Radio feiert in Deutschland in diesem Jahr seinen einhundertsten Geburtstag! Als Geburtsstunde des deutschen Rundfunks gilt der 29. Oktober 1923. An diesem Tag wird die erste Unterhaltungssendung aus dem Berliner Vox-Haus am Potsdamer Platz ausgestrahlt.
Als erster offizieller Rundfunkteilnehmer in Deutschland gilt der Berliner Zigarettenhändler Wilhelm Kollhoff. Die Lizenz zum Hören des Programms kostete – 1923 war der Höhepunkt der Inflationszeit – 60 Goldmark oder 780 Milliarden Papiermark.
Die erste Rundfunkübertragung eines Weihnachtskonzerts fand allerdings bereits drei Jahre zuvor – am 22. Dezember 1920 – über den Sender Königs Wusterhausen der Reichspost statt. Postbeamte spielten auf mitgebrachten Instrumenten, sangen Lieder und trugen Gedichte vor. Der „Funkerberg“ gilt daher als „die Geburtsstätte des öffentlichen Rundfunks in Deutschland“.
Rasch entwickelte sich Radio zum unverzichtbaren Begleiter im medialen Leben der Deutschen. Als Propagandaorgan der Nationalsozialisten missbraucht durchschritt der Hörfunk düstere Jugendjahre, war während der Wiederaufbauzeit ein fürsorglicher Mutmacher, wurde mit dem Aufkommen des Fernsehens oft totgesagt – und belebte sich mit frischen Konzepten immer wieder neu. Wie etwa, als Videoclips und das Musikfernsehen den Radiostars den garaus machen wollten. Radio schüttelte sich, konterte mit bis heute erfolgreichen Jugend- und Popformaten. Aber wer erinnert sich noch an VIVA oder MTV?
Hörerzahlen und Ansehen des Hörfunks sind bis heute ungebrochen. Allerdings verlangen die digitale Revolution, veränderte Nutzungsgewohnheiten und Streamingdienste heute wieder zukunftsweisende Strategien. Möglicherweise die größten Herausforderungen, denen sich das ewig junge Medium bislang stellen musste.
RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich sprach mit Anke Mai, Programmdirektorin Kultur, Wissen, Junge Formate beim Südwestrundfunk (SWR) sowie derzeit Vorsitzende der ARD Audioprogrammkonferenz, über den Stellenwert des Radios und die Aktivitäten des Senderverbunds zum besonderen Geburtstag des Mediums.
Das, was wir digital in einigen Bereichen noch lernen müssen, nämlich den Zielgruppen das jeweils richtige Angebot zu machen, haben wir mit Radio über die Jahrzehnte aufgebaut
RADIOSZENE: Während seiner Geschichte hat Radio hierzulande eine wechselvolle Vergangenheit hinter sich. Beginnend mit den Anfangsjahren, als es als nationalsozialistisches Sprachrohr missbraucht wurde, bis zu den enormen Herausforderungen der digitalen Gegenwart. Oft totgesagt, musste sich das Medium immer wieder neu erfinden. Und hat bis heute kaum an Attraktivität verloren. Warum ist das Radio so beliebt?
Anke Mai: Radio ist durch seine unmittelbare Nähe, seine Schnelligkeit, Aktualität und Vielfalt ein wichtiger Begleiter der Menschen durch den ganzen Tag. Dabei spielt die regionale Verankerung auch eine entscheidende Rolle, denn die Moderatorinnen und Moderatoren wissen, was die Menschen in ihrem Sendegebiet bewegt, sie finden den richtigen Tonfall und verstehen, was gerade besonderen Gesprächswert hat und die Hörerinnen und Hörer interessiert. Und das ganz unabhängig davon, ob wir von einer Infowelle, einem Kulturprogramm, einer Popwelle, einer jungen Welle, einer Melodie-Schlagerwelle oder einer Oldie-Welle sprechen.
Das, was wir digital in einigen Bereichen noch lernen müssen, nämlich den Zielgruppen das jeweils richtige Angebot zu machen, haben wir mit Radio über die Jahrzehnte aufgebaut. Das Publikum hat das Gefühl, das ist „meins“, das ist meine Welt.
Trotzdem müssen wir auch feststellen, dass jüngere Menschen, die nicht mit diesem Medium so stark sozialisiert sind, ihre Themen auch auf anderen Kanälen finden, etwa bei Social Media oder Streaming-Angeboten. Das heißt, ähnlich wie beim linearen Fernsehen müssen wir auch beim Radio diese geänderten Nutzungsgewohnheiten der Menschen ernst nehmen und versuchen, die Stärken des linearen Radios in die digitale Welt zu übersetzen. Dabei bleibt das Hören unser Kernelement: Wir sind über den Knopf im Ohr immer noch sehr nah bei den Menschen, wir brauchen kein Video, um Emotionen zu erzeugen – und das ist in vielen Lebenslagen einfach nach wie vor von großem Vorteil. Den wollen wir nutzen, um Radio – oder besser Programm zum Hören, Audio-Content – auch für die nächsten Jahrzehnte attraktiv zu halten.
