Lidia Antonini: Radio bedeutet im allerbesten Fall Breitwand-Cinemascope-Kino im Kopf

TunerEs gibt Verbindungen und Beziehungen, die ewig halten – einfach weil sie von „Natur“ aus ideal füreinander bestimmt sind. Aber auch prächtig voneinander profitieren. Wie beispielsweise die Musikbranche und der Hörfunk. Das Radio füllt seit Jahrzehnten große Teile seiner Sendezeit mit extern zugelieferter Popularmusik aller Schattierungen, die Musikwirtschaft hat eine kostenfreie Werbefläche für ihre neuen Künstler und Songs – dazu nicht unerhebliche Einnahmen von GEMA- und GVL-Tantiemen für das Abspielen der Musik im Radio.

Schild: AFN EuropeNatürlich krachte und knirscht es gelegentlich zwischen den Partnern. Am heftigsten anlässlich des sogenannten „GVL-Streits/Streiks“ in den 1960er-Jahren, als die öffentlich-rechtlichen Sender nach einer drastischen Erhöhungen der GVL-Gebühren seitens der Musikschaffenden als Gegenmaßnahme auf einen großen Teil des Repertoires der Labels im Programm verzichteten und die Lücken durch Musik ihrer eigenen Klangkörper füllten. Allerdings mussten die streikenden Sender schon nach kurzer Zeit feststellen, dass die Hörer dieses Szenario mit verstärktem Umschalten auf Radio Luxemburg, AFN, BFBS oder die Piratensender quittierten. Nach erneuten Verhandlungen siegte die Vernunft, Schlager und Pop kehrten gegen höhere GVL-Tantiemen in die Laufpläne zurück.

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Später, nach Einführung der Privatfunks, kabbelte man sich auch über das Dauerthema „kostenpflichtige Bemusterung“ oder Gagen für Künstlerauftritte. Heute heißen die Reizthemen „exklusive Airdates“ für Streamingdienste oder Senderechte bei Radiokonzerten. Der Gesprächsbedarf hat sich inzwischen durch die komplizierte Rechtelage im Internet eher noch intensiviert. 

Bizarr anmutende Verbindungen zwischen beiden Partnern entwickelten sich in den 1980er-Jahren auch auf personeller Ebene. In ihren goldenen Zeiten entdeckte die Musikindustrie die erhebliche Kraft des Radios und hofierte die damals wichtigen Musikentscheider der Sender mit allerlei Gefälligkeiten – was sich im einen oder anderen Fall ungewollt verselbstständigte und gelegentlich religiöse Anbetungsrituale in Richtung einiger Radio-VIPs annahm. So reisten beispielsweise seinerzeit selbst die Spitzenkräfte der Toplabels reihum regelmäßig zu Promotionterminen nach Baden-Baden, um selbsternannte „Hitnasen“ einer erfolgreichen Popwelle im Rahmen von Fußballspielen, Kegelabenden oder geselligem Beisammensein zu Playlist-Einsätzen hoffnungsvoller Neuerscheinungen zu animieren. Heute in Zeiten immer spärlicher werdender Promoterbesuche im Sender vor Ort durch die Labels undenkbar.

Lidia Antonini und die Ärzte (Bild: ©hr3)
Lidia Antonini und die Ärzte (Bild: ©hr3)

Den meisten Musikgestaltern der Sender gelang auch ohne diese Auswüchse an grotesken „Beratungsformen“ eine gelungene Programmarbeit. Wie etwa der langjährigen hr3-Musikredakteurin Lidia Antonini – einer unprätentiösen und ausgewiesen Musikexpertin, für bei ihrer Programmarbeit stets die Musik (und nicht das Marketing-Drumherum) ganz oben stand.

Die studierte Sozialpädagogin mit Abschluss in den Fachrichtungen Kunst und Musik arbeitete vor ihrer Radiolaufbahn als Erzieherin, anschließend am Frankfurter Flughafen. Ab 1984 wirkte Antonini 34 Jahre lang als Musikredakteurin bei hr3, bevor sie im vergangenen Jahr die Welle verließ. Seit 2009 betreut sie bis heute redaktionell die Sendung „hr1 Reinke am Samstag“.


RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich sprach mit Lidia Antonini über ihre lange berufliche Laufbahn und ihre Sichtweise über die Veränderungen bei Radio und Musik.  

Lidia Antonini (Bild: ©HR3)
Lidia Antonini (Bild: ©HR3)

RADIOSZENE: Frau Antonini, hört man sich um über Sie bei den ehemaligen Ansprechpartnern der Musikfirmen, fallen nahezu überall folgende Charakteristika: „Sehr kompetente Musikexpertin“, „treffsicher im Musikgeschmack“, „verlässlich bei ihren Aussagen“. Attribute, die man heute immer seltener zu hören bekommt, vor allem aus dem Lager des Medienpartners. Ehrt Sie dieses Lob? Wie haben Sie über die Jahre die Zusammenarbeit mit der Musikwirtschaft empfunden?

