Von Marcus Engert
Chefredakteur von detektor.fm
Marcus Engert studierte Germanistik, Journalistik und Neuere Geschichte an der Universität Leipzig und arbeitete parallel dazu als freier Journalist. Mehrere Jahre war er diensthabender Redakteur und Chefredakteur beim Lokalradio mephisto 97.6, vor allem im tagesaktuellen Ressort. 2005 wurde seine Redaktion mit dem „Wahl-Award“ der bpb ausgezeichnet. Engert arbeitete für verschiedene ARD-Anstalten sowie im Landesbüro Südost der einstigen bundesweiten Nachrichtenagentur ddp. Im Dezember 2009 gehörte er zu den Mitbegründern des Internetradios detektor.fm mit Sitz in Leipzig. Der Sender verzichtet auf „nervige“ Morningshows und durchformatierte Chartradio-Playlisten. Den Hörer erwartet nach Angaben des Senders „anspruchsvoller, unabhängiger und hintergründiger Journalismus“. Die Musik ist handverlesen, Beiträge gewöhnlich länger als 1.30 Minuten. Die Redaktion hat sich einen eigenen Kodex mit klaren Leitlinien geschaffen. Marcus Engert hat einen Lehrauftrag im Master-Programm „Online Radio“ der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Hier seine Thesen zur Zukunft des (Online-)Radios, die er zuletzt auf den »Tutzinger Radiotagen 2012« präsentierte.
Was für eine unbefriedigende Situation: Verschiedene Studien kommen zu noch verschiedeneren Ergebnissen, was die Zukunft des Radios betrifft. Da ist Online mal der Heilsbringer und mal der Niedergang für das Radio. Mein Problem mit derlei Erhebungen ist, dass das „Online sein“ so oft als ein gesonderter, separater Zustand angesehen wird. Als trete man in einen abgeschlossenen, etwas unbekannten Raum, ginge dort ins Netz, und schließe die Tür hinter sich, wenn man wieder Offline geht. Diese Vorstellung von „Online sein“ hat sich überholt. Ich sehe „Online sein“ nicht als einen gesonderten Zustand an. Online wird immer sein. Vor diesem Hintergrund sollten Fragen und Thesen zur Veränderung unserer Medienwelt gestellt werden. Wir haben uns diese für das Radio gestellt: und unsere Fragen mündeten vor drei Jahren in der Gründung von »detektor.fm«.
Fragen, die wir uns stellten: Wenn „Online sein“ immer sein wird – was macht das dann:
- mit dem Medium Radio?
- mit den Hörern?
- mit den Machern?
- mit dem Inhalt?
- mit der Übertragung?
- mit der Finanzierung?
Was macht Online mit dem Radio?
Hier geistern die verschiedensten Szenarien von beiden Polen der Skala umher: „Alles wandert ins Smartphone“ auf der einen Seite – „UKW wird nie verschwinden, gleich gar nicht im Auto“ auf der anderen. Keines von beiden scheint zu stimmen. Gleichwohl aber gibt es Indizien, die einen Weg vorzuzeichnen scheinen. Laut einer »Nutzungsstudie von TNS Emnid in Kooperation mit der Radiozentrale« stieg zwischen 2007 und 2010 die Radio-Nutzung ohne klassische UKW-Geräte bei der jungen Zielgruppe (14-29 Jahre) deutlich:
- Internet + 153 %
- MP3-Player/iPod/Zune + 141 %
- Handy/Smartphone + 33 %
„Die Entkoppelung der Mediennutzung von den heute üblicherweise verwendeten Endgeräten kann neue Potenziale freisetzen, die die Verbreitung der internetvermittelten Medien stark beschleunigen“, heißt es dazu auch in einer Rezipientenstudie zur Zukunft des Webradios, erschienen in den »media-perspektiven«.
Die Nutzerstudien ergeben: Käufer von W-Lan-Radios hören über den gesamten Tag hinweg mehr Radio und mehr Webradio. Auch abends, wo üblicherweise das TV stärker ist. Die morgendliche Nutzungsspitze bleibt. Auf die Frage nach dem Lieblingsformat antwortet der überwiegende Teil der Nutzer zwischen 14 und 29 Jahren, dass sie dieses ausschließlich im Webradio finden. Interessant: die Wachstumsraten für die Nennung „reines Webradio“ gehen nicht zu Lasten der öffentlich-rechtlichen oder privaten UKW-Sender. Sie erwachsen aus der Gruppe, die bisher „kein Lieblingsprogramm genannt“ hat. Es scheint also, Webradio ist eine dankbar angenommene Ergänzung und erst mal keine Bedrohung für bestehende Anbieter.
Ungewisse Zukunft für klassische Radioanbieter?