RADIOSZENE: Welche Ära und Innovationen haben das Radio während seiner langen Geschichte am meisten beflügelt?
Anke Mai: Ich denke, mit der damaligen „Innovation“ UKW hat Radio einen gewaltigen Sprung gemacht. Es gab Vielfalt, schnell und unkompliziert verfügbar, mobil und einfach bedienbar.
Aber wenn wir zum Beispiel in die USA blicken, wo Radio auch durch Satelliten-Empfang beflügelt wurde, was bei uns ja überhaupt nicht der Fall ist, muss ich doch sagen – es kommt gar nicht so sehr auf den technischen Empfangsweg an. Deshalb hoffe ich, dass wir mit Live-Radio in der digitalisierten Welt, also über IP-Streaming, attraktiv bleiben, denn wer könnte aktueller und kompetenter auf aktuelle Ereignisse reagieren? Es geht um das Live-Gefühl, das ist der Kern von Radio. Und das ist aus meiner Sicht nach wie vor unschlagbar. Die Innovation DAB+ etwa hat es noch leichter gemacht, die geliebte Radiowelle zu finden, DAB-Technik, also digitale terrestrische Radioverbreitung, ist nachhaltiger, besser, liefert mehr Information, viel Service, ist also der viel bessere Verbreitungsweg, hat aber am Programm selbst nichts geändert. Und das ist die zentrale Erkenntnis: Radio bezieht seine Stärken nicht aus dem Verbreitungsweg, sondern aus dem Inhalt selbst.
Radio bezieht seine Stärken nicht aus dem Verbreitungsweg, sondern aus dem Inhalt selbst
RADIOSZENE: Wie segensreich empfinden Sie als Verantwortliche im Rückblick die Einführung des privaten Rundfunks ab den 1980er Jahren? Kritiker behaupten ja, die Kommerzialisierung habe das Wesen öffentlich-rechtlicher Programme und die gesamte Radiowelt zu ihrem Nachteil verändert …
Anke Mai: Das sehe ich tatsächlich völlig anders. Wir haben mehr Vielfalt, wir haben mehr Konkurrenz – und die führt dazu, dass wir alle mehr darauf achten, was sich die Hörerinnen und Hörer wünschen. Wir machen das also schon sehr lange, fast vierzig Jahre, und sind geübt darin, ernst zu nehmen, was unser Publikum von uns erwartet. Wenn ich an unser Programmangebot denke, sehe ich Kulturwellen, die mit großer Kompetenz und Leidenschaft öffentlich-rechtliches Programm im besten Sinne machen, dabei aber zum Beispiel mit Klassik kein Massenpublikum ansprechen, aber eines, das genau darauf Wert legt. Ich sehe Info-Wellen, die verlässliche Information, Orientierung, Hintergrund schnell und absolut seriös 24 Stunden am Tag zur Verfügung stellen. Und ich sehe – oder besser höre – Wellen, die mit Popmusik oder Schlager, mit Oldies oder ganz junger Musik ihr jeweiliges Publikum ansprechen, das genau auf diesen Mix aus Musik, Unterhaltung und Information in der jeweiligen Sprache und Lebenswelt setzt.
Öffentlich-rechtliches Radio soll auch Spaß machen. Das ist für uns zentral, dass wir mit diesem Bouquet möglichst viele Menschen ansprechen und für viele unterschiedliche Interessen ein Angebot machen. Wenn ich jetzt an unser Sendegebiet, also das des SWR denke, dann schätze ich durchaus die private Konkurrenz, denn sie beflügelt uns, jeden Tag darüber nachzudenken, wie wir besser werden können. Und es freut mich, dass SWR3 nach wie vor das erfolgreichste Radioprogramm in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ist und dass Menschen unter 50 zu einem großen Prozentsatz als erstes SWR3 nennen, wenn sie an den SWR denken. Das ist ein unschätzbarer Erfolg, der nicht auf „Kommerz“ beruht, sondern darauf, dass wir ein verlässlicher Partner im Leben der Menschen sind, die wissen, sie werden gut unterhalten – aber klar ist auch. Wir dürfen uns nicht auf diesen Erfolgen ausruhen.
RADIOSZENE: Die Musik im Radio ist zweifelsfrei weiter der oder (zumindest) einer der wichtigsten Einschaltimpuls(e). Mit welchen Strategien wollen Sie die immer beliebter werdenden Streamingdienste auf Distanz halten?
