Die wöchentlichen Hörer-Hitparaden, einst ein beständiger Reichweitenbringer im Programm jeder Radiostation, sind fast schon Geschichte. Ihre heutige Zahl hat sich auf rund ein Drittel des früheren Bestandes verringert. Gründe sind die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Musik sowie ein generell schwindendes Interesse an dieser Form von Musikvotings. Im Trend liegen dagegen Marathon-Hitparaden mit Event-Charakter – wie die jährlich stattfindenden “SWR 1 Hitparaden“ oder der “Oster-Mega-Hit-Marathon“ von Radio Hamburg.
Hörer-Hitparaden waren über Jahrzehnte ein unverzichtbares Modell im Radio. Ein Muss auf den Programmplänen jedes Senders – und ein von der Hörerschaft mit Spannung erwarteter Jour fixe. Die neue Nummer eins brachte Gesprächsstoff und reichliche Kaufanreize, nicht wenige dokumentierten jede Ausgabe akribisch mit ihren Kassenrekordern. Man wusste ja was hier gespielt wurde und beschwerte sich energisch beim Sender, wenn wieder einmal über die Intros der Songs moderiert wurde. Die Sendungen waren aber auch ein beliebtes Karrieresprungbrett für viele Moderatoren, deren Namen eng mit ihren Hitparaden verknüpft waren: “WDR Schlagerrallye“ mit Wolfgang Neumann, “Mal Sondocks Hitparade“ (WDR), die “Hitparade International“ (HR) mit Werner Reinke oder die “Schlager der Woche“ mit Thomas Brennicke. Die Präsentatoren hatten bald selbst den Status von Popstars und mitunter einen höheren Stellenwert als die Künstler, deren Musiktitel sie ansagten.
Das Bohei um die Musikabstimmungen nahm ab den 1970er-Jahren eine bis dato ungekannte Fahrt auf: so stöhnten die Postboten und Sekretärinnen im Sendezentrum der Villa Louvigny von Radio Luxemburg über täglich eintreffende Waschkörbe an Postkartenzusendungen, mit den die Hörer damals für ihre Favoriten abstimmten. Die gestressten Damen benötigen Tage – TED war noch nicht erfunden – zur händischen Auszählung der wöchentlichen Platzierungen. Gleichzeitig musste weiteres Personal in Form von Schriftsachverständigen aktiviert werden, um fingierte Postkarten aus dem Verkehr zu ziehen. Die Musikfirmen und findige Künstler-Managements hatten schon bald den Promotionwert der Radio-Hitparaden erkannt und versuchten über massenhafte Zusendungen via Fanclubs die Rangfolgen nachhaltig zu beeinflussen. Die Medien berichteten damals regelmäßig über Ungereimtheiten bei der Ermittlung verschiedener Radio-Charts.
Über die ersten Hitparaden im deutschen Radio und deren Modus gibt es nur wenige tatsächlich verbürgte Anhaltspunkte. Nach Angaben des Deutschen Rundfunkarchivs finden sich zu den frühen Nachkriegsjahren folgende Einträge:
- ca. 1946: „Schlager der Woche„, RIAS
- 1957: „Musikautomat„, NDR
- 6.4.1958: Radio Luxemburg (RTL) strahlt eine der ersten Hitparaden im deutschsprachigen Raum aus.
Ab Mitte der 1960er-Jahre beschleunigten sich die Gründungen weiterer Hörer-Charts:
- 26.11.1966: “Die Deutsche Schlagerparade“ mit Dieter Thomas Heck, SR
- ca. 1967: “Hey Music“ und „S-F-Beat„, Sender Freies Berlin
- ca. Ende 1960er: „Schlager der Woche„, BR
- Ende 1968: “Stars und Hits“, SWF 1
- 1.1.1970: “Pop Shop Hitparade“, SWF
Mit Start zahlreicher neuer ARD-Jugendformate und Servicewellen ab Anfang der 1970er-Jahre folgte die Einführung einer wahren Flut weiterer Hörer-Hitparaden.
