Nordrhein-Westfalen galt drei Jahrzehnte als ein stabiler Radiomarkt. Stand heute sind 17 der 45 Lokalradios defizitär, der Strukturprozess dümpelt vor sich hin und die Landesanstalt für Medien NRW (LFM NRW) und der Landtag ringen um Lösungen. Reformiert sich der NRW-Lokalfunk nicht von selbst, wird im Sommer 2024 die Medienkommission (MK) über eine Neuparzellierung der Verbreitungsgebiete entscheiden. Möglichst viele Lokalradios sollen erhalten bleiben, hieß es während der Medienkommissionssitzung am Freitag, dem 08.12.23, in Düsseldorf.
Das NRW-Lokalfunksystem ist die komplizierteste Radiostruktur weltweit. Die Zulassung erhält eine ehrenamtlich geführte Veranstaltergemeinschaft (VG), die sich einer zu kommunalen Trägern und örtlichen Verlegern gehörenden Betriebsgesellschaft (BG) bedient, um gemeinsam ein Lokalradio zu betreiben. Drei Jahrzehnte galt das Modell als Garant für redaktionelle Unabhängigkeit und Stabilität.
Der vor zwei Jahren gestartete Strukturprozess wird von etwa einem Viertel der 44 Veranstaltergemeinschaften nicht komplett unterstützt. Sie verweigern ihre Unterschrift bei einem von zwei Vertragswerken. Der Systemvertrag beschäftigte sich mit Kommunikations- und Abstimmungsmechanismen, der Überlagerungsvertrag mit Budgetprozessen und einem möglichen Funkhausmodell. Der Systemvertrag verlangt Einstimmigkeit, die nicht erzielt werden konnte. Dr. Tobias Schmid, Direktor der LFM NRW, unterteilt die Unterschriftsverweigerer in drei Gruppen: Identitätsverlust-Fürchterer, Ostwestfalen (aber nicht alle) und reiche Sender, die nichts abgeben wollen.
„Eigentlich haben sie die Angst [vor Identitätsverlust] nicht ganz zu Unrecht,“ sagte Dr. Tobias Schmid während der Sitzung. „Wenn uns eine BG sagt, die einzige Chance den Sender zu retten ist, dass wir den in ein anderes Gebäude packen, dann ist unser Instrumentarium extrem übersichtlich dazu ‚nein‘ zu sagen.“, so Schmid weiter.
Die zweite Gruppe – die Ostwestfallen – meint, schon vieles ohne ein Vertragswerk umgesetzt zu haben. Das Funkhausmodell wurde dort umgesetzt und deshalb bedürfe es keines Regelwerks.
Die dritte Gruppe sind reiche Stadtsender, die nichts abgeben wollen. „Wenn man 30 Jahre rumrennt und sagt, wir haben ein Solidarprinzip und jetzt kommt der erste Moment, wo man es fordert und man dann sagt: ‚Ahhh, ganz so habe ich das nicht gemeint mit der Solidarität,‘“ dann bleibt Dr. Schmid die Luft aus. Um die armen Lokalradios zu stützen, wies er im Konjunktiv darauf hin, dass ein Neuzuschnitt auch die Sender mit starken wirtschaftlichen Ergebnissen betreffen könnte. Der Direktor spricht vom „Rausschneiden“ bei den wirtschaftlich starken Sendern. „Ob und wie es dazu kommt, leitet sich aus den Erkenntnissen der Begutachtung ab,“ verrät die LFM NRW.
Bei einer Neuaufteilung könnten Sender zusammengelegt oder die Verbreitungsgebiete neuparzelliert werden, erläutert Dr. Schmid und nennt die Zahl „20“, die lediglich als eine von mehreren beliebigen Beispielzahl genannt wurde, erfahren wir später von der Medienanstalt NRW. Den reichen Sendern empfiehlt der Direktor, eine Sekunde nachzudenken und dann den Konflikt vom Ende her zu denken. Er habe eine andere Perspektive auf den Strukturprozess als die Betriebsgesellschaften und Veranstaltergemeinschaften.