Anke Mai: Das stimmt, Musik ist für viele Menschen der Grund, das Radio einzuschalten. Und beim jüngeren Publikum ist es oft der Grund, einen Streamingdienst anzuwählen. Wir setzen da weiterhin auf unsere Stärken – und natürlich auf unsere digitalen Angebote, auf unsere eigene Plattform etwa, die ARD Audiothek.
Denn was ein Streamingdienst – zumindest noch – nicht kann, ist das Gefühl der Nähe zu schaffen, dass da ein Mensch am Mikrofon sitzt, der mit mir redet, live, jetzt, aktuell. Und diesen Schatz, der das sogenannte „lineare“ Radio ist, wollen wir in der Audiothek noch attraktiver machen, gepaart mit unseren Podcast-Angeboten, mit individuellem, personalisierten Programm, das sich das Publikum dann selbst zusammenstellen kann, in dem es seinen Vorlieben und Interessen entsprechend Angebote bekommt. Aber immer auch wieder einfach auf Live-Radio setzen kann. Viele unserer Radiowellen haben die Musik als Kern und sind über eine attraktive ARD Audiothek natürlich digital verfügbar, dafür wollen wir werben und wir arbeiten daran, die Audiothek immer weiter zu verbessern, um sie zu einem digitalen Komplett-Angebot für alle Zielgruppen auszubauen.
Radio ist einfach „einfach“
RADIOSZENE: Mit der Einführung von Popwellen während der 1970er-Jahre – und später in den 1990er-Jahren mit dem Start von Jugendradios – als Antwort auf das Musikfernsehen – hat das Medium immer wieder auch junge Menschen gebunden. Und damit entscheidend gepunktet. Wie optimistisch sind Sie, sich im jungen Markt künftig auch gegen Online-Dienste, soziale Medien und Streaming behaupten zu können?
Anke Mai: Ich weiß gar nicht, ob wir uns dagegen behaupten müssen. Wir sollten vielmehr Teil davon sein, also zum Mix der Mediennutzung dazugehören. Unsere Analysen zeigen natürlich, dass das jüngere Publikum weniger Zeit mit klassischem linearen Radio verbringt. Deshalb wollen wir die jüngeren Menschen auf verschiedenen Wegen ansprechen, ihnen aber auch das Angebot machen, einfach zuzuhören, weil wir auch ihr verlässlicher Partner in einer sehr komplexen Medienwelt sind, in der es immer wichtiger sein wird, dass wir den Unterschied machen.
Wir wollen erklären, Orientierung bieten, die Themen der jungen Menschen in ihrer Sprache abbilden. Deshalb müssen wir in unserer Arbeit darauf achten, dass wir vielfältig und glaubwürdig sind, dass wir auf unsere Quellen verweisen, zeigen, wie wir journalistisch arbeiten, wie wir versuchen, Fake und Wahrheit unterscheidbar zu machen. Und das ist dann natürlich viel mehr als Musik. Es ist sehr erfreulich, dass die ARD mit den jungen Radiowellen erfolgreich ist und es uns gelingt, genau diesen Mehrwert von öffentlich-rechtlichem „Content“, also auch Radio deutlich zu machen.
Ich denke dabei insbesondere auch an das junge Angebot des SWR, DASDING, das mit den aktuellen Zahlen der ma die jüngste Welle innerhalb der ARD darstellt. Aber natürlich müssen wir am Ende unsere Inhalte auf den verschiedenen Ausspielwegen zur Verfügung stellen, also als öffentlich-rechtliche Anbieter überall dort sein, wo die jungen Menschen mit ihren mobilen Geräten oder Smart Speakern sind.
RADIOSZENE: Über welche Aktionen und Beiträge feiern Sie das besondere Radiojubiläum?
Anke Mai: Die ARD und auch das Deutschlandradio feiern natürlich den 100. Geburtstag des „Unterhaltungsrundfunks“ in Deutschland. Die ARD plant ihre Programmaktion offiziell vom 14.10.2023 bis 29.10.2023 (dem 100. Geburtstag). Unser gemeinsames Motto ist „100 Jahre Radio – Hört. Nie. Auf.“
Die Planung erfolgt vergleichbar zu früheren ARD Themenwochen dezentral in den einzelnen LRA, wird aber von einer Arbeitsgruppe koordiniert. In der AG sind alle LRA, ein Vertreter der jungen Wellen der ARD, ein Vertreter von ARD Kultur und der Vorsitzende der Historischen Kommission der ARD vertreten. Die Federführung der AG liegt beim Saarländischen Rundfunk.