Lidia Antonini: Die Zusammenarbeit war immer an der Sache orientiert, immer korrekt und vertrauensvoll. Das Lob hat mich in den meisten Fällen verlegen gemacht, weil ich nicht gern im Mittelpunkt stehe, aber ich habe mich darüber natürlich immer sehr gefreut, weil es eine Art Anerkennung war. Besonders schön ist es, wenn sich ein Künstler auch Jahre später an Details aus vorherigen Interviews erinnert.

 

„Das Image ersetzt häufig die Inhalte“

 

RADIOSZENE: Wie sind Sie damals zum Radio gekommen? Welche Aufgaben hatten Sie beim Hessischen Rundfunk inne?

Lidia Antonini: Ich war schon mit 15 bei Radio Novi Sad (im damaligen Jugoslawien) in der Jugendredaktion tätig. Dahin kam ich über meine Schule, die sich für die Freizeit ihrer Schüler interessiert und den Job vermittelt hat. Das Jugendradio hat viele Jahre die Sonntagvormittage gestaltet. Bei mir ging es schon damals hauptsächlich um Musik. Ich durfte erzählen, was ich alles im Laufe der Woche gehört habe, oder welche lokalen Bands angesagt waren. 

1974 kam ich dann nach Deutschland, und das Radio war so weit entfernt wie der Mond. 1980 habe ich meine Kontakte zu Radio Novi Sad wiederbelebt, habe dort viele Sendungen live gemacht und auch vorproduziert. Eine solche Produktion habe ich 1983 an den Hessischen Rundfunk geschickt. Mir war klar, dass man kein Wort verstehen wird, aber die Dynamik und der Sound waren ja nicht zu überhören. Ein Jahr später habe ich dann bei hr3 die ersten Sendungen zusammengestellt und redaktionelle Aufgaben übernommen. Mein Chef Werner Klein bestand darauf, dass ich das  Produzieren von Livesendungen lerne. Er hat mich auch als Reporterin rausgeschickt, um mich breit aufzustellen.

Lidia Antonini mit Phil Collins (Bild: ©HR3)
Lidia Antonini mit Phil Collins (Bild: ©HR3)

RADIOSZENE: Bei hr3 dominierten damals beliebte Moderationsgrößen und Musikexperten wie Jörg Eckrich, Volker Rebell oder Martin Hecht – nicht eben leicht für eine Frau zur damaligen Zeit, sich durchzusetzen …?

Lidia Antonini: Im Gegenteil. Die Kollegen aus der Musikredaktion waren sehr hilfsbereit. Große Schwierigkeiten machte mir allerdings die deutsche Sprache. Ich habe nämlich auch gleich moderiert, und mein Akzent war manchen ausgebildeten Sprechern ein Dorn im Auge. So habe ich mich mehr auf die Musikzusammenstellung konzentriert. Später, als ich zahllose Musikerportraits, Konzertkritiken, Interviews, Song-Geschichten, Poptalks und Reportagen gemacht habe, wurde mein Akzent zum Markenzeichen.

RADIOSZENE: Welche Musik und Musiker haben Sie in jungen Jahren beeindruckt oder geprägt?

Lidia Antonini: Die Beatles! Wegen der Beatles habe ich als Kind ständig vor dem Radio gesessen. Als sie sich getrennt haben, war ich tagelang krank und wollte nicht mehr vor die Tür.  Meine Mutter hat sich ernsthafte Sorgen gemacht. Wie gut habe ich später alle jungen Frauen verstanden, die verzweifelt waren, als Take That auseinandergingen.

Lidia Antonini und Mick Jagger (Bild: ©HR3)
Lidia Antonini und Mick Jagger (Bild: ©HR3)

RADIOSZENE: Während Ihrer Zeit bei hr3 sind Sie rund 2.000 Künstlern begegnet. Einige dieser Interviews sind noch immer bei hr3 und Mediathek zu hören. Gibt es so etwas wie das Gespräch Ihres Lebens, also ein Interview, das Ihnen ganz besonders in Erinnerung geblieben ist?

Lidia Antonini: Einige, und aus verschiedenen Gründen: Ich werde niemals mein erstes Interview vergessen – 1994 kam Joshua Kadison nach Frankfurt. Eine Kollegin hatte kurzfristig das Interview mit ihm abgesagt, und ich bekam einen verzweifelten Anruf von der Plattenfirma: „Kannst du uns bitte helfen? Der Künstler ist extra aus Los Angeles gekommen, um seinen Song ‚Jessie‘ vorzustellen, und wir stehen mit leeren Händen da!“ Ich habe geholfen, und ‚Jessie‘ war sechs Monate später ein Riesenhit.

