrachten wir rbb 88.8 als Langzeitprojekt. Da ist eine MA-Welle nicht spielentscheidend.
„radioBerlin 88,8 war ein ganz toller Name. Er hatte nur einen Nachteil. Er hat sich nicht durchgesetzt“
RADIOSZENE: Bei der Tagesreichweite lag radioBerlin 88.8 laut der letzten MA-Erhebung stabil, bei der Stunde haben Sie im Sommer verloren. Sicher wollen Sie neue Hörer hinzugewinnen, verloren gegangenes Klientel wieder zurückholen. Welche Hörergruppen haben Sie hierbei besonders im Visier?
Konrad Kuhnt: Ja, stimmt. radioBerlin 88,8 war ein sehr stabiles Programm und immer vorne mit dabei. Wir haben also den Wechsel zu rbb 88.8 vom Quotendruck her nicht mit dem Rücken zur Wand durchziehen müssen. Ich bin sehr froh, dass wir uns im rbb entschieden haben, proaktiv tätig zu werden und uns rechtzeitig auf eine etwas jüngere, berufstätige Zielgruppe auszurichten.
RADIOSZENE: Wesentliche Veränderung ist ein neues Morgenteam, das ab 7.00 Uhr auf Sendung ist. Sind in der Morningshow auch neue oder veränderte Inhalte zu hören?
Konrad Kuhnt: Die wesentlichste Veränderung ist eigentlich unsere Weckerstrecke zwischen 5.00 und 7.00 Uhr, die wir „Früh-Früh-Show“ genannt haben. Hier wollen wir die Leute schnell informiert und musikalisch bestens begleitet in den Tag bringen. Dementsprechend sind die Inhalte sehr auf den Punkt, während „Guten Morgen Berlin“ sich deutlich ruhiger darstellt und auch, wie bisher schon, Raum lässt für eine vertiefte Berichterstattung. Wir haben hier auch einen Nachrichten-Sidekick eingeführt, um unsere Informationskompetenz in dieser Flaggschiffsendung zu stärken.
RADIOSZENE: Im Claim versprechen Sie „100% Berlin“. In welchen weiteren Sendestrecken informieren Sie die Hörer mit Nachrichten und Themen aus der Hauptstadtregion? Haben Sie auch hierfür neue Informationsplätze eingebaut?
Konrad Kuhnt: Unsere Berlin-Berichterstattung mussten wir nicht ausbauen. Wir waren schon immer 100% Berlin, haben es aber nie so deutlich gesagt: So viel Berlin wie bei rbb 88.8 gibt es in keinem anderen Programm. Unsere Berlin-Berichterstattung zieht sich über den gesamten Tag. Wir senden als Basis jeweils zur halben Stunde unser „Berlin-Journal“. Das ist eine komplett eigenproduzierte Reporter-News-Show, auf die wir richtig stolz sind. Um dieses Berlin-Journal gruppieren sich dann die unterschiedlichsten Themen, die die Hauptstadt so liefert. Um 17.00 Uhr starten wir mit einer ganz stark journalistisch ausgerichteten Tageszusammenfassung aus Berlin, die auf jeden Schnick-Schnack verzichtet und den Leuten klipp und klar sagt, was am Tag wichtig war. In der zweiten Stunde dieser Sendung haben wir zusätzlich Raum für vertiefende Interviews oder Hörerdiskussionen. Aber alles ist immer tagesaktuell.
„Wir waren schon immer 100 % Berlin, haben es aber nie so deutlich gesagt“
RADIOSZENE: Herr Lachmann, auf den ersten Blick scheinen die Veränderungen bei der Musik im Tagesprogramm nur gering ausgefallen zu sein … tragende Säulen sind die Hits der 80er und 90er. Hinzu kommen einige 2000er und 2010er sowie zwei bis drei aktuelle Hits pro Stunde. Die Oldies der 1970er-Jahre sind dagegen nicht mehr so präsent. Wie würden Sie genau das rbb 88.8 Musikkonzept beschreiben?
Holger Lachmann: In Zeiten, in denen alle ihren ganz persönlichen Musikgeschmack via Streamingdienste praktisch zu jeder Zeit bedienen können, bleibt uns nur, uns so gut wie möglich an den größten gemeinsamen Nenner der Musikgeschmäcker unserer Hörerinnen und Hörer anzunähern. Aus einer kürzlich für uns durchgeführten umfangreichen Musikstudie haben wir gelernt, dass die Songs der 1980er und 1990er Jahre mit Abstand die von unserem Publikum favorisierte Musik ist. Diesem Fakt wollen wir gerecht werden, die Basis unseres Programms bilden die Songs aus diesen Jahrzehnten. Wir haben uns außerdem entschlossen, auch aktuelle Titel ins Programm zu nehmen, um musikalisch nicht „von gestern“ zu wirken. Tatsächlich haben wir maximal insgesamt vier Songs pro Stunde im Programm, die aus der Zeit nach dem Jahr 2000 sind, davon einer aus den aktuellen Charts.
