Tanja Ötvös: Radio wird zunehmend seitens der Plattenfirmen vernachlässigt

Radio HamburgRadio Hamburg, klare No. 1 im Hörfunkmarkt der Hansestadt, durfte sich bei der letzten ma 2018 Audio II über deutliche Hörergewinne freuen. So legt man bei der Tagesreichweite (Montag bis Sonntag) gleich um 22 Prozent, sprich 122.000 Hörer zu. Chapeau! Das am Silvestertag 1986 erstmals ausgestrahlte Programm erreicht offenbar – mehr denn je – perfekt die Emotionen der Menschen in der norddeutschen Metropole, punktet treffsicher bei der täglichen Themenauswahl und hat mit John Ment eine Gallionsfigur, die über Jahrzehnte scheinbar zeitlos das Gesicht des Senders prägt.

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Und die Musik? „The Trend Is Your Friend“ heißt das Motto: urbanes Profil, hoher Wiedererkennungswert, nah am angesagten Zeitgeist der Hörer. Zuständig für diesen Mix ist Musikchefin Tanja Ötvös. Geboren in Eckernförde begann sie nach Abitur und Jurastudium ihre berufliche Laufbahn als Assistentin des Musikchefs bei Radio Schleswig-Holstein in Kiel. 1997 wechselte sie zu Radio Hamburg, seit 2001 verantwortet Ötvös als Head Of Music die Musikinhalte des Marktführers sowie des Schwesterprogramms HAMBURG ZWEI.

Tanja Ötvös (Bild: Radio Hamburg)
Tanja Ötvös (Bild: Radio Hamburg)

Im Gespräch mit RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich spricht Tanja Ötvös über angesagte Musiktrends und das Erfolgsgeheimnis des Radio Hamburg-Sounds.

RADIOSZENE: Welches sind bei Radio Hamburg die gerade angesagten Musiktrends?

Tanja Ötvös: Die Helden der Radio Hamburg-Hörer sind immer noch DJs wie Kygo, Felix Jaehn, Calvin Harris, Alle Farben & Co., also alles mehr aus der Richtung EDM. Rock hat es weiterhin schwer bei uns, genauso deutschsprachige Popmusik. Beide Gruppen haben durchaus Fans unter unseren Hörern, insgesamt polarisieren beide Musikrichtungen aber stark und finden somit nicht bei uns statt. Im Gegensatz dazu kommt Alternative Rock/Pop wie beispielsweise von Welshley Arms, Panic! At The Disco oder den Imagine Dragons immer mehr im Mainstream-Radio an. Was mich immer wieder verblüfft, ist die Liebe der Radio Hamburg-Hörer zu Latino-Rhythmen. Ein absoluter Kracher war im vergangenen Jahr zum Beispiel „Sin Pijama“ von Becky G feat. Natti Natascha, von August bis Dezember ein Dauerbrenner auf unserer Playlist. 

Felix Jaehn mit Andre Kuhnert und Tim Gafron (Bild: Radio Hamburg
Felix Jaehn mit Andre Kuhnert und Tim Gafron (Bild: Radio Hamburg

RADIOSZENE: Werden sich diese Richtungen fortsetzen oder sind bereits neue Trends in Sicht?

Tanja Ötvös: EDM wird weiter unsere Playlisten fluten. Allerdings freue ich mich, dass sich so langsam weitere Singer/Songwriter neben Ed Sheeran etablieren wie George Ezra oder vor allem auch Dean Lewis.

 

„EDM wird weiter unsere Playlisten fluten“

 

RADIOSZENE: Welche waren für Sie die Top Songs und Top Alben in 2018?

Tanja Ötvös: „Man Of The Woods“ von Justin Timberlake hat mich überrascht und begeistert, ein sehr abwechslungsreiches Album! Eigentlich bin ich kein Hörer von Livemusik aus der Konserve, aber das im Dezember erschienene Volbeat-Live Album „Let’s Boogie – Live From Telia Parken“ macht mir unheimlich Spass. Unter den Singles hat mich „Zuhause“ von Fynn Kliemann sehr begeistert, und einer meiner Lieblingssongs 2018 war auch bei den Radio Hamburg-Hörern ein absoluter Dauerbrenner: Calvin Harris & Sam Smith mit „Promises“ – für mich der Ohrwurm 2018. 

