In einer weiteren Folge über die „heimlichen Radiohelden“ wollen wir heute erneut einen Musikchef aus der baden-württembergischen Radiolandschaft vorstellen.
Traumjob Musikredakteur. Auch wenn sich die Arbeitsweise des Berufstandes mit den Jahren doch sehr verändert hat, wenn die Musikdemoskopie einen gewichtigeren Teil der Tätigkeit einnimmt und der direkte Kontakt zu Musikern und Musikwirtschaft (zumindest teilweise) in den Hintergrund tritt – alle von RADIOSZENE befragten Musikchefs deutscher Hörfunksender üben den Job nach eigenem Bekunden übereinstimmend auch heute noch mit ungebrochener Freude und hoher Motivation aus. Und dabei stehen die von ihnen verantworteten Musikabläufe – als wichtigstes Element eines Radioprogramms – unter besonderer Beobachtung und ständigem Erfolgsdruck.
Musikredaktion, ein Handwerk, das nicht als klassischer Ausbildungszweig über die IHK erlernt werden kann – und viel mit Gespür und Erfahrung zu tun hat. Wohl auch ein Grund, warum die seinerzeit (konkurrenzlosen) öffentlich-rechtlichen Sender ihre Musikverantwortlichen der ersten Stunde aus Musikerkreisen rekrutierten. Mit dem Aufkommen der Pop- und Jugendwellen ab den 1970er Jahren erhielten auch fachkundige Bewerber aus der Musikindustrie oder Discjockeys die Chance sich als Musikredakteur zu verwirklichen. Die über 20 Jahre unumstrittene „Goldene Hitnase“ einer sehr erfolgreichen ARD-Anstalt war zuvor Bote und Tankwart, ein weiterer Seiteneinsteiger startete unmittelbar nach seiner Bademeistertätigkeit beim gleichen Sender eine erfolgreiche Karriere als profunder Musikprogrammgestalter und Moderator. Repertoirewissen und das berühmte Bauchgefühl für die „richtige Musik“ waren damals eben sehr gefragt, im Zweifelsfall mehr als Notenkenntnisse. Mit dem Einzug des Formatradios veränderten sich die Einstiegshürden und das Berufsbild des Musikredakteurs grundlegend.
SWR3-Programmchef Thomas Jung: „Der Musikchef muss die richtige Mischung aus Bauchgefühl und Strategie haben, um die Hits nicht nur zu erkennen, sondern sie auch richtig und zum perfekten Zeitpunkt zu platzieren. Daran wird sich nichts ändern. Die Anforderungen hingegen sind völlig andere geworden: der Wettbewerb hat sich linear und digital verschärft, Webradios sind entstanden, Webchannels entstehen wie Sand am Meer. Vor allem durch die größer werdende Bedeutung der Streamingdienste ist das Portfolio noch größer geworden, das es im Blick zu halten gilt. Produkte und Angebote ‚drehen‘ sich auch viel schneller. Wie wichtig ‚Radio‘ und sein Know How aber selbst für Streamingdienste ist, kann man daran sehen, dass diese kuratierte Playlisten anbieten, die heute häufig von Kollegen erstellt werden, die zuvor erfolgreich als Musikchefs bei Radiostationen beschäftigt waren.
Streamingdienste, YouTube, Download-Charts etc. stellen natürlich auch eine weitere Recherchemöglichkeit dar, beispielsweise für coming hits. Welcher Titel funktioniert bei welcher Zielgruppe im Moment besonders gut? Was wird besonders häufig angehört? Welcher Künstler wird zwar angeschoben, funktioniert aber gar nicht. Oder bei welchem Künstler setzen die Labels erst auf einen Aufbau im digitalen Bereich, bevor er klassisch ins MPN gestellt wird? Der Informationspool, aus dem ein Musikchef schöpfen kann, ist viel umfangreicher geworden. Callouts oder Airplay-Charts sind längst nur zwei Facetten. Die Entscheidungsprozesse wurden daher viel komplexer.
Der Vorteil der Radiomacher liegt darin, dass sie neue Hits schneller in den Mainstream bringen können, weil die Hits moderiert werden und die Radios immer noch die große Masse der nicht ausgesprochen musikaffinen Menschen schneller erreichen kann, als es die Streamingdienste tun. Und hier liegt nach wie vor die Aufgabe von Musikchefs – neben den Musikevents, dem Musikjournalismus, der sich auch fortentwickelt hat. Und neben den Drittplattformen, die es mit musikalischen Themen und ausgefallenem Bewegtbild von Künstlerbesuchen zu bespielen gilt. Um im Mainstream, im Wettbewerb und der digitalen Überflusswelt aufzufallen, muss der Musikchef von heute linear und digital für Überraschungen sorgen!“.