Eine genaue Betrachtung der Radioprogramme in Berlin hat aufgezeigt, dass unsere Mischung so fast gar nicht angeboten wird. Viele Sender, vor allem auch die jungen Formate, konzentrieren sich völlig auf die aktuelle Musik beziehungsweise auf die Zeit nach 2000, andere stehen vor allem für „echte“ Oldies, also für die Songs der 60er bis 80er Jahre. rbb 88.8 hat hier eine Lücke ausgemacht: Wir wollen der Sender für die „erste Generation MTV“ sein.
RADIOSZENE: Bei der Auswahl kommt mit im Trend liegenden Interpreten wie Chainsmokers, Ava Max, Rita Ora oder Wincent Weiss auch eine aktuelle Anmutung ins Programm. Wollen Sie hier verstärkt auch jüngere Hörer an den Sender binden?
Holger Lachmann: Ein reines „Oldie“-Programm mit Songs aus den 80er und 90er-Jahren hätte auf uns wie ein Rückschritt gewirkt. Unsere Zielgruppe liebt die Hits aus ihrer Jugend, lebt aber trotzdem im „hier und jetzt“ und nicht in der Vergangenheit. Deshalb bieten wir natürlich auch aktuelle Songs an. Hierbei kommen wir nicht an den angesagten Künstlern von heute vorbei, sei es Ed Sheeran, Pink oder George Ezra. Wollen wir auch gar nicht, die neuen Songs passen hervorragend zum Sound der 80er und 90er.
RADIOSZENE: Welche Rolle spielt die deutschsprachige Musik bei rbb 88.8?
Holger Lachmann: Na sagen wir eine formatgerechte. Wir spielen so gut wie alle deutschen Titel, die ins 80er/90er-Format passen, von Grönemeyer über Die Fantastischen Vier bis hin zu Falco. Im Bereich der aktuellen Titel haben wir etwa Mark Forster oder Christina Stürmer im Programm. An guten deutschsprachigen Songs mangelt es sicher nicht, aber, auch das wissen wir aus Untersuchungen, es hapert an der Akzeptanz unserer Zielgruppe.
Um dem offensichtlich vorhandenen Trend zu deutscher Musik trotzdem ein Forum zu geben, haben wir auch weiterhin eine spezielle Abendsendung: „100% Made in Germany“. Der Name ist Programm, Heiner Knapp moderiert die Show jeden Mittwoch ab 19.15 Uhr.
„Wir wollen der Sender für die „erste Generation MTV“ sein“
RADIOSZENE: Ein Schmuckstück im bisherigen Programm war die Abendschiene mit zahlreichen Musikspecials. Die Strecke bleibt, allerdings haben sich einige Inhalte verändert. Auch hier heißt das Motto jetzt: 100%. Welche Änderungen gab es und wie wichtig sind diese Shows für das Gesamtkonstrukt?
Holger Lachmann: In der Vergangenheit hatten einige Abendsendungen das gleiche Problem wie radioBerlin insgesamt: Ein klares Profil war nicht zu erkennen. Dem haben wir jetzt mit der „100%“-Marke entgegengewirkt. Geblieben sind unsere Rock- und Deutsch-Sendung. Neu hinzugekommen sind eine reine Soulshow am Freitagabend und „100% Dance“ am Samstagabend. Klar strukturiert stellt sich jetzt auch der Montagabend dar: Im wöchentlichen Wechsel gibt es 100% 80er und 100% 90er. Hier vertiefen wir die Standards aus dem Tagesprogramm und steigen auch mal in den Plattenkeller, wie man so schön sagt. Hier laufen dann auch Songs aus den beiden Jahrzehnten, die man nicht überall hört. Dienstags wird’s entspannt, bei 100% Easy spielen wir die schönsten Balladen, Chill-Songs und alles, was einen entspannten Abend vor dem Radio verspricht. Die einzige Spezial-Sendung, bei der nicht der Fokus auf der Musik liegt, ist 100% Promi am Sonntagabend. Moderatorin Marion Hanel empfängt hier Gäste mit Rang und Namen.
RADIOSZENE: Auch sonst spielen Musikinfos bei rbb 88.8 eine wichtige Rolle – wie auch auf der Webseite. In welcher Form und in welchem Umfang räumen Sie der Berichterstattung rund um die Musik Raum im Programm ein?
Holger Lachmann: Wir reden über Musik, sobald es sich ergibt und wichtig ist – so oft wie möglich. Das haben wir in der Vergangenheit oft vernachlässigt und bauen das jetzt aus. Sei es zum Beispiel mit Tim Koschwitz‚ 80er vor 8 oder unseren „Back-In-Time“-Popsplits, in denen wir Songs mit zeitgenössischen Geschehnissen verknüpfen. Zum Sendestart haben wir auch eine umfangreiche multimediale Webdoku online gestellt. Musik spielt bei unseren Hörern eine große Rolle – dem wollen wir gerecht werden.
