Musiktrends im Radio 2023: „Es ist heute schwerer denn je, ‘Junge Musik‘ zu definieren“

Kinder jugend radio 78395365 s 123rf big2The Trend is your Friend! Wie entwickelt sich die Musik im Radio? RADIOSZENE stellte hierzu Musikverantwortlichen deutscher Hörfunkstationen folgende Fragen:

  1. Welches waren im Radio in 2022 die angesagten Musiktrends in Ihrem Sendegebiet?
  2. Werden sich diese Richtungen fortsetzen oder sind bereits neue Trends in Sicht?
  3. Deutschsprachige Musik hat im Radio zuletzt deutlich an Gewicht verloren. Kennen Sie die Gründe? Ist Besserung der Lage in Sicht?
  4. Radio feiert in 2023 seinen 100sten Geburtstag. Mit welchen Gedanken begleiten Sie als Musikexperte dieses besondere Jubiläum?

MusicMaster – "Music the Queen"

Die Antworten der Entscheider aus den Musikredaktionen lieferten eine Vielzahl interessanter Hinweise auf die aktuellen und kommenden Musikströmungen.

Heute schließen wir unsere Umfrage mit den Antworten weiterer Musikverantwortlicher.


 

„Für unserer Hörerinnen und Hörer waren auch 2022 Dance, Elektro und Popmusik die Genres, aus denen ihre Hits kamen, ergänzt um wenige, dann aber eher poppige Urban- und HipHop-Tracks“

 

Andreas Zagelow, MDR, Musikchef „Junge Angebote“ (MDR SPUTNIK und MDR TWEENS)

MDRSputnik Logo 2017 rot small01) Für unserer Hörerinnen und Hörer waren auch 2022 Dance, Elektro und Popmusik die Genres, aus denen ihre Hits kamen, ergänzt um wenige, dann aber eher poppige Urban- und HipHop-Tracks. Alles in allem also keine großen Veränderungen und darum umso schöner, dass es auch immer mal wieder Überraschungen wie ‚Snap‘ von Rosa Linn, ‚Wildberry Lillet‘ von Nina Chuba oder ‚Zukunft Pink‘ von Peter Fox in die Playlist geschafft haben.

02) Aktuell sehen wir keine gravierenden Veränderungen zum IST-Zustand. Spannend wird sein, ob sich der Retro-Clubsound von Acts wie Southstar und James Hype festsetzen kann, und welche verzichtbaren Elektro-Cover von 1980er, 1990er und 2000er-Hits uns das Jahr 2023 beschert.

03) Hier setzt sich fort, was schon in den letzten Jahren zu beobachten war. Naheliegende Vermutung: Es gab in den Jahren zuvor einfach zu viel gleich Klingendes, ein Überangebot, das beim Publikum zur Ermüdung führte. Am Ende also normale Marktmechanismen. Dennoch sollte aber nicht vergessen werden, dass deutsche Produktionen weiterhin einen deutlichen Anteil am Radioprogramm haben (zum Beispiel Purple Disco Machine, Alle Farben, Robin Schulz, Leony, Tim Kamrad). MDR SPUTNIK unterstützt Newcomer mit deutschen wie deutschsprachige Produktionen in Abendrotationen und speziell dafür konzipierten Formaten sowie über unseren Support für die NEW MUSIC HOTLIST und den NEW MUSIC AWARD der jungen ARD-Programme und Deutschlandfunk Nova.

04) Radio hat es vor allem in der jungen Zielgruppe nicht leicht. Umso mehr freuen wir uns, dass es immer wieder gelingt, mit Hilfe des Radios neue Acts aufzubauen. ClockClock, Loi und Frederico, den wir nicht nur rund um den NEW MUSIC AWARD unterstützt haben, sind aktuelle, fantastische Beispiele dafür, dass das gute alte Radio weiterhin funktioniert. Und gleichzeitig seine Zukunft auch online suchen muss.“


 

 „Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Abwärtstrend der deutschsprachigen Musik im Radio mit der Corona-Pandemie zusammenfällt“

 

