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Aufruhr im Elfenbeinturm

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„Ganz unten“ ist der Titel des bekanntesten und erfolgreichsten Buchs von Günter Wallraff. Der Aufdecker und Journalist beschreibt darin seine Erfahrungen, die er in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als getarnter türkischer Gastarbeiter Ali Sigirlioğlu in Deutschland gemacht hat. Im Klappentext des Buches heißt es: „(…) vom Arbeitsmarkt zum Sklavenmarkt ist es nur ein Schritt, wo Arbeit tödlich werden kann und der Mensch aufhört, Mitmensch zu sein“.

Und genau dort wähnen sich nun offenbar viele ORF Journalisten. Zumindest hat die Wiener Wochenzeitung Falter nach mehreren Interviews mit ORF Redakteuren ihren Bericht über die „erschreckenden“ Zustände im Staatsfunk  mit „Ganz unten am Berg“ betitelt.

Und tatsächlich, die Arbeitsbedingungen im ORF scheinen wirklich nahezu unmenschlich, wie das Beispiel einer Radionachrichtenredakteurin zeigt. Sie berichtet dem Falter: „Teilweise muss ein Redakteur auch gleich zwei Beiträge für ein Nachrichtenjournal gestalten – und das binnen weniger Stunden“. Ihrem Kollegen geht es da um keinen Deut besser: „Wir machen manchmal acht Geschichten mit vier Leuten“. Ja, das kommt dabei heraus, wenn man sich, so wie derzeit im ORF,  „im Kampf Journalist gegen Kaufmann“ befindet. Stellt sich allerdings die Frage, wer diesen Kampf gewonnen hat.

Eine Kollegin, ebenfalls aus der Radionachrichtenredaktion, beschwert sich: „ Manchmal frage ich mich, ob es nicht Kalkül ist, dass man uns so kurz hält. Wir können nichts mehr nachrecherchieren, sondern nur die Brocken fressen, die uns die Politiker hinschmeißen.“

Der war gut. Das klingt  fast so, als ob das jemals anders gewesen wäre. Der ORF war stets ein Hofberichterstatter. Investigativer oder (regierungs)kritischer Journalismus hat im Staatsfunk nie eine nennenswerte Rolle gespielt. Welche politischen Skandale hat das größte Medienunternehmen des Landes in den vergangen Jahren und Jahrzehnten nochmals aufgedeckt? Und die kritische Berichterstattung der Landesstudios über Michael Häupl in Wien oder Erwin Pröll in Niederösterreich ist ja geradezu legendär…

Wie auch immer, angesichts dieses „enormen Drucks“ haben sich die ORF Radionachrichtenredakteure bereits überlegt: „wie die Hebammen im AKH kollektiv in den Krankenstand zu gehen“, berichtet einer von ihnen im Falter. Ein anderer geknechteter ORF Radiojournalist, der wie seine Kollegen anonym bleiben will, ergänzt: „Unser größtes Problem ist: Es gibt derzeit niemanden, der die Grenze der Belastbarkeit von Mitarbeitern definiert.“

Diese Grenzen sollten tatsächlich einmal definiert werden, das Gejammer und die Beschwerden der ORF Redakteure kann ein Außenstehender (ausgenommen vielleicht Landesbeamte und ÖBB-Bedienstete) bestenfalls als Realsatire oder als Sittenbild einer vollkommen abgehobenen (öffentlich-rechtlichen) Anstalt  begreifen. Selbst Marie Antoinette dürfte mehr Bodenhaftung gehabt haben.

Die im Falter zitierten  Aussagen zeigen zudem, wie paradiesisch die Zustände im ORF – trotz des angeblich so brutalen Sparkurses – offenbar noch immer sind. Und die Ausrede, „Qualität“ erfordere eben mehr Zeit, Aufwand, Mitarbeiter und Ressourcen, die können ORF Journalisten schon lange nicht mehr für sich in Anspruch nehmen.

Werner Reichel

XPLR: MEDIA Radio-Report