Matthias Kugler (SWR3): „Musikjournalistische Vielfalt kommt bei unserem Publikum nach wie vor sehr gut“

Die redaktionelle Aufarbeitung erfolgreicher Hits aus den Musikcharts hat sich bei diversen Radioprogrammen über die Jahre als fest verankerter Dauerläufer etabliert. Die Etiketten der Formate mögen unterschiedlich sein, die Botschaften und Inhalte zielen bei allen Sendekonzepten unisono darauf, bei der Hörerschaft mit außergewöhnlichen Hintergründen zu den Songs für bislang ungekannte Aha-Effekte zu sorgen.

Und der Nachschub für Ideen an immer neuen Musikgeschichten scheint unendlich zu sprudeln. Es gilt eben nur penibel genug danach zu recherchieren. Wie offensichtlich die Themenscouts innerhalb der SWR3-Musikredaktion das tun, die ihre Langzeitserie „Die größten Hits und ihre Geschichte“ in 2014 begannen und im September 2023 die 300. Folge ausstrahlten. Ein Ende der Erfolgsstory ist laut verantwortlichem Musikredakteur Matthias Kugler aufgrund einer Fülle an unerzähltem Background noch lange nicht in Sicht.

Matthias Kugler produziert die „Die größten Hits und ihre Geschichte“ (Bild: © SWR 3)
Matthias Kugler (Bild: © SWR 3)

Im Interview mit RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich spricht Matthias Kugler über Inhalte und Hintergründe der Serie, die auch als abrufbarer Podcast innerhalb der ARD-Audiothek hinterlegt ist.


RADIOSZENE: Herr Kugler, Sie sind Teil der SWR3-Musikredaktion. Wie haben Sie zum Radio gefunden, welche Aufgaben begleiten Sie als Musikredakteur?

Matthias Kugler: Beim Radio zu arbeiten war tatsächlich ein Kindheitstraum. Ich war einer von denen, die mit dem kleinen Radio unter der Decke einschliefen. Als Kind und Jugendlicher hatte ich durch meine Sozialisation in der unmittelbaren Nähe von Stuttgart mit SDR3 und SWF3 gleich die beiden besten Pop-Sender, die ich kriegen konnte. Die Qual der Wahl sozusagen. Mein Interesse an Pop-Musik war sehr früh da, ich lernte Gitarre spielen und sammelte vom Taschengeld finanziert so gut wie jede Platte, die ich kriegen konnte.

Die ersten (musikjournalistischen) Texte schrieb ich für die Schülerzeitung, später kam die lokale Presse dazu. Nach dem Studium (Englisch, Spanisch, Geschichte) in Stuttgart, Freiburg, Aberystwyth, Barcelona und Madrid wollte ich noch eine journalistische Ausbildung ergänzen und absolvierte an der Musikhochschule in Karlsruhe den sehr praxisorientierten Aufbaustudiengang „Musikjournalismus“.

Nachdem ich Anfang 2001 für sechs Wochen in der SWR3-Musikredaktion hospitiert hatte, durfte ich noch während des Studiums dort als freier Mitarbeiter anfangen. Der Traum hatte sich tatsächlich erfüllt. Heute bin ich als CvD in der Musikredaktion hauptsächlich fürs lineare Tagesgeschäft mit engem Austausch zu unseren digitalen Gewerken und für die mittel- und langfristige Themenplanung verantwortlich. Das beinhaltet auch die Akquise und Betreuung von Interview- und Studiogästen, Spezial-Tage, Konzert- und Festivalberichterstattung. Kurzum: alles, was mit Musik-Journalismus zu tun. Mit Interviews, Beiträgen, Live-Talks und als Musik-Reporter bei Außenveranstaltungen trage ich auch selbst mit anderen Kolleg:innen aus der Musikredaktion zu den Inhalten bei. Daneben gehört auch die Musikprogrammgestaltung – wenn auch zu einem geringeren Teil – zu meinen Aufgaben.