Matthias Weber, HIT RADIO FFH, Leiter der FFH Musikredaktion

Matthias Weber c HIT RADIO FFH q01) Dass ältere Songs in Teilen übernommen oder markante Sounds gesampelt werden, ist ja längst nicht mehr neu. Eher hatte man langsam ein Ende dieses Trends erwartet. Stattdessen ging es aber genauso weiter und eingängige Hooks aus den 80ern und 90ern – teilweise auch etwas älter oder auch jünger – wurden ganz im Sinne eines bewussten und nachhaltigen Umgangs mit den Ressourcen wiederverwertet. Mit KAMRAD und Loi haben es aber auch junge deutsche Acts geschafft, sich mit eigenen Songs und international klingenden Produktionen im Programm von HIT RADIO FFH zu etablieren. Der bundesweite Abwärtstrend deutschsprachiger Musik hat auch uns getroffen. Wir haben es mit einigen Titeln probiert, jedoch konnte sich leider nur einer von ihnen einigermaßen durchsetzen: „Memories & Stories“ von Mark Forster. Oder ist das bereits die Trendwende? 

2) Ich gehe fest davon aus, dass auch 2023 wieder einige ältere Songs in neuen Versionen zu Hits werden. Ich bin gespannt, wie sich die deutschsprachige Popmusik in diesem Jahr entwickelt. Mit dem „richtigen“ Song, einem neuen, frischen Sound oder auch Künstlern, die sich neu erfinden, hoffe ich sehr, dass die Top 100 der Airplay-Jahrescharts 2023 nicht wieder ohne deutschsprachige Songs dastehen. 

3) Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Abwärtstrend der deutschsprachigen Musik im Radio mit der Corona-Pandemie zusammenfällt. Musik wird im Alltag nicht nur als Begleiter genutzt, sie lenkt auch ab von den unschönen Dingen des Alltags. Musik mit deutschen Texten zieht mehr Aufmerksamkeit auf sich als englisch- oder anderssprachige Musik, da man schwer „weghören“ kann. Nachdem sich viele Menschen in den vergangenen drei Jahren im Radio über die aktuelle Entwicklungen der Pandemie informieren ließen, war deutschsprachige Musik in dieser Zeit als Begleiter offenbar weniger gut geeignet. Weiterhin hatten wir zuvor eine Phase, in der deutschsprachige Musik lange Zeit sehr erfolgreich im Radio lief. Das führte mit der Zeit auch dazu, dass sich vieles ähnelte, da teilweise nach bewährtem Rezept weitergearbeitet oder auch kopiert wurde. Eine Weile ging das gut, aber die Kritik, dass vieles für das „normale“ Radiopublikum kaum noch unterscheidbar war, gab es bereits vor der Pandemie. 

Mit der Rückkehr zur Normalität müsste nach dieser Argumentation auch die Akzeptanz deutschsprachiger Musik im Radio in absehbarer Zeit wieder steigen. Mit guten Songs, frischen und überraschenden Produktionen – Udo Lindenberg und Apache 207 setzen hier bereits ein erstes Zeichen! – kann das meiner Meinung nach auch gelingen. Hoffen wir das Beste! 

4) 100 Jahre sind eine lange Zeit, in der viel passiert ist. Auch Radio hat sich in dieser Zeit in vielerlei Hinsicht weiterentwickelt, eines gilt aber nach wie vor: Radio ist ein wichtiger Bestandteil des Alltags für sehr viele Menschen. Wir arbeiten daran, dass es auch so bleibt. Es dient als schnelle und zuverlässige Informationsquelle, als Begleiter und Unterhalter. Im Bezug auf „neue Musik entdecken“ spielt es aber für viele nicht mehr dieselbe große Rolle, die es Jahrzehnte lang hatte. Umso wichtiger ist es heute, die „richtige“ Musik zu spielen, um die gewünschte Zielgruppe zu erreichen. Die richtige Musik zusammen mit den richtigen Inhalten ist im wachsenden Umfeld der digitalen Informations- und Musikquellen der Schlüssel relevant zu bleiben. Ich denke, wir werden mit der Zeit im Radio eine größere Vielfalt der Musikangebote innerhalb der Programmwelten erleben, etwa so, wie es HIT RADIO FFH, planet radio und das 80er-Radio harmony bereits mit den jeweiligen „Plus-Programmen“ anbieten.