Später kamen bemerkenswerte Erlebnisse hinzu. Der liebevollste Partner war David Bowie, der gleich versucht hat, mir meine Nervosität zu nehmen und längere Antworten gegeben hat, als es normalerweise nötig gewesen wäre.

Lidia Antonini und David Bowie (Bild: ©HR3)
Lidia Antonini und David Bowie (Bild: ©HR3)

Überraschend war das erste Interview mit Herbert Grönemeyer, um den ich jahrelang einen Bogen gemacht habe, weil ich Angst hatte vor seiner Eloquenz. 

Das Interview, aus dem ich am meisten gelernt habe, war das mit Kevin Costner, der mit zwei Aussagen zehn meiner Fragen beantwortet hat.

Lidia Antonini mit Kevin Costner (Bild: ©hr3)
Lidia Antonini mit Kevin Costner (Bild: ©hr3)

Das tränenreichste Interview war das mit Maria Mena, die sich so sehr von mir verstanden fühlte. 

Am meisten gefordert hat mich das Gespräch mit Ray La Montagne, der so introvertiert war, dass er mich nicht anschauen konnte und nur einsilbige Antworten gab. Danach habe ich einen Schnaps gebraucht.

 

„Das Interview, aus dem ich am meisten gelernt habe, war das mit Kevin Costner, der mit zwei Aussagen zehn meiner Fragen beantwortet hat“

 

RADIOSZENE: Wie wichtig sind/waren diese Interviews beziehungsweise alle weiteren musikredaktionellen Bausteine für den Gesamterfolg von hr3?

Lidia Antonini: Ich erkläre mich hier für nicht zuständig. Diese Frage kann nur mein damaliger Chef Jörg Bombach beantworten. Er hat mich immer machen lassen und meine Leidenschaft immer unterstützt.

RADIOSZENE: Lange Zeit haben die Musikredakteure/Moderatoren auch die Musik und Themen ihrer Sendungen ausgesucht und zusammengestellt. Heute ist das eher die Ausnahme. Sollte man – zumindest bei einigen Wellen und Sendestrecken – nicht wieder mehr Persönlichkeiten mit Musikkompetenz am Mikrofon aufbauen und den Machern mehr freie Hand bei der Musikauswahl geben?

Lidia Antonini: Auf jeden Fall! Es gibt sowohl  Redakteure, die davon träumen, Musiksendungen zu moderieren als auch Moderatoren, die sich in der Musik auskennen und sie zusammenstellen möchten.  Beides sollte man unterstützen.

RADIOSZENE: Das Musikfernsehen ist kaum mehr existent, die Musikfachpresse verliert durch die Einstellungen immer mehr an Bedeutung – ist das nicht DIE Chance für das Radio, sich wieder als Musikempfehlungsmedium zu positionieren?

Lidia Antonini: Unbedingt! Wenn man solche Empfehlungen personalisiert und durch interessante Interviews und Geschichten anreichert, wäre das eine Riesenchance. In Gesprächen mit Hörern stelle ich immer wieder fest, dass sie geradezu hungrig danach sind, mehr zu erfahren.

RADIOSZENE: Wie sehr haben sich der Hörfunk und die Musikszene/-branche während Ihrer Zeit beim Radio verändert?

Lidia Antonini: Zunächst war da ein Plattenregal, und man stellte das Programm „von Hand“ zusammen. Dann kam das computerunterstützte Programm. Heute werden die Programme bestimmt durch Rotation, Berater, Airplaycharts und Musiktests. Das Internet hat das Leben umgepflügt und auch vom Hörfunk Besitz ergriffen. Das Musikangebot hat sich um das Vielfache vergrößert. Es ist unmöglich geworden, es komplett zu überschauen. Alles muss schnell gehen. Das Image ersetzt häufig die Inhalte.

Lidia Antonini mit Ed Sheeran (Bild: ©hr3)
Lidia Antonini mit Ed Sheeran (Bild: ©hr3)

RADIOSZENE: Eben wegen der schier unbegrenzten Möglichkeiten des Webs gibt es so viel neue Musik wie nie zuvor. Praktisch jeder kann relativ leicht Musik produzieren und auch ohne ein Musiklabel im Rücken veröffentlichen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Lidia Antonini: Es gibt immer wieder überraschende und erfrischende Neuerscheinungen, aber vieles bleibt auf der Strecke, weil die Qualität dem Tempo geopfert wird. Mir stellt sich die Frage, ob man irgendwann noch objektiv beurteilen kann, was gut ist und was nicht.