 

„Die Devise ist: Hits gibt es viele, Geschichten auch. Wir konzentrieren uns auf jene Songs, die beide Kriterien erfüllen“

 

RADIOSZENE: Sie sind Erfinder der SWR3-Reihe „Die größten Hits und ihre Geschichte“. Seit wann ist die Serie auf Sendung?

Matthias Kugler: Die ersten drei Episoden haben wir im Herbst 2014 geschrieben, produziert und gesendet. Meistens in einem Dreier-Team mit meinem ehemaligen Kollegen Jörg Lange und wechselnden Hörfunktechnikern. Heute schaffen wir zwischen 25 und 30 Folgen pro Jahr. Da die einzelnen Beiträge sehr aufwändig produziert sind und auch verschiedene Längen haben (eine kürzere für die lineare Ausstrahlung im Radio und eine längere für den Podcast), müssen wir sehr genau auswählen und entscheiden, welche Hitgeschichten wir tatsächlich angehen wollen.

RADIOSZENE: Nach welchen Kriterien suchen Sie Ihre Geschichten aus?

Matthias Kugler SWR3 die groessten hits und ihre geschichte qMatthias Kugler: Die Devise ist: „Hits gibt es viele, Geschichten auch. Wir konzentrieren uns auf jene Songs, die beide Kriterien erfüllen.“ Das bedeutet, dass die Songs im ersten Schritt auch wirklich Hits gewesen sein müssen, sei es in den Charts, im Radio, im Streaming oder im besten Fall in allen Kategorien erfolgreich. Im Umkehrschluss können wir dann auch davon ausgehen, dass die Songs einen festen Platz im kollektiven Musikgedächtnis unserer Hörer:innen haben. Ist das gewährleistet, recherchieren wir, ob es eine spannende, unterhaltsame, überraschende und erzählenswerte Hintergrundgeschichte zu den Hits gibt.

Erst danach gehen wir in eine vertiefende Recherche, suchen nach O-Tönen, fragen Interviews an und schreiben dann den Text für die Hit-Geschichte. Die Folgen dauern zwischen drei Minuten fürs Radio und bis zu 15 Minuten für den Podcast. Wir formulieren die Texte immer so, dass einerseits die Essenz und die absoluten Highlights auch in drei oder vier Minuten erzählt werden können, es aber andererseits auch problemlos möglich ist, sehr tief in die Songstruktur und die Hintergründe der Songs einzutauchen und einem Hit und seiner Geschichte so für Interessierte noch mehr Zeit und Raum zu geben. Dafür ist der Podcast die perfekte Form. 

RADIOSZENE: Aus welchen Zeitspannen stammen die Beiträge?

Matthias Kugler: Bei den Zeiträumen bewegen wir uns hauptsächlich zwischen den 80ern bis ran an die Aktualität. Ganz neue Hits schließen sich meistens aus, da ein Song schon eine gewisse Zahl an Jahren braucht, um auch eine Geschichte zu entwickeln, die über die Idee und die Entstehung hinausgeht. Natürlich haben wir auch Storys zu Klassikern wie „Stairway To Heaven“, „Imagine“ oder „(I Can’t Get No) Satisfaction“ produziert, weil sie essenzieller Teil der Popgeschichte sind. Die überwiegende Mehrheit der Episoden ist aber aus den 80ern, 90ern, 2000ern und 2010ern. 

RADIOSZENE: Nutzen Sie für diese Folgen auch exklusive Quellen jenseits der branchenüblichen Nachschlagewerke? Also auch unbekannte Geschichten, die auf Ihren langjährigen und direkten Kontakten mit KünstlerInnen basieren …

Matthias Kugler: Auf jeden Fall – gerade das macht die Serie ja schließlich so einzigartig. Neben vielen Websites greifen wir oft auf Künstler:innen-Biografien oder Autobiographien zurück, in denen meistens Details stehen, die man woanders kaum findet. Der tiefere Blick in die Bücher hat sich schon viele Male gelohnt. Am allerbesten ist aber natürlich immer das direkte Gespräch mit den Songwritern, Interpreten oder Produzenten der Hits, denn sie waren wirklich dabei und können die Hintergründe aus erster Hand erzählen.

