In einer weiteren Folge unserer Serie „Radio Legenden“ kommt heute mit Peter Stockinger der Architekt und Baumeister von SWF3, beziehungsweise dem heutigen SWR3, zu Wort. Der 1938 in Stuttgart geborene Stockinger arbeitete zunächst als Buchhändler und Hafenarbeiter sowie als Redakteur bei verschiedenen Tageszeitungen. 1970 dann der Wechsel in den Hörfunkbereich des Südwestfunks in Baden-Baden. Als ehemaliges Mitglied einer Planungskommission des damaligen Intendanten Helmut Hammerschmidt prägte er maßgeblich das in 1975 gestartete Programm SWF3 – und leitete die südwestdeutsche Kultwelle als Programmchef ab Anfang der 1980er Jahre bis zum letzten Sendetag 1998.
„Es war das Glück meines Lebens, ihn zu treffen. Ich habe alles von ihm gelernt, was ich kann“, sagt Moderatorin, Schriftstellerin und Kabarettistin Elke Heidenreich über ihre gemeinsame Hörfunkzeit beim Südwestfunk. Der Radiovisionär Stockinger spürte während seiner langen Zeit als Programmchef zahllose Talente auf, entwickelte sie weiter und machte SWF3 zur bundesweiten Top-Adresse unter den anspruchsvollen Infotainmentwellen der ARD – und dies mit programmlichem und strukturellem Vorbildcharakter für viele öffentlich-rechtliche und private Kollegen. In seiner Ideenschmiede, der legendären „Schlussredaktion“, wurde hart gearbeitet, wurden ständig neue Konzepte für das Radio der Zukunft ausgebrütet – jedoch immer mit dem Blick auf den eigenen öffentlich-rechtlichen Anspruch. Stockinger erkannt früh die Bedeutung der Morningshow, von anspruchsvoller Radio Comedy oder modern gemachten Nachrichtenblöcke. Mit dem „New Pop Festival“ erfand er ein Event für hoffnungsvolle Musiktalente, das heute in der Showbranche internationalen Ruf genießt. Am 5. September 2013 wurde ihm der Deutsche Radiopreis für sein Lebenswerk verliehen.
Peter Stockinger liebt das Radio bis heute, ihm hat er viel gegeben und zu verdanken. Gleichwohl scheut sich der aktive Ruheständler nicht, den heutigen Programmmachern bei offensichtlichen Fehlentwicklungen gelegentlich die Leviten zu lesen. Im RADIOSZENE-Interview mit Michael Schmich spricht Peter Stockinger unter anderem über seine Jahre bei SWF3 sowie die Situation des Hörfunks im Jahr 2018.
RADIOSZENE: Herr Stockinger, wie viel Aufmerksamkeit gönnen Sie heute noch den Medien und dem Radio im Besonderen?
Peter Stockinger: Selbstverständlich ist für mich Radio das erste Medium des Tages. Es gibt kein anderes Begleitmedium, das in allen Lagen zu jeder Zeit so gegenwärtig sein kann. Ein Beispiel: im Deutschlandfunk werden vom frühen Morgen an die aktuellen Themen aufgeschlossen, die in TV und in den digitalen Netzen später dann dargestellt, ergänzt oder zitiert werden. Mit größter Freude nutze ich meine Internetradios, über die ich auch die Entwicklung von Konzepten, Stil, Form und Inhalten der international tonangebenden Programme informiert bin.
RADIOSZENE: Sie haben ab den 1970er-Jahren die seinerzeit dritte Hörfunkwelle des Südwestfunks als Vollprogramm ausgebaut. Ein Startvorteil, weil Sie damals noch ohne private Konkurrenz im Sendegebiet agieren konnten oder ein eher mühevoller Prozess?
Peter Stockinger: Wir waren nicht ohne die Konkurrenz kommerzieller Sender: Radio Luxemburg strahlte mit UKW in große Teile des SWF-Sendegebiets. Zudem hatte die Europawelle Saar des Saarländischen Rundfunks das Luxemburger Konzept weitgehend übernommen und war in Rheinland-Pfalz in einigen Bereichen das meistgehörte Radioprogramm. Wir mussten uns, ähnlich wie es die BBC in der Abwehr der Piratenprogramme auf Nordseeschiffen getan hatte, eine neue, zeitgemäße Programmstruktur der drei Hörfunkprogramme des Südwestfunks schaffen. Und das war für SWF3 vor allem innerhalb des SWF ein mühevoller Prozess.
RADIOSZENE: Als ein Markenkern erwies sich rasch die SWF3-Musik mit einem klar erkennbaren Konzept. Nach welchen Kriterien wurden damals die Musikvorgaben ausgerichtet?
