Junge Leute verlieren die Liebe zum Radio.
Woher wissen wir das? Man muss nur einen beliebigen Typen in der Bar fragen.
Er wird sagen, dass der Sohn seines Freundes kein Radio mehr hört und die Extrapolation lehrt uns dann, dass auf der ganzen Welt kein junger Mensch noch Radio hört. Also können wir dieses Wissen an unserem Arbeitsplatz hinausposaunen und bequem sagen, dass junge Leute kein Radio mehr hören.
(Wir dürfen schließlich auch nicht vergessen, dass Werbeagenturen bereits ihr Interesse an der Zielgruppe 50+ verloren haben. Wer will mit Leuten Geld verdienen, die vergleichsweise reich sind, nachdem ihre Kinder das Haus verlassen haben und für die ein niedriger Preis unwichtiger ist als ein Qualitätsprodukt? Keine Werbeagentur hält diese Menschen noch für attraktiv! Die Folge: Oldiesender bringen nur noch Werbepsots für Schmerzlinderung, Seniorenheime und Bestattungspläne.)
Jetzt sagen wir jedem, der es nicht wissen will, dass „junge Leute kein Radio hören“. Es wird als Wahrheit der Hörerwelten akzeptiert. Bald werden wir jede Radiostation auf „im Herzen jung gebliebene“ Hausfrauen ausrichten. Denn die wollen mehr Abwechslung und Lieder, zu denen sie mitsingen können. Weil junge Leute kein Radio mehr hören.
Es gibt eine Radiostation in Australien, die auf „die jungen Leute“ ausgerichtet ist, genannt triple j. Am vergangenen Wochenende wurde in Australien die triple j Hottest 100 ausgestrahlt, eine jährlich von den Hörern ausgewählte Hitparade. Eine sinnlose Übung – denn kein junger Mensch hört noch Radio.
Die heißesten 100 in diesem Jahr erhielten 2,4 Mio. Stimmen – die bislang höchste Stimmenzahl, die triple j je hatte. Das häufigste Alter der Wähler: 21 Jahre, also genau in der Mitte jener Altersgruppe, von der uns gesagt wird, dass sie kein Radio hört. Mehr Stimmen als je zuvor, von jungen Leuten.
Ha, werden Sie sagen, das beweist noch lange nicht, dass junge Leute Radio hören. Die jungen Leute sind doch dumm und werden nur deshalb über diese Hits abgestimmt haben, weil ihre Freunde sie dazu angestiftet haben oder so. Sie werden nicht zuhören. Denn natürlich hören junge Leute kein Radio.
Tatsächlich ist triple j’s Hottest 100 vermutlich das weltweit größte Streaming-Ereignis fürs Radio. Ich habe letztes Jahr einen langen technischen Artikel für das Radio Magazine geschrieben, mit einigen ihrer Streamingdaten. Die Gesamtzahl gleichzeitiger Streams im Jahr 2017 (wahrscheinlich etwas zu früh für Statistiken des Jahres 2018) betrug 258.000 in den Spitzenzeiten. (Das ist deutlich höher als bei jeder anderen Radiostation, mit der ich zusammengearbeitet habe). Dennoch ist es nur eine einzige Radiostation – und es handelt sich bei der ABC um eine öffentlich-rechtliche Institution. Also verlassen jüngere Hörer das kommerzielle Radio in Scharen, weil junge Leute kein Radio hören.
Aber neue australische Daten zeigen, dass 79% der jungen Australier jede Woche Radio hören; Radio ist bei jüngeren HörerInnen in anderen Ländern einschließlich Großbritannien ähnlich gefragt. Die Reichweite der Privatradios nimmt in Australien bei jüngeren Hörern sogar zu: ein Vierjahreshoch! Sicher, sie hören nicht mehr so lange zu wie vor zehn Jahren. Das überrascht wohl Niemanden. Aber die jungen Hüpfer hören immer noch zu: Die Gesamtzahl der jungen HörerInnen nimmt in vielen Märkten zu – und eben nicht ab.
Tatsächlich gibt es keine Daten, die belegen, dass „junge Leute kein Radio hören“.
Wenn Ihnen also demnächst jemand sagt, dass junge Leute kein Radio hören: Statt traurig mit Demjenigen übereinzustimmen und wehmütig über Menschen in Booten mit unverständlichen Rufzeichen und Mittelwellenempfang zu sprechen; fordern Sie Ihr Gegenüber heraus. Denn es scheint mir, dass junge Leute doch das Radio lieben. Frag‘ nach bei triple j! (vgl. auch JIM-Studie: Radiohören bei Jugendlichen weiter hoch im Kurs)
Der Radio-Futurologe James Cridland, spricht auf Radio-Kongressen über die Zukunft des Radios, schreibt regelmäßig für Fachmagazine und berät eine Vielzahl von Radiosendern immer mit dem Ziel, dass Radio auch in Zukunft noch relevant bleibt. Er betreibt den Medieninformationsdienst media.info und hilft bei der Organisation der jährlichen Next Radio conference. Er veröffentlicht auch podnews.net mit Kurznews aus der Podcast-Welt. Sein wöchentlicher Newsletter (in Englisch) beinhaltet wertvolle Links, News und Meinungen für Radiomacher und kann hier kostenlos bestellt werden: james.crid.land. Kontakt: james@crid.land oder @jamescridland.
(Teaserbild: ©123rf/bowie15)