RADIOSZENE: Gibt es heute neue Trends und Genres, die für Sie und das Radio interessant sind? Welche Künstler haben Sie zuletzt am meisten beeindruckt?

Lidia Antonini: Musikalische Überraschungen haben immer eine gute Chance, erfolgreich zu werden. Wenn man sich an einem Sound satt gehört hat, muss was anderes her. Eine Zeit lang hat es danach ausgesehen, als ob Funk das große Comeback feiern wird. Im Moment könnte Flamenco in diversen Fusionen auf uns zukommen. Wer weiß …

Lidia Antonini mit Juanes (Bild: ©hr)
Lidia Antonini mit Juanes (Bild: ©hr)

Tom Odell finde ich interessant, weil er durch und durch Musiker ist, weil ihn Schlagzeilen und schneller Ruhm nicht interessieren. Tash Sultana und Greta Van Fleet lassen hoffen, dass Rock noch eine Chance hat. Allerdings frage ich mich, wer in den großen Städten noch die Riesen-Arenen  füllen soll. In Amerika versucht man es schon seit einiger Zeit mit Double-A-Act Konzerten und luxuriösen Betreuungsangeboten.

 

„Das Radio kann natürlich keine Stars aufbauen – aber es kann sensibel reagieren auf neue Talente, die es für würdig befindet, gefördert zu werden“

 

RADIOSZENE: Lange Zeit hat die Musikwirtschaft von der beständigen Strahlkraft ihrer Superstars gelebt, die über Jahrzehnte wie ein Uhrwerk hochwertige Alben geliefert und Fans gebunden haben. Diese Zeit scheint sich langsam dem Ende zuzuneigen: viele große Künstler gehen in Rente oder sind schon tot. Der Trend geht heute eher zu Hits der Marke „Eintagsfliegen“, viele Künstler haben sich nach einem Album bereits kreativ verbraucht. Ein Aufbau neuer Stars ist auf diese Weise schwer möglich. Welche Schlüsse muß das Radio aus dieser Entwicklung ziehen?

Lidia Antonini: Das Radio kann natürlich keine Stars aufbauen, keine neuen Eagles oder Rod Stewarts hervorbringen. Aber es kann sensibel reagieren auf neue Talente, die es für würdig befindet, gefördert zu werden. In unserem Mikrokosmos „Reinke am Samstag“ stürzen wir uns mit Begeisterung auf Künstler, die uns überzeugen wie etwa international Charlie Puth und Jonathan Jeremiah oder deutsch Element Of Crime und Philipp Poisel. Das Risiko zu scheitern nehmen wir gern in Kauf, und unser Brötchengeber stützt uns, wofür wir ihm dankbar sind.

Werner_Reinke (Bild: © HR/Ben Knabe)
Werner_Reinke (Bild: © HR/Ben Knabe)Bild: hr1-Moderator Werner Reinke.

RADIOSZENE: Bei hr1 sind Sie, wie gerade erwähnt, für die Musikgestaltung von „Reinke am Samstag“ auf hr1 verantwortlich. Inwieweit verfolgen Sie sonst die Radio- und Musikszene?

Lidia Antonini: Heute fast noch aufmerksamer als früher, weil sie einfach größer geworden ist, weil mir alles zur Verfügung steht und ich mich nur informieren muss. Ich bin also mit dem gleichen Engagement und der gleichen Leidenschaft dabei. „hr1 Reinke am Samstag“ bildet die Musikhistorie durch eine so große Radiopersönlichkeit wie Werner Reinke ab, aber Werner kennt sich auch in der Musik von heute bestens aus und stellt viele neue Künstler vor.

RADIOSZENE: Was bedeutet „Radio“ für Sie?

Lidia Antonini: Im allerbesten Fall Breitwand-Cinemascope-Kino im Kopf.

RADIOSZENE: Wie lautet Ihre persönliche Prognose über die weitere Entwicklung des Radios in den nächsten Jahren?

Lidia Antonini: Im schlechtesten Fall wird sich das Radio in Formatzwängen und Belanglosigkeit verlieren. Den besten Fall hat Radiotitan Peter Stockinger formuliert: „Die Zukunft des Radios liegt in seiner Vergangenheit.“ Das kann ich nur unterstreichen: Das Radio darf seine Qualitäten nicht leichtfertig verschenken, indem es zu einem Marketinginstrument verkommt. Es muss sich auf seine besten Ressourcen besinnen: die Menschen in den Redaktionen und hinter den Mikrofonen. Das wird immer der Vorsprung des Radios gegenüber den Internet-Wettbewerbern wie Spotify sein: Der persönliche, herzliche Dialog mit dem Publikum.