 

„Im vergangenen Jahr haben sich verstärkt positive Melodien mit weiblichen Stimmen zu erfolgreichen Radiohits entwickeln können“

 

Kathrin Weiß, 89.0 RTL, Leitung Musikredaktion

Kathrin Weiss (Bild: ©89.0 RTL)01) Im vergangenen Jahr haben sich verstärkt positive Melodien mit weiblichen Stimmen zu erfolgreichen Radiohits entwickeln können. Dabei fällt auf, dass vor allem Pop und Dance Songs diese Eigenschaften für unsere Hörer erfüllen. Die Beliebtheit von 1:1 Cover-Danceversionen aus den Pandemiejahren hat nachgelassen, dennoch sind Songs mit bekannten Samples aus den letzten Jahrzehnten sehr angesagt. „2 die 4“ von Tove Lo mit einem Sample von „Popcorn“ aus 1969 ist einer der Lieblingssongs unserer 89.0 RTL Hörerinnen und Hörer aus 2022.

Musik ist emotional. Die Entscheidung, ob ein Titel gemocht wird oder nicht, treffen die Radiohörer meist unbewusst und mit einem Gefühl, das sie zum Weiterhören oder Abschalten bewegt. Positive Emotionen können durch jede Musikrichtung hervorgerufen werden. Kein Genre können wir deshalb für das Musikprogramm von 89.0 RTL komplett ausschließen. Mit Nina Chuba, Harry Styles, Apache, Malik Harris und Peter Fox konnten auch vermeintlich weniger beliebte Radio-Genres große Erfolge in letzten Monaten feiern.

02) Es ist schwierig vorherzusagen, wie sich die Musiklandschaft im Radio zukünftig gestalten wird. Das ist es auch, was unsere Arbeit so spannend macht. Als neuen Trend erkenne ich, dass es wieder mehr Songs mit starken Stimmen und tiefgründigen Texten gibt, die erfolgreich im Radio gespielt werden können. Vor allem junge Talente, die durch Social Media ihre erste Bekanntheit erlangen, können dann durch die Playlisten im Radio richtig durchstarten. Diese Chance für neue Künstler mit Hilfe von Online-Media-Power und dem Radio erfolgreich zu werden, auch ohne großen Major Deal bei einer Plattenfirma, wird in Zukunft noch sehr viel größer sein.

03) Ich bin nicht der Ansicht, dass deutschsprachige Musik an Bedeutung verloren hat. Im Gegenteil. Kein anderer Musikstil ruft so intensive Reaktionen bei den Radiohörern hervor wie deutschsprachige Titel. Positiv und auch negativ.

Anders als vielleicht ein englischsprachiger Coverdance Song, unterliegt ein deutscher Titel erhöhter Aufmerksamkeit und einer sehr kritischen Bewertung bei Hörerinnen und Hörern. Das macht es schwierig für uns als Musik- und Programmgestalterinnen, diese Songs optimal zu platzieren.

Verändert hat sich der Fokus deutscher Songs im Radio. Wir gehen weg von den klassischen AC-Sounds wie die von Max Giesinger oder Johannes Oerding und bewegen uns zu kreativeren und zum Teil provokanten Styles im Umgang mit deutscher Sprache. Apache und Udo Lindenberg oder Clueso mit Deichkind sind aktuelle Themen, die diese Veränderung mit deutscher Musik im Radio gut wieder spiegeln.

04) Radio ist nach hundert Jahren immer noch ein beliebtes und intensiv genutztes Medium. Auch in der Zielgruppe ab 14 Jahren hören täglich 65 Prozent der jungen Menschen Radio. Wir sind zuverlässig, persönlich, vertraut, schnell und kostenlos. Die Herausforderung für das Medium Radio in der Zukunft wird sein, mit den aktuellen schnelllebigen Entwicklungen Schritt zu halten. Wir müssen weiterhin bestrebt sein, dem Hörer starke und unterhaltsame Inhalte zu bieten und damit auch offen für Veränderungen sein und neue Wege als Chance erkennen.