Das Internet läutete jedoch spätestens ab Ende der 90er Jahre mit dem unbegrenzten Zugriff auf frei verfügbare Musik den Niedergang der Radio-Hitparaden ein. Warum sich an der Wertung beteiligen und auf Platzierungen warten, wenn ich für meinen Musikfavoriten via Tauschbörse, Download oder Streaming ohnehin gezielten und kostenlosen Online-Zugriff habe? Die Ursprungsidee hat sich überholt, die Masse der Hörer hat mangels emotionaler Bindung an Songs und Künstler, aber auch an den einen oder anderen Sender, schlicht das Interesse an den neuesten Ergebnissen einer Hörer-Hitparade verloren. Ein Programmchef: „Wir haben alles versucht die Hörer zur Teilnahme zu motivieren: CD-Verlosungen, Star-Treffs, Ausloben von Konzertkarten. Ohne Erfolg, die Zahl der Beteiligung reicht für ein repräsentatives Ergebnis nicht mehr aus. Und … bezahlen wollten wir die Hörer nicht, also haben wir die Sendung eingestellt. Schade, wir verlieren damit leider aber auch einen bisher verlässlichen Gradmesser für unsere Musikjustierung“.
Kein Einzelfall: Gäbe es beim Hörfunk eine „Rote Liste bedrohter Programmarten“ stünden Hörer-Hitparaden weit oben – wie viele andere Musikspezialsendungen. Ihre Zahl hat sich zuletzt weiter verringert. Namentlich die masse-attraktiven Landessender verzichten inzwischen nahezu komplett auf einschlägige Angebote. Einige landesweite Privatstationen senden zwar noch Hitparaden, meist sind dies aber regionale Bestenlisten aus Verkauf, Streaming oder Airplay.
Einer der ganz wenigen noch verbliebenen Hörer-Charts unter privater Flagge wird beim baden-württembergischen Regionalsender Radio 7 mit den wöchentlichen “Top 20“ verbreitet. Musikchef und stellvertretender Programmleiter Matthias Ihring: „Als Musiksender gehört eine Hörerhitparade natürlich ins Radio 7 Programm. Neben der beliebten zwei-Stunden-Sendung, gibt es für mich auch einen weiteren wichtigen Punkt: Für die Entscheidung, bei Neuheiten in der Rotation sind die Daten neben der Marktforschung mit eine Hilfe!“.
Etwas mehr an Auswahl hat die ARD zu bieten, obwohl auch hier in den letzten Jahren zahlreiche Programme ihre Hitparaden mangels Hörerinteresse ersatzlos abgesetzt haben.
RADIOSZENE fragte bei den öffentlich-rechtlichen Programmen nach den noch verblieben Hörer-Hitparaden:
Hessischer Rundfunk
Beim HR gibt es innerhalb der Breitenwellen HR 3 und YOUFM keine Hörer-Hitparade.
Einziges Angebot bleibt die „hr4-Hitparade„, jeden Sonntag von 17.00 bis 20.00 Uhr. Hier gilt: „Deine Schlager, Deine Wahl“. Hörer können sich Online, per Postkarte oder während der Sendung per Telefon beteiligen.
Westdeutscher Rundfunk
Der WDR KinderRadioKanal sendet jeden Freitag um 17.00 Uhr im Digitalprogramm (ganzjährig) die “KiRaKa Charts“. Hier dürfen die Hörer darüber abstimmen, wer die ersten Plätze belegt und wer rausfliegt. Aktuell vergibt KiRaKa pro Sendung die Plätze eins bis fünf und stellt jeweils zwei Titel neu vor. Musikalisch sind die Charts eine Mischung aus Pop, Kindermusik, Global Pop und Rock. Zur Abstimmung nutzt KiRaKa ein Voting-Tool, das die Hörer über die Internetseite erreichen. Sie können aber auch anrufen, eine Mail schicken, ins Gästebuch schreiben oder per Brief/Postkarte abstimmen. Egal über welchen Weg – jede Stimme kommt in den Los-Topf und jede Woche gewinnen fünf Kinder eine CD des Künstlers, der es auf den ersten Platz geschafft hat. Die Charts sind allerdings keiner festen Person zugeordnet. Jeder Moderator/jede Moderatorin aus unserem KiRaKa-Team moderiert diese Sendungen.
Weitere regelmäßige Hörer-Hitparaden gibt es im WDR derzeit nicht.
In den Breitenprogrammen WDR 2 und 1LIVE gibt es nur unregelmäßige Votings, die anlassbezogen sind – zum Beispiel zu Geburtstagen von Stars oder Jubiläen.
WDR 4 sendet in der Karnevalszeit (Anfang Januar bis Karneval) das “WDR 4 Jeck Duell“. Eine Hörer-Hitparade, in der Hörerinnen und Hörer per TED und Internetvoting über aktuelle Karnevalstitel abstimmen.