Armin Braun, Programmdirektor 94,3 rs2 ergänzt: „Die Anforderungen an einen Musikredakteur bzw. Musikchef haben sich in den letzten Jahren schon deutlich verändert. Radio ist mehr als ein Genrekanal – mehr als eine Playlist! Deshalb müssen unsere Musikexperten nicht nur ein gutes Verständnis für das Format und die Zielgruppe entwickeln, sondern auch ein detailliertes Gespür für Musik und Unterhaltung haben. Zahlen und Marktforschung sind wichtig als Basics für die Algorithmen der Musikprogrammierung. Das nutzen auch Streaming-Dienste. Der wesentliche Unterschied ist aber das Verständnis dafür, dass Musik nicht alleine trägt, sondern Teil eines Sendergesamtkonzeptes ist. Hier wird Musik zum Entertainmentfaktor in allen Formaten. Das muss nicht nur verstanden, sondern sensibel und intelligent umgesetzt werden.“
Bernd Hoffmann, unser heutiger „heimlicher Radioheld“, vereint alle wichtigen Attribute als erfolgreicher Musikprogrammgestalter: praktische Musikerfahrung, umfangreiches Repertoirewissen und jahrzehntelanges Know-how im Radiobetrieb. Der Musikchef von Radio Regenbogen und Regenbogen2 war vor der Karriere beim Hörfunk als Profimusiker unterwegs, unter anderem in den 1980er Jahren im Duo mit dem Gitarristen Adax Dörsam, in den 1990ern in der Tour Band von Pe Werner. Bis heute ist Hoffmann – wenn es die Zeit zulässt – neben dem Radioberuf als Gitarrist und Sänger auf der Bühne mit eigener Band oder im Studio aktiv, wie unlängst bei der Produktion für den Soundtrack zu einen Münsteraner ARD „Tatort“.
RADIOSZENE-Redakteur Michael Schmich befragte den Radio Regenbogen-Musikchef zu Karriere und Arbeit.
RADIOSZENE: Wie kamen Sie zum Radio?
Bernd Hoffmann: Ich kam im Oktober 1989 als Quereinsteiger zum Radio. Als freier Mitarbeiter in der Musikredaktion von Radio7 T.O.N. in Bad Mergentheim. Ich wollte damals als frischgebackener Familienvater beruflich „sesshaft“ werden und lieber am Schreibtisch arbeiten als ständig als Musiker unterwegs zu sein.
RADIOSZENE: Welche Tätigkeitsfelder umfasst ihr Aufgabengebiet
Bernd Hoffmann: Ich verantworte die Musik von Radio Regenbogen, Regenbogen2 und derzeit 18 Online Musik-Channels. Gemeinsam mit den Musikredakteuren Claus Peter Rückert und Jakob Marculewicz wähle ich aus dem Angebot der Musikindustrie Songs für die einzelnen Formate aus und wir erstellen die täglichen Sendepläne. Die Organisation, Überwachung und Optimierung der Musikplanung gehört zu meinen Hauptaufgaben. Dazu kommt die Bereitstellung von Musik-Content für die Moderatoren, Kontaktpflege zu Labels, zu den Künstlern, und zu deren Einbindung in unsere On- und Off-Air Auftritte. Und – über die klassische Playlist hinaus – die Abstimmung des Station-Sounds in den Produktionselementen.
RADIOSZENE: Welche Bedeutung haben die Musik und Musikspezialsendungen bei Radio Regenbogen?
Bernd Hoffmann: Die Musik ist nach wie vor der wichtigste Ein- oder Abschaltgrund überall im Radio, von speziellen Nachrichten- oder Talk-Formaten mal abgesehen. Für Regenbogen als ein modernes Musikradio ist es wichtig, mit den Musik-Channels als Ergänzung und Diversifizierung unserer UKW- und Online-Programme, auf vielen Ausspielwegen ein attraktives Angebot zu präsentieren.
RADIOSZENE: Kritiker werfen mitunter ein, dass in Zeiten des Formatradios die Musikredaktionen nur noch wenig Einflussmöglichkeiten auf die Musikabläufe haben. Welchen Einfluss haben Sie bei Radio Regenbogen?
Bernd Hoffmann: Da kursieren bisweilen recht abenteuerliche Theorien. Fakt ist, dass mit dem Musikresearch die Hörer Einfluss bekommen haben. Darin kann ich erstmal nichts Negatives erkennen. Ansonsten gibt es keine fremden Mächte, die im ‚Formatradio‘ die Abläufe der Musikredaktionen beherrschen. Bei Radio Regenbogen habe ich als Musikchef allen Einfluss und das letzte Wort, was gesendet wird und was nicht.
RADIOSZENE: Welche Musik ist derzeit besonders angesagt und gibt es bereits einen Trend von Morgen?
Bernd Hoffmann: Im modernen Erwachsenen-Radio hält sich weiterhin die Beliebtheit von tanzbarer Rhythmic-Pop- Musik von DJs wie Felix Jaehn, Robin Schulz &Co. Es gibt daneben viel Abwechslung, mit „Human“ von Rag’N’Bone Man oder „Sound Of Silence“ von Disturbed auch immer wieder mal kantige Songs, die sich durchsetzen. Ed Sheeran bringt gleich zwei Songs gleichzeitig an die Spitze der Charts. Und mit neuen Stimmen wie Max Giesinger oder Wincent Weiss sind deutschsprachige Songs gerade wieder wachsend populär. Einen Trend in eine Richtung sehe eher nicht. Bleibt alles anders.