RADIOSZENE: Der Hörer hat heute online mit seinem Smartphone eine vielfältige Auswahl an allzeit verfügbaren Diensten, die bis heute noch in kompakter Form das Radio leistet. Ich denke da an News, Service, Entertainment oder Lifestyle. Mit welchen Strategien und Angeboten kontern Sie dieser Entwicklung, um auf Dauer nicht entbehrlich zu werden?
Konrad Kuhnt: Ach ja, der Hörer und sein Smartphone. Was hat der Hörer mit seinem Smartphone nicht schon alles angestellt und tatsächlich hört er immer noch Radio. Mal ganz vorab: rbb 88.8 ist bei uns im rbb nicht das Programm, das den neusten Online- oder Social-Media-Trends nachspürt.
Dafür haben wir unser Jugendprogramm Fritz, das sich aus diesem Grund auch als digitale Marke aufstellt. rbb 88.8 ist ein Programm, das sich an Leute in der Mitte des Lebens wendet. Die haben in den meisten Fällen mit ganz irdischen, eher analogen Problemen zu kämpfen – Kinder in die Schule bringen, im Stau stehen, 8-Stunden-Tag, usw. Sie können oder wollen sicherlich nicht ihren kompletten Medienkonsum auch noch selbst organisieren. Hier wollen wir ein berechenbares, qualitativ hochwertiges Informationsangebot dagegensetzen, das sich auf das wirklich Wichtige beschränkt und den Menschen ansonsten auch die nötige Ruhe lässt, um ihre Alltag zu bewältigen.
RADIOSZENE: Welche Rolle spielt in Ihren Konzepten die Online-Einbindung der Hörer, wie gehen Sie mit der wachsenden Bedeutung von Podcasts um?
Konrad Kuhnt: Ich stelle mir manchmal die Frage: „Was muss man eigentlich tun, wenn man Radio „verkaufen“ will? Muss man Podcasts anbieten? Muss man auf allen Social-Media-Plattformen präsent sein? Muss man Hörer unbedingt auf seine Homepage zerren?“ Oder wäre es vielleicht besser, zu sagen: „Hey, wir sind ein richtig tolles Radio und alles was wir an Ressourcen und Kapazitäten haben, investieren wir, um ein richtig tolles Programm zu machen. Und wenn Ihr dabei sein wollt, dann müsst Ihr uns einschalten. Denn uns gibt es nur im Radio.“ Der Trend ist gerade anders, auch bei uns. Natürlich sind wir online, machen Social-Media und haben Podcasts. Und zumindest die Podcasts werden wir ausbauen. Denn das ist Audio – und Audio ist unser Geschäft.
„Auch im rbb experimentieren wir mit personalisiertem Radio. rbb 88.8 entwickelt gerade mit den entsprechenden Abteilungen ein Konzept für ein personalisiertes Frühprogramm“
RADIOSZENE: Erste Privatsender wie der Berliner Marktteilnehmer 104.6 RTL experimentieren bereits mit personalisiertem Radio, bauen ihre Sub-Marken im Internet vehement aus. Sind dies Entwicklungen, die Auswirkungen auf die Hörgewohnheiten und die allgemeine Konkurrenzsituation haben werden?
Konrad Kuhnt: Auch im rbb experimentieren wir mit personalisiertem Radio. rbb 88.8 entwickelt gerade mit den entsprechenden Abteilungen ein Konzept für ein personalisiertes Frühprogramm. Allerdings ist es noch viel zu zeitig, um darüber mehr zu sagen.
RADIOSZENE: Auf welche weiteren Veränderungen muss sich das lineare Radio absehbar einstellen? Vervollständigen Sie abschließend den Satz: „rbb 88.8 und das Radio als solches werden auch zum 100. Geburtstag des Hörfunks noch eine bedeutende Rollen in der Lebenswelt der Hörer haben, weil …“
Konrad Kuhnt: Ich glaube schon, dass in den Personalisierungsansätzen ein Teil der Zukunft liegen wird. Schließlich macht es ja Sinn, wenn man sich – und das ist wichtig – ohne große Mühe etwas zusammenstellen kann, das die eigenen Informations- und Unterhaltungsbedürfnisse optimal befriedigt. Auf der anderen Seite wird das Radio auch an seinem 100. Geburtstag noch eine bedeutende Rolle spielen, denn es ist ein Dienstleister mit einer hohen emotionalen Intensität, der absolut keine Arbeit macht. Man muss nur einen Knopf drücken – zumindest bei älteren Geräten (lacht).