Peter Stockinger: SWF3 sollte ein modernes informatives Popradio werden, das die aktuell populäre Musik spielte. Für die Musikauswahl hieß das, dass von Anfang an Milieus, Tagesabläufe, Vorlieben und Lebensalter der avisierten Hörer berücksichtigt wurden.
„Musikredakteure sollen Liebhaber sein, die aus dem Klanguniversum der Popmusik mir alles präsentieren, was gut ist, mit Überraschungen aus allen Genres, mit Neuem, Altem und ganz Altem“
RADIOSZENE: Heute orientieren sich die meisten masse-attraktiven Wellen bei ihrer Musikauswahl überwiegend an Musiktests, Airplay Charts, Verkaufslisten und an allerlei weiteren Trendindikatoren. Kommen bei diesem geballten Maß an Musik-Demoskopie nicht das Musikprofil, die Titelvielfalt sowie die Kompetenz der Musikredakteure ein wenig zu kurz? Bei vielen Sendern rotieren die gleichen Titel und eine allgegenwärtige „Trendmusik“. Die Überschneidungen sind sprunghaft gestiegen, eine Unterscheidbarkeit wird für die Hörer immer schwieriger …
Peter Stockinger: Tests, Umfragen und Analysen sind ja für die Musikauswahl kein Fehler. Aber wenn das dann zu stupiden Robotprogrammen führt, die den Musikredakteuren die Kreativität verbietet, dann gibt es von Flensburg bis Konstanz regelrechte Zonenprogramme. Das nenne ich so, weil nach einer sturen Programmideologie die Hörer eingemauert werden mit ihrer angeblichen passenden Musikprogrammierung. Zu erkennen sind die Zonenprogramme dann in den bereits parodierten Dummformeln: „Hier die Hits der Achtziger, der Neunziger und das Beste von heute….“. Ich wünsche mir statt solcher Diktate Freude und Freiheit in der Musikauswahl. Musikredakteure sollen Liebhaber sein, die aus dem Klanguniversum der Popmusik mir alles präsentieren, was gut ist, mit Überraschungen aus allen Genres, mit Neuem, Altem und ganz Altem. Es gibt ja Beispiele dafür, wie solche Rückgriffe wohltuend auf Hörerinnen und Hörer wirken und die Musikroboter dann verblüffen, wenn sogar ein Stück alter Jazz zum Hit wird: mit einer Parfümwerbung war Nina Simones “My Baby Just Cares For Me“ in die Charts gesprungen.
RADIOSZENE: Die Marktforschung belegt ja aktuell einen klaren Trend hin zu Audio. Ein Ergebnis, das von der Branche mit Begeisterung aufgenommen wird. Zeigt diese Hinwendung etwa zu Podcasts umgekehrt aber auch, dass die Menschen mit ansprechenden Wortbeiträgen im Radio nicht mehr ausreichend versorgt werden – dies auch vor dem Hintergrund ständig steigender Zahlen an Abiturienten und Hochschulabsolventen?
Peter Stockinger: Dass ich die Radiohörer in vielen Pop-Programmen für unterfordert und missachtet halte, habe ich ja immer wieder gesagt. Dass die Songtexte der Popmusik im Niveau von Anspruch, Aussage, Lebensgefühl, ja Philosophie den Darbietungen der sich selbst überschätzenden und in sich selbst verschossenen „Moderatorinnen“ und „Moderatoren “ oft haushoch überlegen sind, ist täglich zu hören. Vor kurzem hörte ich in einem namhaften Programm einer namhaften öffentlich-rechtlichen Anstalt einen demonstrativ coolen Moderator zwischen guten aktuellen Musiktiteln in mehreren Takes inklusive Hörertelefon über die Verschiedenfarbigkeit von Nasenpopeln schwadronieren. Kein Dummbeutel ist so dumm und keine Dumpfbacke ist so dumpf, wie sich dieser Radiounterhalter offensichtlich sein Publikum vorstellt.
Es gäbe für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Popradios eine gute Methode der Selbstprüfung: einfach abends Bilanz der Arbeit zu ziehen. Was habe ich heute in Wort und Musik an andere Menschen weitergegeben? Was habe ich an Information, Neuigkeit, Rat, Unterhaltung, Freude ausgewählt? War das alles was wert?