44 neue und närrische Lieder kämpfen um den Titel „Beliebtester Karnevalshit der Session“. In den ersten vier Folgen des „WDR 4 Jeck Duells“ stellt Moderator Reinhard Kröhnert jeweils elf neue Lieder vor. Eine Fachjury und die Hörerinnen und Hörer bestimmen pro Sendung jeweils sechs Hits, die sich für das Halbfinale qualifizieren. Dort entscheidet sich dann, welche Lieder das große Finale erreichen.
Rundfunk Berlin-Brandenburg
Fritz und Radioeins haben momentan keine Hörerhitparaden.
Bei radioBerlin 88,8 gibt es unverändert – seit mittlerweile über 50 Jahren – die legendäre Chartsendung „Hey Music!„, immer sonntags ab 17.00 Uhr mit Anke Friedrich.
Antenne Brandenburg sendet aktuell immer freitags von 21.00 bis 22.00 Uhr die „Schlagerhitparade“ mit Karsten Minnich.
Mitteldeutscher Rundfunk
Bodo Gießner moderiert bei MDR SACHSEN – Das Sachsenradio immer donnerstags von 20.00 bis 23.00 Uhr “Die Deutsche Hitparade“.
Bei MDR SPUTNIK gibt es immer samstags um 19.00 Uhr die “SPUTNIK App Charts“. Die dort gesendeten Top 20 speisen sich aus den Votes, die die User der MDR SPUTNIK Smartphone-App in der Vorwoche getätigt haben.
Das digitale Radioprogramm MDR SCHLAGERWELT übernimmt seit 21. Oktober 2017 die “Deutsche Schlagerparade“ von BAYERN PLUS und wiederholt diese immer samstags ab 18.05 Uhr im eigenen Programm: Moderator Harry Blaha begrüßt Schlagerstars im Studio, stellt Neuerscheinungen vor und präsentiert die per Online-Abstimmung gewählten zehn beliebtesten Schlager der Woche.
Saarländischer Rundfunk
Beim SR ist dies noch für zwei Wellen ein Thema, allerdings senden sowohl SR 1 als auch UNSERDING keine Hörer-Hitparaden im traditionellen Sinn mehr. Stattdessen bieten beide Wellen die Möglichkeit, über die Like-Funktion der Programm-Apps das aktuell laufende Musikprogramm zu bewerten. UNSERDING bietet zusätzlich noch eine Voting-Möglichkeit im Online-Angebot.
SR 1 bildet das Ergebnis einmal wöchentlich online und on Air ab (dienstags von 21.00 Uhr bis 22.00 Uhr im Rahmen der Sendung “Absolut Musik“, wo der “Like-O-Mat“ thematisiert wird). UNSERDING stellt den jeweils aktuellen Stand der “Like-Charts“ dynamisch im Programm dar, so dass die Like-Charts – je nach Interaktion – ständig variieren.
Norddeutscher Rundfunk
Beim NDR gibt es innerhalb der Breiten- und Regionalwellen noch eine Hörer-Hitparade:
NDR 1 Niedersachsen – “Top 15 – Die Hitparade“, jeden Montag um 20.00 Uhr. Präsentiert werden 15 Platzierungen der Vorwoche und drei Neuvorstellungen, die Abstimmung erfolgt durch die Hörer via Telefon-TED oder Internet.
Südwestrundfunk
Auch beim SWR gibt es innerhalb der Breiten- und Regionalwellen nur noch eine Hörer-Hitparade: SWR 4 – “Volkstümliche Hitparade“, jeden Donnerstag um 21.05 Uhr. Abstimmung per Telefon.
Weiter gibt es beim SWR gibt es jährliche Hitparaden in SWR1 Baden-Württemberg und SWR1 Rheinland-Pfalz. Abgestimmt werden kann online. Dabei kann jeder Abstimmer bis zu fünf Titel auf seinem (Online-)Stimmzettel eintragen. Hierbei werden extrem hohe Abstimmungsergebnisse erreicht.
Bayerischer Rundfunk
Auf BAYERN 1 und BAYERN 3 gibt es keine Hörer-Hitparaden.
Auch der “Zündfunk“ auf Bayern 2 strahlt keine Hörerhitparade aus, sondern Redaktionscharts unter dem Namen “Zündfunk Top Traxx“.
BAYERN plus sendet wöchentlich “Die Deutsche Schlagerparade“ und seit drei Jahren einmal im Jahr “Bayern Plus – Schlager des Jahres“, bei der aus 20 von der Redaktion vorgegeben Titeln die Hörer per online Voting abstimmen können.