RADIOSZENE: In welcher Form arbeiten Sie mit der Musikwirtschaft zusammen?
Bernd Hoffmann: Radio Regenbogen bezieht die Musik wie alle Radios hauptsächlich über das Music Promotion Network (MPN). Wir haben sehr gute, oft lange Jahre bestehende Kontakte zu den drei verbliebenen Major Labels und zu zahlreichen kleineren Firmen und Agenturen. Trotz zum Teil unterschiedlicher Interessenslage gibt es eine gewachsene Partnerschaft zwischen der Musikindustrie, den Künstlern und unserem Sender.
RADIOSZENE: Wie sehr haben sich Radio- und Musiklandschaft über die Jahre verändert?
Bernd Hoffmann: Wie überall hat die Digitalisierung technisch alles verändert. Heute kann jeder mit einem Handy Musik aufnehmen und sie dann im Internet hörbar machen. Aber die entstandene „Vielfalt“ ist trügerisch: trotz einem scheinbar unendlichen Angebot an Tönen im Internet gibt es auch nicht mehr Qualität als früher. Ausnahmemusiker gibt es nicht wie Sand am Meer, sie müssen von Labelprofis entdeckt und gefördert werden, und kein noch so personalisiertes Streaming-Angebot ersetzt ein professionelles Radioprogramm.
RADIOSZENE: Zuletzt hatte man den Eindruck, dass sich in den Single-Charts immer mehr Künstler bewegen, die bis vor kurzem völlig unbekannt waren und oft nur eine kurze „Haltbarkeit“ haben. Täuscht dieser Eindruck und haben es die „großen Namen“ immer schwerer erfolgreich zu sein?
Bernd Hoffmann: Wenn heute der Verkauf von ein paar tausend Downloads oder CDs für einen Top-Ten Entry ausreicht, dann kann es eine entsprechende Fan-Comunity schon mal schaffen, den Ghetto Rapper aus Marzahn oder das Alpental-Duo für eine Woche kurzfristig ins Rampenlicht der Charts zu kaufen. Der Erfolg der „großen Namen“ zeigt sich aber nicht (mehr) im Ranking der Single-Charts, sondern in den Ticket-Verkaufszahlen – siehe gerade U2 oder Ed Sheeran.
RADIOSZENE: Welche Bedeutung haben die Top 100 generell für Sie. Hat deren Bedeutung nachgelassen?
Bernd Hoffmann: Die absoluten Verkaufszahlen in den Top 100 sind, heruntergerechnet auf die Radiohörer in einem Bundesland, als Maßstab ungeeignet. Interessanter sind hier die Airplay Charts. Kriterium für die Musikauswahl ist die Summe von vielen Quellen: einer Vielzahl unterschiedlicher Chart-Auswertungen, Marktbeobachtung, Research und vor allem: langjährige Erfahrung und Bauchgefühl.
RADIOSZENE: Welche Bedeutung haben Newcomer und Neuheiten für das Programm?
Bernd Hoffmann: Den „Erstkontakt“ mit neuen Songs und neuen Interpreten haben – allen Streaming Angeboten zum Trotz – die meisten Menschen immer noch durch das Radio! Auch wenn die Beliebtheit von Songs im Radio mit deren Bekanntheit erfahrungsgemäß wächst, ist die Präsentation von Neuheiten für die Entwicklung des Programms unerlässlich. Bei Radio Regenbogen gibt es darüber hinaus seit etwa einem Jahr die Plattform „Musik von hier“ für regionale Newcomer, die sowohl von den Musikern als auch von den Hörern begeistert aufgenommen wird.
RADIOSZENE: Seit letztem Jahr verantworten Sie auch die Musik von Regenbogen2. Wie grenzt sich dieses Format vom Regionalprogramm Radio Regenbogen ab?
Bernd Hoffmann: Regenbogen2 spielt Rockhits aus 4 Jahrzehnten. Ohne Gitarre läuft da nichts. Radio Regenbogen ist ein AC-Hitradio mit einer überwiegend aktuellen Musikausrichtung. Bis auf den ein oder anderen Bruce Springsteen oder Queen-Rockhit aus den 80ern und 90ern, die in beiden Programmen laufen können, gibt es wenig Überschneidungen in der Musik.
RADIOSZENE: Welchen Herausforderungen muss sich die Musikredaktion Radio Regenbogen bzw. die Radiobranche allgemein in der Zukunft stellen?
Bernd Hoffmann: Das moderne Radio bedient neben der klassischen UKW Frequenz viele Ausspielwege: Internet-Radio, Online Musik-Channels, Audio und Video auf Facebook, Twitter & Co. Die Aufgabe ist, relevanten Musik-Content passend zu den Angeboten zu platzieren. Und immer die richtige Musik zu spielen.