 

„Der Sampletrend der letzten Jahre hat 2022 noch mal einen Peak erreicht. Sehr viele aktuelle Songs – besonders im Dance-Pop-Bereich – enthalten Sounds oder Melodien aus den frühen 2000ern“

 

Nico Potzkai, YOU FM, Teamleiter YOU FM Aktuelles & Musik   

Nico Potzkai YOUFM cSebastian Reimold rund01) Der Sampletrend der letzten Jahre hat 2022 noch mal einen Peak erreicht. Sehr viele aktuelle Songs – besonders im Dance-Pop-Bereich – enthalten Sounds oder Melodien aus den frühen 2000ern. Klassisch gecovert wird dafür ein bisschen weniger. Gleichzeitig waren aber auch Songs groß, die irgendwie entschleunigen – wie die neuen Sachen von Harry Styles oder Taylor Swift zum Beispiel.

02) Es sieht zumindest sehr nach einer Fortsetzung aus. Die neue Miley Cyrus Single geht ja auch so in diese ruhigere Richtung.

03) Hier kann man nur spekulieren, vielleicht klangen viele Sachen in den letzten Jahren einfach zu ähnlich, sodass gerade der Bedarf nicht so groß ist. Eine Besserung sehe ich aktuell noch nicht, es gibt aber ja Ausreißer, wie Peter Fox. Es gibt also Hoffnung. Auch erwähnenswert ist, dass deutschsprachige Musik zwar nicht so gefragt ist – Künstler*innen aus Deutschland sind dafür aber hoch im Kurs und super erfolgreich. Siehe Leony, Nico Santos und Co.


 

 „Hier und da wird sich schon gefragt: Ist Techno das neue EDM?“

 

Matthias Zähler, BREMEN NEXT, Musikchef

Matthias Zähler (Bild: © Radio-Bremen / Christian Wasenmüller)01) Schnellere Club Tracks wie Southstar „Miss You“ oder Eliza Rose „B.O.T.A.“ kamen gut an und da könnte auch dieses Jahr noch was kommen.

02) Es könnte auf jeden Fall sein, dass da noch einiges an schnelleren und auch etwas härter produzierten Sachen im Dance Bereich kommt. Hier und da wird sich schon gefragt: Ist Techno das neue EDM?

03) Unter anderem weil das nach wie vor alles dominierende deutschsprachige Genre HipHop ist und das für viele doch eher schwer machbar ist. Und wohl oft auch schlecht testet.

04) Da wir uns eher auf sehr aktuelle Musik konzentrieren, begleiten mich Gedanken an 100 Jahre Radio im Moment eher wenig :)


 

„Bei radioeins ist ein gegenläufiger Trend zu beobachten, noch nie waren deutschsprachige Künstler*innen so beliebt wir in den letzten Monaten“

 

Anja Caspary, RADIOEINS, Musikchefin

Anja Caspary rund

01) Da radioeins ein in der deutschen Radiolandschaft solitäres Pop-Programm jenseits des Mainstream macht, setzt es quasi seine eigenen Trends. Mainstream-Pop, HipHop und Dance-Hits, die man in den Offiziellen Charts, den Shazam- und Streaming-Charts wiederfindet, spielen hier keine Rolle. Im radioeins-Kosmos war es auffällig, wie viel qualitativ hochwertige, gute deutschsprachige Musik jenseits des Mainstream und Schlager veröffentlicht wurde. Auch ein gesteigertes Interesse der Hörer*innen an katalanischen und hispanischen Rhythmen war auffällig, wahrscheinlich losgetreten von der „Neo-Feministin“ Rosalia.

02) Der von der Streamingpolitik hervorgerufene Trend der Kürze setzt sich weiter fort in der aktuellen Musik. In allen Genres wird die Länge der Songs immer kürzer – quasi back To The 60ies – und Intros fallen immer häufiger vollkommen weg. Was musikalische Stile angeht, lassen wir uns überraschen.

03) Bei radioeins ist ein gegenläufiger Trend zu beobachten, noch nie waren deutschsprachige Künstler*innen so beliebt wir in den letzten Monaten. Tausende von Hörer*innen wählten Ende letzten Jahres ihre Lieblingslieder 2022 und in den Top 10 der „100 besten Songs des Jahres“ landeten sieben deutsche Künstler! Zum Beispiel Deichkind, AnnenMaykantereit, Wanda und natürlich Peter Fox, aber auch Künstler wie SIND oder Betterov konnten sich oben platzieren.

