Die weltweite Musikwirtschaft blieb 2019 auf Erfolgskurs. Neben den Keymärkten USA und Großbritannien verzeichnet auch der deutsche Musikmarkt ein deutliches Umsatzplus: Die Einnahmen aus Musikverkäufen und Erlösen aus dem Streaminggeschäft wuchsen um 8,2 Prozent. In Summe kamen sie auf 1,623 Milliarden Euro. Nach den zwei minimal rückläufigen Vorjahren 2017 und 2018 folgte der viertgrößte Musikmarkt der Welt damit im letzten Jahr wieder der seit einigen Jahren klar positiven globalen Entwicklung. Zu dem Umsatzzuwachs haben mehrere Faktoren geführt: die Dynamik des Audio-Streamings (+27,0%), ein gegenüber dem Vorjahr nahezu halbierter Rückgang der Umsätze mit CDs (-10,5%) sowie ein Plus von 13,3 Prozent bei Vinyl-Schallplatten. Audio-Streaming als führendes Marktsegment kommt nunmehr auf einen Anteil von rund 55 Prozent am Gesamtumsatz, gefolgt von der CD (29,0%), Downloads (6,2%) und Vinyl (4,9% Umsatzanteil). Ob sich der positive Trend für die Labels auch nach Corona so fortsetzt bleibt abzuwarten.
Der frühere Universal Music-Chef Tim Renner hatte bereits mit dem Aufkommen erster digitaler Musikdienste auf die außerordentlichen Chancen für die Branche hingewiesen. Während sich die Record Labels und ihre Standesorganisationen noch mit den seinerzeit illegalen Tauschbörsen wie Napster herumschlugen, skizzierte der umtriebige Vordenker bereits Anfang der 2000er-Jahre erste Ideen für einschlägige Vermarktungsmodelle. Renner sollte Recht behalten. Allerdings vergingen fast zwei lange Jahrzehnte, bis sich die Musikwirtschaft nach einer harten Durststrecke wieder mit kommerziell wirklich erfolgreichen Angeboten zurückmelden konnte.
Aufgewachsen in Berlin und später Hamburg, verschrieb sich der junge Renner zunächst dem Musikjournalismus, betrieb ein Fanzine, schrieb für Stadtmagazine – und gestaltete für den Norddeutschen Rundfunk die experimentelle Radioshow „Zur Lage der Nation“. 1986 dann der Wechsel in die Musikwirtschaft zum damaligen Polydor-Label, unter dessen Dach er als Spezialist für progressive Musik schon bald für erste Erfolge sorgte. 1994 gründete Renner innerhalb des Mutterkonzerns PolyGram das Kult-Label Motor Music – für das er Künstler und Bands wie Rammstein, Element Of Crime oder Phillip Boa entdeckte. Und deren Alben auch ohne die klassische Promotion-Unterstützung wie Radio und Fernsehen im Markt durchsetzte. 1998 wurde Tim Renner zum Geschäftsführer des PolyGram-Folgeunternehmens Universal Music Deutschland berufen, für das er den Umzug des Firmensitzes von Hamburg in die Bundeshauptstadt vollzog.
2004 verließ Renner Universal Music und baute die Firmengruppe Motor Entertainment auf, zu der ein Musikverlag mit Label Motor Music, eine Booking Agentur für das Tourgeschäft („Motor Tours“) sowie ein Management (zum Beispiel für Polarkreis 18) gehört. Bis 2011 hielt er als Gesellschafter eine Beteiligung am von ihm mit gegründeten Radiosender Motor FM, die er nach dessen Umfirmierung in FluxFM jedoch aufgab.
Tim Renner ist langjähriger Dozent im Studiengang Musikbusiness der Popakademie Baden-Württemberg und erhielt dort 2009 die Ernennung zum Professor. Unter dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, wurde Renner am 28. April 2014 Kulturstaatssekretär des Landes Berlin. Bei der Bundestagswahl 2017 bewarb er sich als Kandidat der SPD in Charlottenburg-Wilmersdorf erfolglos um ein Abgeordnetenmandat für den Deutschen Bundestag.
„Die Labels mit den großen Katalogen, wie zum Beispiel die drei Majors Warner, Sony und Universal werden potentiell sogar von der Krise profitieren“
RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich sprach mit Tim Renner über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Musikmarkt.
RADIOSZENE: Herr Renner, wie heftig trifft die Coronakrise die Musikwirtschaft?
Tim Renner: All diejenige, die von den Auftritten vor Publikum leben trifft die Krise heftiger als jede andere Branche. Ihnen brechen 100 Prozent der Einnahmen weg. Wer hingegen von Rechten lebt, wie Labels und Verlage, der wird die Coronakrise – wenn überhaupt – mit Verzögerung bei der nächsten GEMA-Abrechnung zu spüren bekommen.