Neuaufteilung der Verbreitungsgebiete
Die Medienkommission beschloss am 15. September 2023 die Beauftragung eines medienökonomischen Gutachtes. Zwar wurden bis jetzt bei jeder Neulizenzierung die Voraussetzungen für den Lokalfunk im jeweiligen Verbreitungsgebiet erneut geprüft, der heutige Zuschnitt der Gebiete geht aber auf die Gründungszeit des Lokalfunks zurück. Die damaligen wissenschaftlichen Gutachten wurden in einer „Grünen Fibel“ zusammengefasst. „Zahlreiche Annahmen von damals sind nicht mehr aktuell und bilden die Medienentwicklung der vergangenen 25 Jahre nicht ab,“ schrieb der Verband Lokaler Rundfunk in Nordrhein-Westfalen (VLR) bereits am 21. September 2015 an seine Mitglieder.
Reformiert sich der NRW-Lokalfunk nicht von selbst und die LfM NRW erkennt einen Handlungsbedarf nach § 54, Abs. 1 des Landesmediengesetzes NRW (LMG NRW), werden nach der Begutachtung zwei oder drei Vorschläge für einen Neuzuschnitt der Verbreitungsgebiete erarbeitet und der Medienkommission nach den Sommerferien 2024 vorgelegt.
Die Kommission wählt einen Vorschlag aus und beschließt eine neue Satzung zur Festlegung von Verbreitungsgebieten im lokalen Hörfunk. Die heutigen Verbreitungsgebiete entsprechen in 43 von 45 Fällen den Grenzen von einer oder zwei Gebietskörperschaften (Kreis oder kreisfreien Stadt).
Der Gesetzgeber nennt im LMG NRW auch als Kriterium Kommunikations-, Kultur- und Wirtschaftsräume, die nicht immer identisch mit den kommunalen Gebietsgrenzen sind. Welche Kriterien zukünftig anderes Gewicht bekommen müssen, wird erst nach der Auswertung des Gutachtens die LFM NRW entscheiden.
Konsequenzen des Neuzuschnitts
Drei Viertel der NRW-Lokalradios erhielten eine neue Zulassung zwischen Sept. 2014 und Sept. 2016. Nach 10 Jahren müssen Zulassungen erneuert werden. Bei einer Neuzuteilung der Verbreitungsgebiete würden bestehende Zulassungen nicht mehr verlängert werden, sagte Dr. Schmid.
Die Personalverantwortung für die Redaktion tragen beim NRW-Lokalfunk die Veranstaltergemeinschaften. Verlieren VGs ihre Zulassung, endet nach § 64, Absatz 3 nicht nur die Mitgliedschaft ihrer ehrenamtlichen Mitglieder, auch das Personal kann nicht weiterbeschäftigt werden.
Im Falle einer Neuzuteilung der Verbreitungsgebiete müssten neue Veranstaltergemeinschaften gegründet werden. Die Gebietskörperschaften (Kreistag, Rat der kreisfreien Stadt) bestimmen zwei Gründungsmitglieder, die einen neuen Verein gründen. Dieser würde mit einer neuen Betriebsgesellschaft eine verbindliche Vereinbarung abschließen und ein neues Radio würde gegründet werden. In die VGs können dann wieder die gleichen Vertreter der gesellschaftlich-relevanten Gruppen entsandt werden und die Redakteur*innen erneut einstellen. Der DJV NRW fürchtet eine Flucht der Mitarbeiter aus dem System.
