Überall wuchert schon Unkraut. Die Treppen zur Eingangshalle sind voll davon, die Grünanlage gerät außer Kontrolle. Es sieht so aus, als sei sie schon verlassen worden, die Kurzwellen-Sendeanlage in Wertachtal, im Allgäu bei Landsberg am Lech.
Dabei ist hier noch einer, der die Stellung hält: Albert Richter war von Anfang an dabei, als 1972 der „Sender Wertachtal“ on air ging. Der wichtigste Kunde war die Deutsche Welle, die DW, der Auslandsrundfunk der Bundesrepublik, der von hier aus Deutsche in Afrika, dem Fernen Osten oder Lateinamerika per Radio erreichen konnte. War die DW die Stimme Deutschlands, so war der Wertachtalsender ihr Organ.
Antennen überall
Rundfunk- und Fernsehtechniker Albert Richter war auch dabei, als in den Niederlanden eine ähnliche Sendeanlage zurückgebaut wurde, koordinierte den Abriss des Kurzwellenzentrums in Jülich. Jetzt ist sozusagen sein eigener Sender an der Reihe. Als er Ende Juli noch einige interessierte Antennen- und Radiofans durch das Areal führt und das erzählt, schmunzelt er hinter seinem grauen Schnauzbart, obwohl ihm eigentlich gar nicht zum Schmunzeln ist. Nach seiner Ausbildung zum Rundfunktechniker hat er den größten Teil seines Berufslebens hier im bayerischen Outback verbracht. Da, wo der Himmel voller Antennen hängt.
Auf einem ca. 200 Hektar großen Gebiet zwischen Ettringen und Lamerdingen stehen drei Antennenwände, die aus 29 rot-weißen Masten und dazwischen filigran gespannten Drähten bestehen. So entstehen 70 Antennen. Damit konnte aus dem Wertachtal jeder Flecken der Welt mit Kurzwellenradio versorgt werden. Das nutzten viele internationale Rundfunksender. Abgesehen von der Deutschen Welle auch Radio Canada International, die Stimme Amerikas, Radio Japan oder Radio Nederland, zum Schluss für eine Sondersendung für Seefahrer sogar der NDR. Doch in den vergangenen Jahren zogen sich die großen Kunden zurück. Die Deutsche Welle wechselte zu Sendeanlagen in Großbritannien, bevor sie ihre Sendungen aus Europa und auf Deutsch gänzlich einstellte. Viele andere Veranstalter begannen ebenfalls, ihre klassischen Kurzwellen-Sendungen zurückzufahren.
Kein Weltuntergang, kein Sender mehr
Was blieb, waren noch einige religiöse Radiosender, die ihre Botschaften in alle Ecken des Globus senden wollten und sich hier einmieteten. Ein guter Kunde aus Amerika, sagt Albert Richter mit einer Mischung aus Lächeln und Bedauern, habe sich auf Weltuntergangsszenarien eingeschossen und diese in seinen Sendungen verkündet. Doch der Weltuntergang blieb aus, bei der amerikanischen Rundfunkmission war man höchst verwirrt, stürzte in finanzielle Schwierigkeiten und strich alle Sendungen. Wertachtal war wieder um einen Abnehmer von Sendezeit ärmer. Jetzt war die Anlage aber schon lange nicht mehr ausgelastet.
Ende März 2013 war dann endgültig Schluss. Das Betreiberunternehmen, die Media Broadcast GmbH, verschob alle noch verbliebenen Sendungen u.a. zur Sendeanlage Nauen nahe Berlin; die jetzt der einzige Kurzwellen-Großsender in Deutschland ist. Auch viele Teile der Technik gehen dorthin. So, als würde eine Wohnung gepfändet werden, kleben auf einzelnen Gerätschaften im Wertachtaler Kontrollraum jetzt kleine weiße Aufkleber mit der Beschriftung „NAU“. Das zieht mit um. Alles andere, was nicht nach Berlin gebracht oder verkauft werden kann, wird weggeschmissen. Spätestens wenn zwischen Spätsommer und Herbst mit der Sprengung der Antennen begonnen wird, ist das Sendergebäude in seiner Mischung aus zeitloser Zweckmäßigkeit und Siebzigerjahreoptik leer.