RADIOSZENE: Bedeutet dies, dass die Labels die Pandemie – bei weiter laufenden Einnahmen über Streaming und Downloads oder physische Verkäufe via Versandhandel – vergleichsweise glimpflich überwinden?
Tim Renner: Die Labels mit den großen Katalogen, wie zum Beispiel die drei Majors Warner, Sony und Universal werden potentiell sogar von der Krise profitieren: Im Lockdown hatten auch die berufstätigen Nutzer von Spotify und Co mehr Zeit zum Musikhören. Sie zahlen zwar eine Flatrate, aber hören mehr alte, denn neue Titel. Das Verhältnis beläuft sich bei normalen Konsumenten auf 80% Katalog zu 20% Neuheiten. Je älter die Hörer sind, desto mehr steigt der Kataloganteil. Da heutzutage per Nutzung vergütet wird ist das ein klarer Vorteil für alle, die große Kataloge verwalten und ein Nachteil für diejenigen die, wie zum Beispiel der gesamte musikalische Nachwuchs, von Neuheiten leben…
Der Gesetzgeber wäre hier gefordert den zeitlich ausgeuferten Leistungsschutz wieder auf das Normalmaß zu begrenzen, welches mit 25 Jahren zum Beispiel das Patentrecht vorgibt. Die Einnahmen aus älteren Titeln könnten dann unter den gestreamten Neuerscheinungen aufgeteilt und so ein wenig Gerechtigkeit hergestellt werden.
RADIOSZENE: Wie ist es um die vielen tausend Musikschaffenden, jenseits des ganz großen Bekannheitsgrades, bestellt? Besteht hier ohne Hilfsmaßnahmen nicht die Gefahr, dass viele von ihnen nach der Krise keine beruflichen Perspektiven in der Musikszene mehr haben?
Tim Renner: Für alle nicht bereits etablierten, älteren Musiker ist die Krise eine Katastrophe. Die einzig richtige Reaktion war die des Landes Berlin, welches Ende März jedem Soloselbständigen pauschal 5000 Euro für die Lebenshaltungskosten der nächsten Monate überwiesen hat, also eine Art bedingungsloses Grundeinkommen. Das hat zumindest hier das Schlimmste verhindert und den Musikschaffenden und anderen aus der Kunst Mut gemacht.
RADIOSZENE: Am heftigsten hat es den Live-Entertainmentbereich getroffen, aber auch Musikclubs. Die Festivalsaison fällt aus, Konzerte sind unter den Bedingungen vor Corona auf nicht absehbare Zeit untersagt. Sind hier nicht auch dauerhafte Schäden für die kulturelle Vielfalt zu befürchten, welche Folgen erwarten Sie für die Veranstaltungsbranche?
Tim Renner: Es ist zu befürchten, dass uns hier eine ganze Infrastruktur verloren geht: Der Club kann seine Miete nicht zahlen, der örtliche Veranstalter seine Mitarbeiter nicht – und auch der Tourneeveranstalter muss die Hand heben. Einzig das Duopol der beiden großen Zwischenhändler CTS und Ticket Master kommt halbwegs ungeschoren davon – sie sitzen auf dem Cashflow der bereits bezahlten Tickets. Die hinter ihnen stehenden Konzerne Eventim und Live Nation werden sich aus den Trümmern der deutschen Live-Infrastruktur danach die letzten Perlen zusammenkaufen und endgültig den Markt kontrollieren. Würde es die Kulturpolitik mit der Gleichstellung von E- und U- Kultur wirklich ernst meinen, müsste sie jetzt agieren.
Selbstredend sind die wichtigsten Theater, Konzerthäuser und alle Opern in staatlicher Hand. Das war auch nicht immer so, sondern geschah, weil sie sich privatwirtschaftlich nicht mehr rechnen konnten. Ähnliches geschieht nun im Bereich Rock und Pop. Statt die Kultur nun einem Duoplol zum Frass vorzuwerfen wäre es vernünftig als Staat die entscheidenden Häuser selbst aufzukaufen und mit einer Intendanz zu betreiben. Also die Markthalle Hamburg, das Astra Berlin, die Muffat Halle München zum Beispiel in Staatshand zu bringen und zu betreiben wie man das bereits von Konzerthäusern für Klassische Musik und Jazz kennt – nur dass man hier keine laufenden Zuschüsse braucht, wenn man es richtig macht.