Die Medienanstalt NRW ist zuversichtlich, dass der Neustart des Lokalfunksystem gelingt, weil „die Gesellschafter sich weiterhin der besonderen Bedeutung einer vielfältigen Audiolandschaft bewusst sind und die unternommenen Maßnahmen auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stabilisieren.“
Umgehung der Strukturreform
Könnte ein Lokalradio Anfang 2024 die vorzeitige Verlängerung seiner Zulassung beantragen, um die Zusammenlegung von Verbreitungsgebieten hinauszuschieben? „Der jeweilige Antrag würde im Einzelfall unter Berücksichtigung des Kriteriums der wirtschaftlichen und organisatorischen Leistungsfähigkeit geprüft.“, so die LfM auf Anfrage von RADIOSZENE. Mit einem Antrag auf Neuzulassung könnten wirtschaftsstarke Sender eine Zusammenlegung von Verbreitungsgebieten zumindest verzögern.
DAB+ Förderung
Die Medienanstalt NRW plant im Januar 2024 Übertragungskapazitäten für DAB+ Regio auszuschreiben. Ausgeschrieben werden nur vier von sechs geplanten Regionen, weil die im Frühjahr 2019 bei der Staatskanzlei beantragten Frequenzen für eine landesweiten regionalisierte DAB+ Bedeckung für den Niederrhein (mit Duisburg und Essen) und Münsterland immer noch nicht zur Verfügung stehen und auf absehbare Zeit auch nicht zur Verfügung stehen werden. Die Verhandlungen der Bundesnetzagentur mit Belgien und den Niederlanden dauern an (RADIOSZENE berichtete).
Das Land und die Landesanstalt für Medien bereiten eine DAB+ Förderung vor, die anteilig degressiv im ersten Jahr 70, im zweiten Jahr 50 und im dritten Jahr 30 Prozent der Gesamtkosten betragen soll. Die Kosten pro Region mit drei Sendeanlagen und bei einer Vollbellegung mit 16 Programmen werden auf 3.000 Euro je Programmveranstalter und Monat beziffert. Gefördert werden nicht nur Lokalradios, sondern alle Antragsteller, die journalistisch-redaktionelle Strukturen in Nordrhein-Westfalen vorweisen und zukunftssicher aufgestellt sind.
DAB+ soll nur ein Baustein des ganzheitlichen Digitalkonzepts sein. In der Sitzung fällt mehrfach die Fördersumme 3,4 Mio. Euro. Es ist der Betrag für die Förderung von 16 Programmen in vier Regionen mit jeweils drei Sendeanlagen. Da für zwei Regionen die nötigen Frequenzen fehlen, fehlt auch die gesetzliche Grundlage für eine Förderung. „Das ändert sich jedoch, sobald auch in diesen Regionen Übertragungsmöglichkeiten bestehen,“ teilt die Medienanstalt NRW RADIOSZENE auf Anfrage mit.
Update vom 21.01.2024
Begutachtung der NRW-Lokalfunk-Verbreitungsgebiete gestartet
Die Landesmedienanstalt NRW hat die Begutachtung der NRW-Lokalfunk-Verbreitungsgebiete an Goldmedia vergeben. Die Berliner Strategieberater untersuchen die ökonomische Situation des Lokalfunks und der Verbreitungsgebiete. Goldmedia wird die am Lokalradio beteiligten Akteure zwecks Datenabfrage kontaktieren. Untersucht wird die wirtschaftliche Tragfähigkeit der teilweise sehr kleinen aber auch wirtschaftlich schwachen Kreise und kreisfreien Städte.