04) Mit glücklichen Gedanken, denn das Medium ist „uralt“ und trotzdem immer noch da. Es konnte schon nicht vom „Videostar“ gekillt werden und auch die Algorithmen der Streamingdienste haben es nicht geschafft. Radio ist immer noch einzigartig und unersetzbar: Der Live-Charakter, das Menschelnde, die Versprecher, das Lokale, die Aktualität, die Schnelligkeit und lebendige Livehaftigkeit – das ist einfach eine starke Kraft, die immer wieder neue Generationen in ihren Bann zieht, auch wenn die Gerätschaften auf welchen es zu empfangen ist, sich ändern.


 

„Rhythmic Pop ist weiter der angesagte Musikstil. Es ist kein wirklich neuer Trend in Sicht. Ich könnte mir aber ein Revival des Gitarrenpop gut vorstellen.“

 

Claus-Peter Freiherr von Hafenbrödl, RADIO REGENBOGEN, Leitung Musik

Claus-Peter Freiherr von Hafenbrödl (Bild: ©RADIO REGENBOGEN)

01) Ich denke der Rhythmic Pop ist weiter der angesagte Musikstil. Und ist ja auch mit Purple Disco Machine, Leony oder KAMRAD vorne in den Airplaycharts vertreten. Die Tendenz geht aber weiter in Richtung des mainstreamigeren Sound und ist nicht mehr ganz so clubbig.

02) Es ist kein wirklich neuer Trend in Sicht. Aber ich könnte mir ein Revival des Gitarrenpop gut vorstellen.

03) Auch dieser Trend setzt sich leider fort, wie wir aus unserem Research sehen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer der Gründe ist bestimmt, dass es eine gewisse Fülle gab, durch die eine Unterscheidung zeitweise schon sehr schwer fiel. Vielleicht kann dieser Trend aber auch wieder umgekehrt werden, wie etwa durch Innovationen oder überraschende Kollaborationen wie sich aktuell durch das Beispiel „Komet“ von Udo Lindenberg und Apache 207 zeigt.

04) Radio ist für mich immer noch ein Trendsetter. Wir geben unseren Hörern die Möglichkeit ihre Lieblingsmusik in einem kuratierten Musikprogramm zu hören. Wie die meisten meiner Kollegen, versuche ich mit viel Leidenschaft ein perfektes Musikprogramm für unsere Hörer zu entwerfen. Dies gelingt, obwohl wir auch den Zwängen des Research unterliegen, und das ist nicht immer einfach.

Ich sehe sehr optimistisch in die Zukunft. Das Medium wird zwar nicht mehr so sein, wie ich es in den zurückliegenden 25 Jahren als Musikredakteur erlebt habe, aber es wird neue Wege gehen und immer für viele Menschen eine Heimat sein.


 

„In den USA gewinnen aktuell genau die Sender, deren USP es ist, neue Musik vorzustellen! Hier wünsche ich mir schon lange mehr Mut in der deutschen Radiolandschaft“

 

Christoph Lindemann, PULS, Musikchef

Christoph Lindemann (Bild: PULS BR / Vera Johannsen)01) Virale TikTok-Videos, Memes und der kreative Einsatz von Musik in Serien haben feste Formate regelrecht zersetzt und für ein unglaublich erfrischendes Durcheinander gesorgt. Es ist heute schwerer denn je, „junge Musik“ zu definieren. In Clubs laufen ABBA und Kate Bush völlig selbstverständlich neben Nina Chuba und Peter Fox. Dementsprechend schöpft auch unsere Musikkuration aus den unterschiedlichsten Bereichen. Die ehemalige Vormachtstellung von klassischem Deutschrap ist weiter zurückgegangen, gleichzeitig gibt es meiner Einschätzung nach aber mehr neue spannende Acts in Deutschland als je zuvor: Bei der Hype-Prognose der jungen Programme der ARD ist uns die Auswahl dieses Jahr noch schwerer als sonst gefallen – die HOTLIST für 2023 hätte auch doppelt so lang werden können!

02) Der Zeitgeist wird aktuell weniger durch das Auf- und Abschwellen klar sichtbarer Trendwellen als durch eine unbekümmerte Gleichzeitigkeit von vielerlei Einflüssen und Bezügen geprägt. Identifizierbare Mikrotrends sind vielleicht noch die etwas düstere Soundästhetik von 80ies Post-Punk und New Wave – siehe Edwin Rosen und Betterov – und die hohen bpm-Zahlen bei den jungen deutschen Pop/HipHop-Acts wie Majan, Dilla und Co.