„Corona dürfte mit dem Hinterweltlertum zumindest der deutschen Musikindustrie aufgeräumt haben. 90 Prozent digitaler Anteil wird hier, so wie im Rest der führenden Weltmärkte normal werden“
RADIOSZENE: Welchen Beitrag kann das Radio während der Krise leisten? Zahlreiche Sender übertragen ja bereits zusätzliche Konzerte … was könnte noch passieren?
Tim Renner: Corona ist eine Chance zum Wandel. Am Börsenkurs von Spotify, Netflix und anderen lässt sich ablesen, wie Streaming global durch Corona gewachsen ist. Radio kann dem nur begegnen indem man nicht auch einen Algorithmus das Programm machen lässt, sondern reale Menschen featured. Der extrem erfolgreiche Podcast vom NDR mit dem Virologen Dorsten zeigt da einen Weg auf. Im musikalischen Bereich ist ebenfalls Lebenshilfe und Beratung die Stärke von Radio. Egal ob dieses als lineares Programm und/oder als Podcast geschieht. Hintergrundmusik ist kein Geschäftsmodell, das können die Streamingdienste besser und vor allem individueller.
RADIOSZENE: Die deutsche Musikwirtschaft vermeldete vor einigen Wochen für 2019 ein stolzes Umsatzplus von 8,2 Prozent – das vor allem durch einen starken digitalen Rückenwind getragen ist. Wird sich diese Entwicklung – auch einmal ungeachtet von Corona – fortsetzen?
Tim Renner: Deutschland und Japan waren mit ihren Anteilen von bis zu 50% im analogen Markt lange die Dinosaurier des Musikmarkts. Corona dürfte mit dem Hinterweltlertum zumindest der deutschen Industrie aufgeräumt haben. 90% digitaler Anteil wird hier, so wie im Rest der führenden Weltmärkte normal werden. Japan könnte eine Ausnahme bleiben: Dort haben Tonträger eine Preisbindung …
RADIOSZENE: Vor einigen Monaten wurden Stimmen namhafter deutscher Künstler laut, die über ihre Managements ein „Fair Share“ bei den Labels einforderten. Worum geht es hier genau?
Tim Renner: Die Musikindustrie ist global auf 90,2 Prozent ihres Umsatzes verglichen zu ihrem erfolgreichsten Jahr 2002. Gleichzeitig spart sie durch entfallene Grenzkosten wie die GEMA – die zahlen die Streamingdienstleister -, Pressungen, Vertrieb und so weiter im Schnitt fast 40 Prozent verglichen zu 2002. Das bedeutet sie ist so profitabel wie noch nie. Gekniffen sind die Künstler: Spart die Industrie Grenzkosten sinkt ihr Anteil. Ihre Beteiligung erhalten sie auf den Umsatz. Zudem sind sie im Nachteil, weil die Labels am Katalog verdienen – also Platten die sie denselben Konsumenten bereits als CD/LP verkauft hatten. Früher wurde über 80 Prozent des Umsatzes mit Neuheiten gemacht und knapp 20 Prozent mit Katalog. Heute ist es genau umgekehrt. Eine Katastrophe für alle Künstler die sich erst jetzt etablieren …
RADIOSZENE: Kritiker bescheinigen den Offiziellen Single-Charts eine schwindende Aufmerksamkeit. Im vergangenen Spätsommer wollte der Branchenverband BVMI – auch vor dem Hintergrund versuchter Manipulationen durch Fake-Streams – eine Neuausrichtung der Charts in die Wege leiten. Angeregt wurde unter anderem auch die Einbeziehung weiterer Musiknutzungsquellen. Passiert ist bislang nichts. Was müsste sich an den Single-Charts ändern, um ihnen wieder mehr Ansehen in der Öffentlichkeit und bei den Medien zu verleihen?
Tim Renner: Eine Single-Charts sollte All-Sources berücksichtigen, also nicht nur Spotify und Co, sondern auch YouTube, Radio, TV – jede Art des Playouts. Das würde dann ein Abbild der realen, aktuellen Musiknutzung ergeben und auch helfen Manipulationen durch Bots zu erschweren.
„Früher wurde über 80 Prozent des Umsatzes mit Neuheiten gemacht und knapp 20 Prozent mit Katalog. Heute ist es genau umgekehrt“
RADIOSZENE: Wie bewerten Sie aktuell die deutsche Radiolandschaft? Was gefällt Ihnen, was vermissen Sie, was würden Sie ändern?
Tim Renner: Die deutsche Radiolandschaft muss dringend begreifen, wo ihre Stärken liegen. Immer mehr des immer gleichen funktioniert im Zeitalter des Streaming nicht. Radio muss wieder Persönlichkeiten aufbauen, sowohl in Form von Moderatoren, als auch von Künstlern.