Obwohl das Jubiläum das Medium „Hörfunk“ feiert, gibt es neben Programmangeboten im Radio natürlich auch vieles in der ARD Audiothek, in der ARD Mediathek, Das Erste und den regionalen dritten Fernsehprogrammen.
RADIOSZENE: Gerade die Popwellen und jungen Programme präsentieren sich gegenüber ihren Hörern gerne als moderne, hippe Angebote. Konterkarieren die Erinnerungen an das hohe Alter des Mediums hier letztlich nicht das Image bei jüngeren Jahrgängen?
Anke Mai: Das ist eine Herausforderung, da haben Sie recht. Deswegen stellen wir dort auch das Heute in den Mittelpunkt und den Blick in die Zukunft des Radios – nicht so sehr die historischen Rückblicke, die das jüngere Publikum ehrlich gesagt auch nicht so sehr interessieren.
RADIOSZENE: Was macht für Sie persönlich Radio so einzigartig?
Anke Mai: Radio ist einfach „einfach“. Ich bin immer direkt angesprochen, erhalte alle Informationen, die ich brauche, direkt ins Ohr, ich werde unterhalten, weiß immer mehr, habe Spaß, kriege Musik, die ich liebe, es ist nie langweilig, ich kann dabei die Welt anschauen oder die Augen zu machen…. Und das alles nur mit einem Knopfdruck. Wollen Sie noch mehr hören?
RADIOSZENE: Welche Prozesse haben für Sie oberste Priorität, um über Hörfunk auch in Zukunft möglichst viele Menschen zu erreichen?
Anke Mai: Wir müssen unsere ARD Audiothek zum zentralen Ort für Audio-Nutzung machen, live und on demand. Dann wird Radio seinen Platz in der digitalen Medienwelt haben.
RADIOSZENE: Blicken Sie abschließend noch in Ihre Glaskugel. Wohin entwickelt sich Radio in der Lebenswelt der Menschen?
Anke Mai: Wenn wir den Sprung in die digitale Welt schaffen, bleibt Radio ein aktueller Tagesbegleiter, auf den die Menschen sich verlassen können, wenn sie aktuelle Informationen hören wollen und dabei auch ein wenig entspannen, dass sie nicht alles selbst zusammensuchen müssen, sondern dass sie sich auch zurücklehnen, können, wohlwissend, dass sie unterhalten werden und nichts verpassen.
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- Projekt „Frequenzwechsel“
1923 Radio in Deutschland das erste Mal auf Sendung. Rund einhundert Jahre später, wollen wir dieses Jubiläum zum Anlass nehmen, um das Medium Radio mit der einstündigen Sonderlivesendung “Frequenzwechsel – eine Woche, einhundert Jahre Radio” hochleben zu lassen.
- Übertragung des Konzerts des Bundespräsidenten unter dem Motto „100 Jahre Radio in Deutschland“ am 22.10.2023 ab 11 Uhr aus Leipzig mit dem MDR Rundfunksinfonieorchester. Das Konzert wird Live im Ersten übertragen.
- Dokumentation „Menschen.Macht.Musik“ vom rbb (Sendetermin noch offen, aber im Aktionszeitraum und auf dem Sendeplatz von ARD History), verschiedene regionale Dokumentationen in den dritten Programmen der ARD z.B. („100 Jahre Radio im Südwesten (AT)“ vom SWR oder „Rundfunkgeschichte(n)“ vom BR.
- Der Saarländische Rundfunk produziert exklusiv für die ARD Mediathek den Zweiteiler „Mein Radio Erlebnis“,
- Bekannte und populäre Podcasts in der ARD-Audiothek werden sich im Aktionszeitraum mit dem Thema „100 Jahre Radio in Deutschland“ beschäftigen, z.B. „Kalk und Welk“ vom rbb mit zwei Ausgaben.
- Historische Audiozeugnisse aus 100 Jahren Radiogeschichte in Deutschland werden in verschiedenen Features, Kurzbeiträgen und einem exklusiven Podcastprojekt kuratiert und im Rahmen des Jubiläums neu veröffentlicht.
- ARD-Korrespondentinnen und Korrespondenten berichten über „Die Welt im Radio – Radio der Welt“ (diese Aktion läuft bereits).
- Die Zukunft des Radios: ein Hörfunkfeature wird über die Arbeit des ARD Audiolab (angesiedelt beim SWR) berichten.
- Wellenübergreifend sammeln Redaktionen der ARD persönliche Erinnerungen und Bekenntnisse zum Radio von Prominenten, die auch ARD-weit zur Verfügung gestellt werden.
- Verschiedene Landesrundfunkanstalten planen im Kontext des Jubiläums auch verschiedene Off-air Aktionen bis hin zu Tagen der offenen Tür in Funkhäusern.