03) Deutschsprachige Musik ist bei jungen Zielgruppen eigentlich weiterhin immens gefragt – das zeigt sich bei den Streamingdiensten und in den Clubs. Da allerdings junge Leute zunehmend weniger klassisches Radio hören, konzentrieren sich viele Sender vielleicht auf andere, ältere Zielgruppen? Ein Teufelskreis – dadurch wird Radio für junge Menschen auch unattraktiver. Ich finde es weiterhin wichtig, Angebote für junge Zielgruppen zu machen. Und die scheinen zunehmend die Aufgabe von Radio darin zu sehen, ihnen Inspiration zu geben. In den USA gewinnen aktuell genau die Sender, deren USP es ist, neue Musik vorzustellen! Hier wünsche ich mir schon lange mehr Mut in der deutschen Radiolandschaft.

04) Radio hat seinen Platz in der Geschichte, und es hat auch in meinem Leben immer eine wahnsinnig wichtige Rolle gespielt. Innovative und mutige Sender wie zum Beispiel BBC 6 Music, radioeins, FM4 und FIP zeigen, dass Radio immer noch ein grandioser und inspirierender Begleiter sein kann, der uns neue Perspektiven zeigt und unseren musikalischen Horizont erweitert. In diesem Sinne versuchen wir auch mit Musik im Content Netzwerk PULS umzugehen – im Radio, in unseren YouTube-Formaten und bei den Events.


 

„Mark Forster und Co. wurden einfach totgespielt. Der ‘Sattgehört- Faktor‘ setzt bei deutschsprachiger Musik schneller ein“

 

Verena Bartsch, RADIO & SUCCESS, Verantwortlich für Musikplanung*
*Für Sender wie Absolut Radio Bella, Absolut Oldie Classics, Absolut Relax sowie Radio Arabella, BLR oder Hashtag+.

Verena Bartsch (Bild: privat)01) Größter Verlierer: „Mainstream – Deutsch Pop“. Größte Gewinner: Latino und „freche“ deutsche Pop Musik (Peter Fox) sowie moderner, deutscher Schlager. Gewinner ebenso: Crossover Deutsch (Mischung aus Pop und Rap) sowie auch bei jüngeren Hörern Classic Rock und Modern Rock.

02) Crossover Deutsch sowie Rock wird sich sicherlich vom Trend her 2023 weiter verstärken. Spannend wird sein, wie sich Dance entwickelt. Von einem leichten Schwächeln zugunsten von Rock ist auszugehen. Ein Trend wird auch sein, Spanisch vs. Englisch gemischt in einem Song zu hören.

03) Mark Forster und Co. wurden einfach totgespielt. Der “Sattgehört-Faktor“ setzt bei deutschsprachiger Musik schneller ein. Harter Deutsch Rap wird sich im Mainstreamradio als Alternative zu Deutsch Pop nicht durchsetzen können. Deutsche Interpreten werden sich neu erfinden müssen. Wenn sich aber Apache 207 und Udo Lindenberg zusammentun, fängt das neue Jahr schon mal gut an.

04) Die Masse an Streams sowie zahlreichen DAB-Sendern mit teilweise glasklaren Formaten macht es den etablierten Sendern immer schwerer, sich in Zukunft zu behaupten. Die Herausforderung für die nächsten Jahre wird werden, neue Formate zu entwickeln, die a) die breite Masse interessieren und b) Spotify und Co möglichst unattraktiv erscheinen lassen.


Wie halte ich jüngeres Mainstreamradio attraktiv? Welche Rolle wird künstliche Intelligenz bei der Musikplanung spielen? Gibt es überhaupt noch klassische Radiosender wie wir sie bisher kennen mit klassischem Serviceangebot und so weiter? Wird die Flottenstrategie bei den großen Sendergruppen zunehmen? Was wird den Hörer wirklich interessieren? Wann wird UKW abgeschaltet? Kann ich mit einem Internetradio im Wohnzimmer als Privatperson Geld verdienen? Fragen über Fragen, aber eines ist sicher: Die Zukunft des Radios wird spannend.

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