Noch tragen sich UKW-basierte Geschäftsmodelle, und mit DAB+ scheint sich eine Verlängerung derselben in einem dann zwar auf einem technisch anderen Level, aber auf die gleiche Art abgeschotteten Markt anzudeuten. Die etablierten Radio-Marken müssen sich aber rechtzeitig darauf einstellen, dass das Publikum sich ein Radiobukett aus einem viel breiteren (auch internationalen) Angebot zusammenstellen wird, als es heute geschieht. Das klassische Radio wird eine Option sein – eine Option unter vielen.
Das Problem der klassischen Radioanbieter liegt also nicht im Heute – es liegt im Morgen. In diesem Morgen werden anfangs wegen der Unübersichtlichkeit und Vielzahl der Angebote die klassischen Anbieter von ihren starken Marken profitieren. Jüngere Zielgruppen suchen jedoch schon heute aktiver auch nach Spartenangeboten: „Die Generation der Digital Natives nutzt die riesige Auswahl im Internet mit größerer Selbstverständlichkeit und probiert häufiger auch neue, nicht aus dem UKW bekannte Sender aus“, weiß die »Marktforschung« zu berichten. Heute sind es nur die sogenannten „digital natives“, morgen vielleicht schon breitere Bevölkerungsschichten.
Bereits bei früheren medialen Veränderungswellen (Umbruch im Printmarkt, im TV-Geschäft, im Musikgeschäft) haben wir ein ähnliches Nutzerverhalten gesehen. Damit steht die These im Raum, dass damals gültige Regeln für die Frage, wann ein neues Medienprodukt Erfolg haben kann, auch für das Radio der Zukunft gelten könnte. Diese Regeln für ein Radio 2.0 könnten sein:
- Ein neues Radio muss die Empfangsqualität von UKW erreichen oder toppen
- Ein neues Radio muss annähernd die gleiche Usability gewährleisten
- Ohne starke Markenbindung und entsprechende Strategien zur Bildung derselben wird es schwer – aber nicht unmöglich!
- Die generelle und wichtigste Regel: Keep it simple!
Warum sind diese Regeln für das Radio im Netz wunderbar aufgehoben? Weil sich die beiden Mediengattungen „Hörfunk“ und „Online“ ergänzen und dabei unterschiedliche Sinneswahrnehmungen bedienen.
Was passiert mit den Hörern?
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Radiokonsum haben sich grundlegend gewandelt. Das gemeinsame Versammeln vor dem Radio findet schon länger nicht mehr statt. Gehört wird individuell, nachgelagert wird darüber kommuniziert: auf Smartphones und Tablets, mit mobilen Apps, in sozialen Netzwerken, auf twitter usw. usf. Eine weitere Erkenntnis: Bezüglich Interaktion hält sich der Wunsch der Hörer nach „Jeder ist sein eigener Programmchef“ bisher in Grenzen.
Wichtig ist, dass wir als Macher, als Redakteure, freie Mitarbeiter, Konzept- und Ideengeber, Redakteure, uns jetzt die richtigen Fragen für das Radio der Zukunft stellen. Eine könnte sein: Wird es überhaupt morgen noch „Hörer“ geben? Oder gibt es bald nur noch „Nutzer“? Bei detektor.fm glauben wir an das Überleben des Hörers. Wir glauben aber auch, dass der Hörer sich zunehmend bewusster für ein Programm entscheiden wird. Welcher Sender aktuell am wenigsten nervt – ein Rezept des Formatradios – wird in Zukunft weniger ausschlaggebend sein.
Was passiert mit den Machern?
Wir erklären unseren Hörern jeden Tag Themen. Aber eines hat der „klassische“ Medienmacher nicht gelernt: sich, seine Arbeit, zu erklären. Das müssen wir aber tun. Denn all diese Entwicklungen zwingen uns Fragen auf. Welche Journalisten brauchen wir morgen: Generalisten oder Spezialisten? Wie sieht das Ausbildungswissen von morgen aus? Was davon sollten wir weitergeben? Kommen wir selbst (noch) mit, mit den Veränderungen die sich rund um Vernetzung, Verlinkungen, Teilen multimedialen Contents, Interaktion und Co. abspielen? Verstehen wir die Plattformen? Egal, wie die Antworten individuell darauf ausfallen – eines stünde vielen Medien sicherlich gut zu Gesicht: wenn sie Jeff Jarvis simple Regel öfter beherzigen würden, die da heißt: »“Cover what you do best – link to the rest“«.
Was passiert mit der Musik?