Der NRW-Lokalfunk ist in vielen Gebieten beliebt und fährt gute Einschaltquoten ein, die Einnahmesituation hat sich – wie von Goldmedia im Jahr 2018 prognostiziert – aber verschlechtert. Die Ergebnisse sollen im April der Aufsichtsbehörde präsentiert werden. Das Auftakttreffen mit den Gutachtern fand am 18. Januar statt. Dr. Schmid betonte, dass ein großes Interesse besteht, eine größtmögliche lokale Vielfalt zu erhalten. Bereits im März 2023 prognostizierte er: „Der NRW-Lokalfunk wird in seinem Aufbau nicht überleben.“
LINK:
Goldmedia-Prognose zur Einnahmesituation des Lokalfunks aus dem Jahr 2018
DAB+ Regio Ausschreibung Ende Februar
Die Staatskanzlei NRW hat der Landesanstalt für Medien NRW sogenannte „Übertragungskapazitäten“ für das Digitalradio DAB+ für vier von sechs Regionen zugeordnet. Die Zuordnung erfolgte am Donnerstag (18.1.) und wird nach einem Monat bestandskräftig. Erst dann erfolgen zwei Ausschreibungen, für die freien DAB+ Programmplätze und die Förderung, die lokalen, regionalen und landesweiten Anbietern zur Verfügung stehen soll. Ausgeschlossen sind Anbieter, die bereits in NRW über DAB+ zu empfangen sind.
Ziel der Ausschreibung ist die Stärkung der lokalen, regionalen und der landesweiten redaktionellen Vielfalt im ganzen Bundesland, sagt Michaela Bialas, Referentin Recht & Aufsicht bei der LfM NRW. Die Anstalt sieht DAB+ im Aufschwung und will der Gattung Hörfunk Entwicklungschancen einräumen. Ausgeschrieben werden nur die Regionen Köln/Bonn/Aachen, Südwestfalen mit dem östlichen Ruhrgebiet, Ostwestfalen-Lippe und die Landeshauptstadtregion mit Wuppertal und Mönchengladbach. Es gibt stille Hoffnung auf die Zuordnung einer Frequenz für das westliche Ruhrgebiet und den Niederrhein womöglich noch in diesem Jahr. Keine Hoffnung und kein mögliches Datum gibt es für das Münsterland. Die vier Regionen werden in einer Ausschreibung zusammengefasst.
In jeder Region gibt es 16 Plätze für lokale, regionale, landesweite und bundesweite Programme. Überregionale Anbieter können in ihrer Bewerbung perspektivisch darstellen, welche Pläne sie für die Regionen haben, die später ausgeschrieben werden. Gefördert wird nur die tatsächliche Ausstrahlung. Förderwürdig sind Bewerber, die journalistisch-redaktionelle Inhalte für und aus Nordrhein-Westfalen produzieren und ihr zukunftsorientiertes Digitalkonzept tatsächlich umsetzen. Die Programmveranstalter werden auch dann gefördert, wenn die Zuweisung an einen Plattformanbieter erfolgt. Die Zuweisung kann sich verzögern, wenn ein Verständigungsverfahren nötigt wird. Das ist immer dann der Fall, wenn es mehr Bewerber als Programmplätze gibt.
Update vom 13. Februar 2024
DAB+-Regio-Ausschreibung: LfM NRW ergänzt 5. Region
Für das Frühjahr 2024 hat die Landesanstalt für Medien NRW die Ausschreibung regionalisierter DAB+ Kapazitäten geplant.
Entgegen der bisherigen Annahme, dass dafür zunächst nur Übertragungskapazitäten in vier von sechs Regionen in NRW zur Verfügung stehen, zeichnet sich nun ab, dass eine fünfte hinzukommen wird.
Die fünf Regionen, die von der Ausschreibung umfasst werden, sind „Köln/Bonn/Aachen“, „Wuppertal/Düsseldorf/Mönchengladbach“, „Ostwestfalen/Lippe“, „Südwestfalen/Dortmund“ sowie zusätzlich „Niederrhein/Duisburg/Essen“.
Die Landesmedienanstalt NRW verschiebt daher die DAB+ Regio-Ausschreibung auf einen etwas späteren Zeitpunkt. Es ist nach wie vor damit zu rechnen, dass noch im ersten Halbjahr 2024 die Ausschreibung startet. Diese wird auf der Website der Landesanstalt für Medien NRW veröffentlicht.