„Es gäbe für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Popradios eine gute Methode der Selbstprüfung: einfach abends Bilanz der Arbeit zu ziehen“
RADIOSZENE: Zuletzt gab es immer wieder Diskussionen über den Stellenwert der Radiomoderatoren. SWF3/SWR3 hat über die Jahre zahllose Talente wie Frank Plasberg, Elke Heidenreich, Christine Westermann, Claus Kleber, Christoph Lanz, Gerd Leienbach, Anke Engelke – oder auch Elmar Hörig für den Hörfunk entdeckt. Gibt es dafür ein allgemeines Patentrezept oder muss jeder Moderator individuell weiterentwickelt werden?
Peter Stockinger: Wir hatten das Glück, dass so viele gescheite, interessierte, menschenfreundliche, gebildete junge Frauen und Männer bei SWF3 zusammenkamen. Sie machten mit Liebe und Leidenschaft ein Programm, das sie selber mochten und das bei Hörerinnen und Hörern Gleichgesinnte anzog. So ist es dann für Generationen eine „Bildungseinrichtung“ geworden. Das jedenfalls sagen zu unserer Freude und Überraschung heute noch viele Ehemalige, die längst die einstigen Zielgruppen verlassen haben. Es ist für viele Radiomacher heute kaum mehr vorstellbar, wie grotesk unterschiedlich die Moderatorinnen und Moderatoren bei SWF3 waren. Es gab keine Norm. Aber in peinlicher Selbstbeobachtung erarbeiteten wir uns sinnfällige Regeln, die die Qualität gegen Blabla abgrenzten. Wenn ich den Kolleginnen und Kollegen in ihrer Laufbahn Hilfestellung geben konnte, dann freut mich das Ergebnis bis heute.
RADIOSZENE: Junge Menschen haben bei der Jobwahl das Radio kaum mehr im Blickwinkel. Dies liegt möglicherweise auch daran, dass viele Tätigkeiten beim Hörfunk keine Ausbildungsberufe sind. Stimmt die Behauptung, Sie hätten alle Bewerber persönlich gesichtet?
Peter Stockinger: Viele Bewerberinnen und Bewerber waren vorher mit SWF3 als Hörer vertraut und wussten auf verblüffende Weise genau, was sie wie und wo im Programm machen wollten. Mitunter mussten aber auch Missverständnisse korrigiert werden. In der Zusammenarbeit mit der deutschen Journalistenschule in München fanden wir immer wieder hochbegabte Journalistinnen und Journalisten. Einige absolvierten ein halbjähriges Praktikum bei uns. Solange SWF3 bestand, habe ich jede und jeden verpflichtet. Vorher waren aber Probesendungen dem Plenum der Redaktionskonferenz zur Beurteilung vorzuführen. Diese entschied über Bleiben oder Gehen – nach allgemein akzeptierten Kriterien. Dann kam die Probezeit im Sendebetrieb, nach der wir dann wieder in der Konferenz urteilten.
„Wenn Radio von Menschenfreunden mit Leidenschaft gestaltet wird, kommt kein Robotmedium dagegen an“
RADIOSZENE: Sie haben seinerzeit bei SWF3 eine höchst populäre Comedy-Abteilung um Talente wie Michael Bollinger, Andreas Doms, Gerd Leinebach oder Andreas Müller aufgebaut. In dieser Humorschmiede wurde zahlreiche Figuren wie „Werner Chibulsky“, der „Schwarzwaldelch“ oder „Knut Buttnase“ erfunden. Heute führt der Humor in deutschen Radiosendern ein eher bescheidenes Dasein. Vieles kommt als Syndication-Angebot von der Stange ins Programm, ist teils maßlos überdreht oder wird von Praktikanten produziert. Echte neue Talente gibt es immer weniger. Streckt die Radio-Comedy in der Krise?
Peter Stockinger: Es gibt in der Radio-Comedy wie überall in der darstellenden Kunst beim Publikum leicht erkennbare Messeinheiten: Gutes macht Freude, Schlechtes ist versendet.
RADIOSZENE: Das Radio wurde ja schon mehrfach totgesagt. Gerade hat es, so berichtet uns Experten, die „Digitale Transformation“ mit stabilen Nutzungszahlen gestärkt durchlaufen. Wie viele Jahre, glauben Sie, wird der Hörfunk noch überdauern?
Peter Stockinger: Solange Menschen funktionierende Ohren haben, wird es Radio geben. Es ist als Medium auf seine Weise vollkommen. Wenn es von Menschenfreunden mit Leidenschaft gestaltet wird, kommt kein Robotmedium dagegen an. Wenn Zyniker und Hörviehzüchter mitmischen, kann es zugrunde gehen am programmierten Überdruss.
Interview: Michael Schmich
Teaserbild: ©SWR/Wolf-Peter Steinheißer/RADIOSZENE