Was mit dem Gelände passiert, steht noch nicht fest. Drumherum wurden in den vergangenen Monaten Solaranlagen aufgestellt, um „Strom dort zu erzeugen, wo er verbraucht wird“. Dabei stehen inzwischen alle Anzeigentafeln an den Sendern auf Null. Ein Werbefilm dazu erklärt dieses Vorhaben und zeigt auch die Antennen aus vielen Perspektiven.
Im Kontrollraum findet sich an einer Tafel eine schematische Darstellung der Antennenanlage. Mit kleinen Lämpchen kann hier dargestellt werden, welche Antennen gerade für welches Programm in Betrieb sind. Die Leuchtdioden sind aber alle aus, jemand hat auch schon die Rückwand dieser Anzeigentafel entfernt.
In den Technikschränken wurde schon begonnen, die ersten Gerätschaften abzubauen. Diese empfingen die Programminhalte. An den Regalen stehen noch die Namen der internationalen Sender die hier Sendezeit buchten, darunter auch „NHK“: Eine „Standleitung nach Japan“ brachte Programme von Tokio bis nach Wertachtal, wo sie dann für Europa ausgestrahlt wurden. Natürlich ist all das ausgeschaltet. Genauso auch eine Etage tiefer, im Sendersaal.
Das Dampfradio stirbt aus
Die eigentlichen Sender sind so groß wie zwei bis drei Kleiderschränke. Sechzehn Stück waren hiervon zu den besten Zeiten in Betrieb, neun waren auch bereit für digitale Aussendungen. Die Abwärme der ganzen Anlage war so groß, dass sie nicht nur das Sendergebäude selbst, sondern auch noch eine nahegelegene Gärtnerei beheizen konnte. Als aber die Rundfunksender ihre Kurzwellenprogramme begannen einzustellen, musste Techniker Albert Richter im Sendesaal an kühlen Wintertagen die Heizung hochdrehen – und auch die Gärtnerei nebenan war nicht erfreut darüber, dass sie ihre Pflanzen nun mit einer Ölheizung vor dem Frost schützen musste. Die Sendestation konnte einfach nicht mehr genügend Wärme liefern. Der Spruch, dass das „Dampfradio“ ausstirbt, passt wohl nirgendwo so gut wie hier.
Nach einem Rundgang an einer der Antennenwände verabschiedet sich Richter von den Besuchern, die teils bis aus Hannover angereist sind, um noch einmal den Sender sehen zu können. Wie eine asiatische Reisegruppe in Neuschwanstein fielen die Funkbegeisterten und Radiofans auch in die Sendestation ein, mit Fotokameras bewaffnet, um für die Nachwelt festzuhalten, wie einst Radio gemacht wurde und man Funkwellen auf große Reise schickte. Glaubt man den Prognosen einiger großer Rundfunkanstalten, dann könnte das Kurzwellenradio bald gänzlich verschwunden sein, wirkt es doch furchtbar antiquiert in einer Welt mit knisterfreien Webstreams, digitalen Sendernetzen oder sogar UKW-Stationen in Zentralafrika. Dass KW-Sendungen robust und im Vergleich zum erreichten Sendegebiet auch noch kostengünstig sind, spielt da keine Rolle.
Die Aufträge zur Sprengung der Sendemasten werden derzeit vergeben, sagt Albert Richter, der noch nicht genau weiß, wo er künftig arbeiten wird. Jetzt, nachdem er die Geschichte und den Aufbau der Station den Besuchern erklärt hat, meint er leise, nachdem fast alle Gäste wieder gegangen sind, er hänge ja doch an allem, was mit der Station zu tun habe, allen Büchern, Fotos und Erinnerungen. Denn in wenigen Monaten wird wohl hier nichts mehr daran erinnern, dass viele Radiohörer auf der ganzen Welt ihre Antennen in Richtung Wertachtal ausgerichtet haben.
Weiterführende Informationen
Weitere Fotos aus Wertachtal
Technische Informationen und ein Luftbild der Anlage
Kurzwellenrundfunk bei Media Broadcast
RADIOSZENE: Adieu DW, ein Rundfunkriese schaltet ab
Quelle der Titel- und Teasergrafik: User „Midnightfun“ auf Wikimedia.
Alle anderen Fotos: RADIOSZENE.