Josef Mikolas (Bild: ©Radio Hamburg)
Josef Mikolas (Bild: ©Radio Hamburg)

RADIOSZENE: Gab es einen Newcomer, bei dem Sie sagten: „Wow, der hat was, der könnte auch mehr als Eintagsfliegen-Niveau schaffen“?

Tanja Ötvös: Dean Lewis ist für mich ein Newcomer, der durchaus das Zeug zu mehr hat. Seine erste Single „Waves“ gefällt mir sogar noch besser als seine aktuelle „Be Alright“, ich hoffe da sehr auf mehr. Ganz spannend ist auch Dermot Kennedy, der mit „Power Over Me“ gerade sämtliche Playlisten erobert. Was für ein toller, intensiver Gänsehaut-Song.

RADIOSZENE: Die Song-basierten Bestenlisten bei Verkauf oder Streaming sind geprägt durch Pop, Dance/Rhythm-Pop und HipHop. Wie sehr favorisieren die Hörer von Radio Hamburg diese Genres?

Tanja Ötvös: Pop und Dance/Rhythm-Pop entsprechen genau der Mitte unseres Formates, allerdings findet HipHop außerhalb unserer Chart-Show so gut wie gar nicht statt. Diese Musikrichtung polarisiert stark und Fans dieses Genres sind vor allem unter den sehr jungen Hörern zu finden, die über 25-Jährigen sind damit nicht zu begeistern.

RADIOSZENE: Verfestigt sich der Eindruck, dass die Ergebnisse der Hörer-Votings und die Verkaufslisten in manchen Teilen immer weiter auseinanderdriften?

Tanja Ötvös: Zumindest im Bereich des deutschsprachigen Raps gibt es so gut wie keinerlei Übereinstimmung mit dem Geschmack unserer Hörer – wofür ich unsere Hörer auch noch mal extra liebe ☺ Im Pop- und Pop/Dance -Bereich dagegen ist oftmals eine Deckungsgleichheit festzustellen.

Andre Kuhnert und Tim Gafron (Bild: Radio Hamburg)
Andre Kuhnert und Tim Gafron (Bild: Radio Hamburg)

RADIOSZENE: Auf welche Schwerpunkte konzentriert sich derzeit die Musikausrichtung bei Radio Hamburg und HAMBURG ZWEI?

Tanja Ötvös: Der Geschmack unserer Hörer verlangt weiter nach DJs, die sich unter das Produzentenvolk gemischt haben. Bis jetzt ist einfach kein Abriss dieses Trends zu entdecken und so werden wir auch weiterhin den Wunsch unserer Hörer nach mainstreamigen Dance-Sounds erfüllen. 

Bei HAMBURG ZWEI finden die Hits der 1980er-Jahre immer noch großen Zuspruch und bilden den absoluten Schwerpunkt in der Musikprogrammgestaltung. Flankiert werden diese 80er von einigen Titeln aus den Bereichen der 70er und 90er – aber auch ein paar Hits der 2000er „würzen“ die Abwechslung bei HAMBURG ZWEI. 

RADIOSZENE: Die Hits der 1980er-Jahre stellen also so etwas wie das tragende Gerüst bei HAMBURG ZWEI. Haben die Songs aus dieser Dekade für die Hörer noch immer eine solch überragende Strahlkraft? Schließlich setzen ja auch Ihre Mitbewerber 80s80s und NDR 90,3 auf die Musik aus dieser Zeit …

Tanja Ötvös: Aus unseren Tests wissen wir, dass die Begeisterung für Popsongs der 80er Jahre ungebrochen ist. Ich habe immer einen unheimlichen Spass daran, die Musiktests für HAMBURG ZWEI auszuwerten, weil das Gros dieser Songs einfach mit einer hohen Leidenschaft und einer entsprechenden Bewertung verknüpft ist. Darüber hinaus bieten wir den Hörern ja auch Songs aus anderen Dekaden, die aber nur Eingang ins Programm finden, wenn sie sich Top-Bewertungen erarbeitet haben. So entsteht eine tolle Mischung, die die Abwechslung von HAMBURG ZWEI spiegelt.

 

„Pop und Dance/Rhythm-Pop entsprechen genau der Mitte unseres Formates“

 

RADIOSZENE: Wie bewerten Sie das generelle Angebot am Musikmarkt? Zumindest quantitativ, so ist zu hören, soll es noch nie so viel neue Musik wie heute gegeben haben…

Tanja Ötvös: Na ja, nach drei Wochen Urlaub finde ich schon mal 600 neue, noch nicht gehörte Songs auf der Bemusterungsplattform MPN. Quantitativ also schon mal eine Riesenmenge, qualitativ leider meist nicht überzeugend. Gern wird ein aktuell gut laufender Musikstil bis zum „geht-nicht-mehr“ kopiert und dies leider meist schlecht. Aber auch bei den Major Labels frage ich mich manchmal, ob man bei den Veröffentlichungen nicht etwas mehr selektieren könnte. 