Musik ist einer der Hauptgründe, Radio zu hören. Dabei lässt sich beobachten, die Musikselektion nach user-generated-input nimmt zu. Personalisierung und Algorithmen werden sich ausweiten und automatisierte Playlistengenerierung wird häufiger werden. Wir werden eine Dezentralisierung der Arbeitsplätze beobachten, eine Monopolisierung der Bestückung bei gleichzeitiger Differenzierung der Ausspiel-Wege: Oder anders, ein Musikredakteur wird vom Home Office aus Jazz-, Pop-, Rock- und Elektro-Channels mehrerer Senderstationen bestücken können. Ich gehe des Weiteren davon aus, dass mittelfristig Musiknutzung unlimitiert möglich sein wird: über Abo-Lösungen und Cloud-Speicherung, wie die aktuellen Entwicklungen um spotify, simfy und Co. und die Tatsache ihrer Lizenzierung durch die GEMA bereits andeuten. Gerade hier aber wird es folglich eines brauchen: Analyse, Einordnung, Kritik, Selektion und den Dialog – kurz: Journalisten. Reine technisch programmierte Playlisten sind charme-frei, emotionslos – und was anderes ist Musik, wenn nicht Emotion?
Was passiert mit den Inhalten?
Wir beobachten zunehmend den Übergang klassischer Kompetenzfelder des Radios auf andere Plattformen: Twitter ist oft schneller als Radio. Verkehrsstaus und die Umfahrungsmöglichkeiten meldet das Navigationsgerät, den Wetterbericht gibt es kompakt via Smartphone-App. Hat das Lokalradio noch Mehrwert zu bieten? Ihm erwächst eine neue Konkurrenz aus lokalen Infoportalen und regionalen Blogs im Netz. Auf der betriebswirtschaftlicher Ebene wird das ein weiteres Mal den Druck erhöhen: Ein Problem für Lokalradios, deren redaktioneller Betrieb in kleineren Einheiten schlicht zu teuer werden könnte.
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Größere Senderketten werden die regionale (nicht: lokale!) Komponente weiterhin und stärker über einzelne Fenster-Schaltungen realisieren, was zur Vereinheitlichung des Gesamtspektrums und zur Nivellierung von Vielfalt führen könnte.
Was passiert mit der Übertragungstechnik?
Von einer Durchdringung des Rundfunks in Deutschland mit DAB kann noch keine Rede sein. Dabei gab es bereits in den frühen 80er Jahren erste Bemühungen, das Radio zu digitalisieren. Doch DAB bleibt auch Jahrzehnte nach seiner ersten Einführung ein Flop (siehe dazu:»Hans.J. Kleinsteuber, Die Zukunft des Radios«.) Die Gründe hierfür sind mannigfaltig: Der Rundfunk wird in Deutschland föderal durch die Länder geregelt, nicht durch den Bund. Diese historisch bedingte Tatsache hat Streuverluste und Ineffektivitäten zur Folge, die sich auch auf die Umstellung zum Digitalen Rundfunk ausgewirkt haben. Auch die Zahl der DAB-Empfangsgeräte im Auto ist in den letzten zwei Jahren lediglich um knapp zwei Prozent gestiegen. Nicht einmal die Hälfte der Autohersteller bieten überhaupt eine Ausstattung mit Digitalradio an, ein weiteres Drittel denkt darüber nach. Zwanzig Prozent haben noch keinen Plan.
Doch auch auf der Nutzerseite entstand bisher keinerlei Nachfragedruck. Das liegt zum einen an der schlechten Kommunikation: Die Vorteile der Technologie wurden nicht ansatzweise effektiv öffentlich kenntlich gemacht und mit technischen Detailfragen derart überlagert, dass eine breite Nutzerschaft sich nicht interessieren konnte. Es fehlten lange Zeit die Endgeräte, es fehlen noch immer reizvolle Zusatzangebote, die DAB einen echten Mehrwert verschaffen würden.
Die Frage lautet: Was nutzt mir der beste DAB-Ausbau, wenn der Sender, den ich hören möchte, da nicht sendet? Man wiederholt für DAB+ aktuell die Fehler, die bei DAB gemacht wurden: Landesmuxe werden nicht mit Mehrwerten belegt; Multiplexe in Ballungsräumen werden nicht an unterschiedliche Unternehmen vergeben, die dann zu eigenen Konditionen ausschreiben; es herrscht ein marktabschließender status quo. Auch der Klang ist bei DAB+ derzeit eben nicht, wie oft beschworen, so viel besser: Aktuell wird meist in Mono und niedriger Qualität übertragen.
Warum Webradios den Erfolg auch fürchten
Im direkten Vergleich mit der Übertragung über IP und das Internet erscheint all das oben genannte mitunter lächerlich. Das Netz ist immer und überall. Auf welchem Weg ein Hörer online geht, mit welchem Gerät, in welcher Geschwindigkeit – all das ist vollkommen irrelevant. Doch noch ist die Übertragung via Internet unvergleichlich kostspieliger als über UKW oder DAB. Der Grund liegt darin, dass IP eine „point-to-point“ Verbindung ist. Jeder Nutzer empfängt individuell die Daten und verursacht dem Anbieter damit individuelle Kosten.