Einmal wöchentlich haben die Hörerinnen und -Hörer bei Bayern plus die Möglichkeit aus 15 Titeln ihren Favoriten zu wählen. Die Top Ten, für die die meisten Fanstimmen abgegeben wurden, werden jeden Freitagabend in der Sendung “Die Deutsche Schlagerparade“ zwischen 19.00 und 21.00 Uhr vorgestellt. Die Sendung wird am darauffolgenden Samstag zwischen 12.00 und 14.00 Uhr auf Bayern plus und zwischen 18.00 und 20.00 Uhr auf MDR Schlagerwelt wiederholt.
Die Abstimmung ist sowohl für “Die Deutsche Schlagerparade“ als auch für den „Bayern plus Schlager des Jahres“ online möglich.
BR Heimat hat keine Hörer-Hitparaden.
Deutschlandfunk und Radio Bremen vermelden, dass sie innerhalb ihrer Hörfunkprogramme keine Hitparaden mit Hörerbeteiligung im Angebot haben.
So ganz ausgedient haben die Hörer-Garanten früherer Tage allerdings noch nicht, wenn auch nicht im bisher bekannten Format. Im Trend liegen bereits seit geraumer Zeit Motto-Hitparaden im XXL-Format mit Event-Charakter. Wie etwa der bereits seit 1989 von Radio Hamburg veranstaltete “Oster-Mega-Hit-Marathon“, bei dem die Hörer über ihre favorisierten Lieder abstimmen.
Die Idee geht zurück auf die damaligen Volontäre Marzel Becker (heute Programmchef des Senders) und Stephan Heller, die seinerzeit dem Hamburger Hafen zu dessen runden 800. Geburtstag ein Geschenk machen wollten und beschlossen, für jedes Jahr seit Bestehen des Hafens einen Titel zu spielen. Da drei Tage notwendig sind, um alle Titel zu senden, findet das Ereignis jedes Jahr von Karsamstag bis einschließlich Ostermontag statt. Das Finale mit den 20 meist gewünschten Liedern wird jährlich am Senderstardort in der feinen Mönckebergstraße vor zahlreichem Publikum mit einer rauschenden Party gefeiert. Eine Programmidee mit Initialzündung: auch in diesem Jahr waren zu Ostern und Pfingsten bei diversen anderen Stationen in Deutschland ähnliche Marathon-Hitparaden zu beobachten.
Eine vergleichbare Veranstaltung gibt es seit 2001 bei SWR1 Baden-Württemberg, wo jährlich im Herbst eine sich über eine Woche hinziehende Hitparade mit Wahl der „beliebtesten Titel aller Zeiten“ unter verschiedenen Aspekten (wie Regionen, Geschlecht, Interpreten) eine sehr hohe Hörerresonanz erreicht (vgl. SWR1 Top 1000). Zeitlich etwas vorgezogen ist dieses Konzept auch beim Schwesterprogramm SWR1 Rheinland-Pfalz zu hören.
Für die Sender sind diese Charts inzwischen extrem wichtige Leuchttürme in ihren Jahresplanungen, wofür sie cross-medial alle verfügbaren Kanäle einspannen – wie beispielsweise begleitende Übertragungen im SWR Fernsehen.
Die Hörer beteiligen sich intensiv an diesen Jahres-Hitparaden, fiebern während des Countdowns sichtlich mit und genießen den Event-Charakter der Aktionen. Da nehmen die Sender auch in Kauf, dass sie vom Hörervolk für die Platzierungen eine große Zahl an Titeln diktiert bekommen, die man sonst auf ihren Playlisten vergeblich findet.
Besonders hart trifft es da Radio Hamburg, wo deutschsprachige Musik oder gar Schlager kaum ein Thema sind. Der basisdemokratische Hörerwille beim “Oster-Mega-Hit-Marathon“ zeigt sich hier aber sehr facettenreich bis eigenwillig und bestimmt innerhalb der Rangfolge reichlich ungewohnte Töne wie “Und es war Sommer“ von Peter Maffay, “Ti Amo“ von Howard Carpendale, “An der Nordseeküste“ von Klaus und Klaus oder “Atemlos durch die Nacht“ von Helene Fischer. Ein Votum, das alle Beteiligten der guten Stimmung wegen mit einem zwinkerndem Auge und in sportlicher Demut annehmen.