RADIOSZENE: Hat sich Ihre Arbeit in der Musikredaktion in den letzten Jahren verändert? Ist sie unter anderem durch die kürzere Haltbarkeit der Veröffentlichungen schwerer geworden?

Tanja Ötvös: Titel im aktuellen Bereich zu finden, die unseren Hörern gefallen könnten, ist meistens keine Schwierigkeit. Allerdings ebbt die Begeisterung unserer Hörer für etwas älteres Material – also Titel, die nicht mehr ganz aktuell sind – schlagartig ab. Das macht es uns mitunter ein wenig schwierig, noch passende Songs aus den 2000er-  und 2010er-Jahren zu finden, die kompatibel mit dem aktuellen Musik-Material sind. 

RADIOSZENE: In den Charts ist deutschsprachiger Musik so erfolgreich wie nie, in den Programmen von Radio Hamburg und HAMBURG ZWEI finden sich praktisch keine deutschen Titel. Mögen Ihre Hörer keine Musik in deutscher Sprache?

Tanja Ötvös: Wie wir aus unserer aktuellen Studie wissen spaltet deutschsprachige Popmusik unsere Hörerschaft, einige deutsche Titel erfreuen sich bei einem Teil allerhöchster Beliebtheit, unter der Gesamthörerschaft polarisieren sie jedoch leider und sind somit für uns außerhalb der Chart- und Hörerwunschsendung nicht spielbar. Das Genre des deutschsprachigen Gangsta-Raps kriegt bei unseren Hörern überhaupt keinen Fuß in die Tür.

RADIOSZENE: Wie bewerten Sie die Situation von Rock? Viele landesweite Stationen überlassen das Genre heute komplett Spartensendern wie ROCK ANTENNE

Tanja Ötvös: Auch die Radio Hamburg-Hörer haben im Moment so gar kein Herz für Rock, so dass wir dieses Musikgenre auch nicht bedienen können und wollen.

RADIOSZENE: Vor rund zwei Jahren hatte Radio Hamburg ein ganzes Bündel sehr kreativ gemachter Streams als Beiboote im Internet. Deren Zahl ist deutlich geschrumpft, eigentlich gegen den Trend, da die Zahl der Online-Submarken der deutschen Privatradios auch in 2018 erneut markant gestiegen ist. Gibt es für die reduzierte Zahl der Angebote bei Radio Hamburg Gründe?

Tanja Ötvös (Bild: Radio Hamburg)
Tanja Ötvös (Bild: Radio Hamburg)

Tanja Ötvös: Wir haben viel ausprobiert und dabei Erfahrungen gesammelt. Gerade aufgrund der großen Anzahl von Streams im Internet sind wir dazu übergangen, unsere Angebote nur noch moderiert anzubieten, um den Hörern einen Mehrwert anzubieten. So bekommen unsere Hörer in unserem Neuheiten-Stream gleich Infos zu den laufenden Titeln und auch die Radio Hamburg-Charts bieten einen absoluten Mehrwert, on air spielen wir die Titel 1 bis 20, im Stream gibt es aber eine komplett moderierte Top 40.

 

„Wir sind dazu übergangen, unsere Streams im Internet nur noch moderiert anzubieten, um den Hörern einen Mehrwert anzubieten“

 

RADIOSZENE: Wie sehr hat das Auftauchen von Streamingdiensten wie Spotify Ihre Arbeit verändert?

Tanja Ötvös: Leider wird das Radio zunehmend seitens der Plattenfirmen vernachlässigt, vor allem im Rahmen der Airdates. Das ist mitunter sehr ärgerlich, weil eine entsprechende Information seitens der Label nicht erfolgt. Auch haben wir Songs oftmals erst im Laufe des Tages zur Verfügung, die bei Spotify schon seit 0.00 Uhr laufen. Dies wiederum ist auch seitens der Labels nicht so schlau, hätten doch die Topacts bei rechtzeitiger Lieferung auch eine fette Vorstellung zur Primetime. So versanden neue Titel dann zunächst manchmal auch eher am Nachmittag.  

 

Michael Schmich