Oft finden wir bei der Recherche oder im direkten Gespräch mit den Künstler:innen Anekdoten, Verbindungen oder Entwicklungen, die die Songs genommen haben, die vorher völlig unbekannt waren. Das sind dann auch für uns immer die schönsten Geschichten, wenn wir Aspekte entdecken, die wir vorher selbst nicht wussten. Das beantwortet denke ich auch Ihre zweite Frage ganz gut: der direkte, oft exklusive Austausch mit den Künstler:innen über ihre Songs ist uns deshalb immer am wichtigsten. Ohne geht es nicht.

Von den User:innen bekommen wir häufig genau dieses Feedback: „Das wusste ich bisher nicht!“, „Echt? Darum geht es in diesem Hit? Hätte ich nie gedacht!“ oder „Toll, dass ihr immer die Stars selbst zu Wort kommen lasst in euren Hitgeschichten!“. Diese Reaktionen freuen uns Macher natürlich ungemein!

 

„Musik-Journalismus ist immer dann erfolgreich, wenn er das Publikum einer Marke bedient und nicht um sich selbst kreist“

 

RADIOSZENE: Musikjournalismus im Radio hat über die Jahre leider etwas an Stellenwert verloren. Gibt es Erfahrungswerte aus der Medienforschung zur Akzeptanz der „Größten Hits und ihren Geschichten“ beziehungsweise zu generellen redaktionellen Musikbeiträgen?

Matthias Kugler: Von der Medienforschung und durch die Auswertung der Online- und Podcast-Abrufe wissen wir, dass die Serie bei unserem Publikum extrem beliebt ist. Diese Erfahrung machen wir auch bei Veranstaltungen von SWR3, bei denen wir oft angesprochen und gelobt werden für die Beiträge. Gerade dieser direkte Austausch ist auch Ansporn, die Geschichten spannend zu erzählen und hochqualitativ zu produzieren. „Die größten Hits und ihre Geschichte“ sollen immer ein Hörerlebnis sein und im besten Fall unterhalten, berühren und zum Weitererzählen animieren. Und egal, ob es diese Serie ist, ob es um Star-Interviews, Promi-News oder Konzertberichterstattung geht: Musik-Journalismus ist immer dann erfolgreich, wenn er das Publikum einer Marke bedient und nicht um sich selbst kreist.

Gerade für eine erfolgreiche Pop-Welle wie SWR3 ist Musik einer der wichtigsten Ankerpunkte und die natürliche Verbindung zu unseren Hörer:innen und User:innen. Musik-Journalismus fängt ja schon bei sorgfältig kuratierten Play-Listen an und kann facettenreich über Wortbeiträge im linearen Programm sowie Multi-Media-Inhalten auf unserer Webseite und den unterschiedlichen Kanälen der Sozialen Medien platziert werden. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese musikjournalistische Vielfalt bei unserem Publikum nach wie vor sehr gut ankommt.

RADIOSZENE: Haben Sie – möglicherweise auch durch Hörerreaktionen – Hinweise, welche Geschichten besonders große Reaktion ausgelöst haben?

Matthias Kugler: Da ist interessanterweise die volle Bandbreite an Jahrzehnten, Stilen und Genres dabei. Bei Spezial-Tagen wie neulich zum Jubiläum der 300. Folge mischen wir ganz neue Hit-Geschichten mit den beliebtesten Folgen der Hörer:innen und User:innen auf SWR3.de und der ARD-Audiothek sowie den Podcast-Drittplattformen wie Spotify oder Apple. Und da stehen bei den erfolgreichsten Episoden „Bohemian Rhapsody“ von Queen neben „Shape Of Me“ von Ed Sheeran, „Despacito“ von Luis Fonsí neben „Yesterday“ von den Beatles oder „Rolling In The Deep“ von Adele neben „Don’t Look Back In Anger“ von Oasis.