Ein Webradio kann, was eine paradoxe Situation ist, am eigenen Erfolg zugrunde gehen: Explodieren die Hörerzahlen zu schnell, wachsen die Streamingkosten sofort rasant an, die Werbeeinnahmen aber wachsen verzögert. Aus diesem Grund ist das Netz für den Radiomarkt noch keine tragfähige Alternative. Das könnte sich bald ändern: die Datenverbindungen werden leistungsfähiger, Flatrate-Angebote setzen sich durch. Andere Formen der Übertragung (zum Beispiel Peer-to-Multi-Peer) werden getestet und können bei entsprechendem Erfolg schnell auf den Markt drängen.
Das Drive-Time-Medium – Radio im Auto der Zukunft
Radiomacher müssen sich am Argument der Nutzbarkeit im Auto messen lassen. Doch das Auto ist einer der letzten weißen Flecke auf der Internetlandkarte. Dabei wäre das Potential enorm. Wenn man nur einmal zu Ende denkt, was es für unser tägliches Leben bedeuten würde, wenn das Auto mit dem Netz verknüpft wäre, zeichnet sich eine leichte Ahnung der Möglichkeiten auch für Medienmacher hier ab. Als Stichworte seien genannt: Office-Anwendungen, Entertainment, Routenführung, Verkehrsleitsysteme, Unfallwarnung, Effizienzsteigerung, etc.
Es geht für das Radio von morgen nur um eines: Es muss auf die beste verfügbare Plattform. Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass diese Plattform das Netz ist.
Ausblick: Fragen, Visionen, Appelle
„Die Tatsache, dass das Geschäftsmodell Radio nach wie vor funktioniert, hat zu einer starken inhaltlichen Erstarrung des Radios geführt. Durch die Endlichkeit der UKW-Frequenzen kommen wenige neue Wettbewerber auf den Markt. Da bietet die Digitalisierung eine Chance, Dinge aufzubrechen und Dinge auszuprobieren, auf die dann die Etablierten wieder reagieren müssen“. – Stefan Fischer, Medienredakteur der Süddeutschen Zeitung (SZ) auf dem »“Klub Analog“ über die Lage der Radiolandschaft in Deutschland«.
Warum verändert sich das Medium Radio so schleppend?
- Weil mobiles bezahlbares Breitband-Internet noch beschränkt ist
- Weil lokale Themen noch eine große Rolle spielen
- Weil Werbetreibende noch zurückhaltend sind beim Ausprobieren neuer Formen im WWW
- Weil die Medienmacher noch keine einheitliche Reichweiten-Währung definieren konnten, mit der sie ihre Produkte vermarkten und vergleichen
- Weil sich folglich die alten Geschäftsmodelle halten und neue noch nicht entwickelt haben
Die Frage ist mit Sicherheit nicht die, ob Radio sich wandelt – sondern wann sich Radio wandelt, und zwar radikal. Wir bewegen uns von Massenmedien (Eine Marke/einProgram – x Nutzer) weg und hin zu einer Masse von Medien.
Könnte Authentizität hier die entscheidende Chance, der USP sein? Kommt es zu einer Renaissance der Wertigkeit von Audio? Was wird Sprachsynthese mit dem Feld machen? Kann gutes inhaltliches Radio zum Luxus werden? Es sind dieses wohl auch Glaubensfragen. Man kann sie nicht mit Sicherheit beantworten. Sich ihnen frühzeitig zu stellen, ist aber mit Sicherheit nicht falsch.
Ich habe einige Glaubensfragen für mich wie folgt beantwortet:
- Mitnichten ist jeder ein (Leser-)Reporter. Es wird immer Journalisten brauchen.
- Musik ist Emotion und geht über reine Automation hinaus. Algorithmen allein genügen nicht.
- Community ist NICHT alles.
- Journalisten sind nicht dasselbe wie Content Manager. Journalisten brauchen eine Ethik.
Boulevard wird immer bleiben, immer beliebt sein und immer Nutzer finden – die Dominanz der Unterhaltung wird sich vielleicht sogar verstärken. Das ist aber auch gar nicht schlimm. Doch sollten wir in der Zukunftsdebatte Entertainment von Journalismus trennen. Beides hat seine Berechtigung, beides sollte nicht gegeneinander abgewogen werden. Es unter einem gemeinsam Hut zu diskutieren halte ich für falsch. Gutes Entertainment braucht eigene Regeln, eigene Erfahrungen und eigene darauf spezialisierte Macher – wie guter Journalismus auch.
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