Aus meiner Erfahrung bietet jede Dekade, jedes Genre interessante Storys, man muss sie nur finden. Für mich persönlich geben oft die Hits der 80er-Jahre am meisten her, was aber sicherlich auch damit zu tun hat, dass ich in diesem Jahrzehnt musikalisch sozialisiert wurde. Ich entdecke deshalb viele Hits aus dieser Epoche beim Schreiben und Recherchieren nochmal ganz neu. 

RADIOSZENE: Ihre Beiträge stehen auch als Podcasts auf der Homepage von SWR3 sowie in der ARD Audiothek zum Abruf zur Verfügung. Wie hoch sind hier die Abrufzahlen?

Matthias Kugler: „Die größten Hits und ihre Geschichte“ ist sehr erfolgreich, gehört zu den Top-Podcasts im SWR und trifft die Kernzielgruppe von SWR3. Direkte Zahlen geben wir grundsätzlich nicht heraus.

 

„‘Die größten Hits und ihre Geschichte‘ sollen immer ein Hörerlebnis sein und im besten Fall unterhalten, berühren und zum Weitererzählen animieren“

 

RADIOSZENE: Welches war für Sie persönlich die bislang skurrilste Geschichte hinter einem Hit?

Matthias Kugler: Keine leichte Frage bei über 300 Folgen. Am meisten überrascht hat mich aber wohl die Geschichte hinter „Sweet Sixteen“ von Billy Idol. Zum einen wusste er selbst nicht, dass das sein größter Hit in Deutschland war (Platz 2 der deutschen Single-Charts im Juni 1987) und hat versprochen, den Song wieder vermehrt in seine Set-Liste einzuplanen, wenn er hier Live-Konzerte gibt. Der Ursprung des Songs ist aber sehr kurios. Billy Idol war in den 80ern großer Fan von Wissenschaftssendungen im Fernsehen und hatte in einer von der außergewöhnlichen Geschichte des Letten Edward Leedskalnin gehört. Der hatte um 1920 das sogenannte „Coral Castle“ in Florida im Alleingang errichtet.

Bis heute weiß man nicht, wie der lettische Immigrant, 50 kg leicht und nur 1,52 m groß, das Steinmonument aus mehr als 1.100 Tonnen Korallenfelsen meist während der Nacht im Schein von Lampen gebaut hatte. Denn die einzelnen Steinblöcke wogen bis zu 30 Tonnen. Leedskalnin arbeitete insgesamt 28 Jahre am Coral Castle. Zuhause in Lettland sollte er als junger Mann eigentlich die 16jährige Agnes Skuvst heiraten, aber sie löste die Verlobung kurz vor der Hochzeit auf. Aus Liebeskummer beschloss Leedskalnin nach Amerika auszuwandern.

Die Grundidee für „Sweet Sixteen“ von Billy Idol war geboren. Später drehte Billy Idol das Video zum Song dort in jener berühmt-berüchtigten „Korallen-Burg“. Und wer beim Video genau hinsieht, erkennt am Anfang eine Widmung von Billy Idol an Edward Leedskalnin: Eine Einblendung mit dem Satz „Love turned to stone“, „Liebe, die zu Stein geworden ist“. Übrigens gibt es noch heute im Gift Shop am „Coral Castle“ gerahmte Bilder zu kaufen von Billy Idols Besuch dort beim Video-Dreh. Zum Schnäppchen-Preis von 9,99 Dollar. Billy Idol selbst hat noch keins. Mich fasziniert diese Geschichte bis heute.

RADIOSZENE: Im vergangenen Jahr ging die 300. Folge über den Sender. Wann dürfen wir mit der 600. Folge rechnen?

Matthias Kugler: Mathematik war nie meine größte Stärke. Aber wenn ich richtig rechne und es uns gelingt, in dieser Schlagzahl weiterzumachen, circa 2033. Ich freue mich drauf!