Es ist ein ewiges Streitthema – die Musik-Charts und ihre Bedeutung für das Radio. Klar, die Sender vertrauten heute natürlich in erster Linie den internen Musiktests. Ein Fakt, dem sich bei einer Umfrage durch RADIOSZENE nahezu alle Musikchefs der befragten Programme anschlossen. Haben damit also die „Offiziellen Deutschen Charts“ heute ihren Einfluss auf die Musikgestaltung der Sender komplett verloren? Wohl doch nicht ganz.
Bei einer aktuellen Auszählung weisen Verkaufs- und Airplay-Charts (je Senderformat) weiterhin eine unverändert hohe Deckungsgleichheit zwischen den von MusicTrace ermittelten Airplay-Charts und den „Offiziellen Single Charts“ von GfK Entertainment auf. Und: die aktuellen Playlisten zahlreicher Sender beinhalten exakt die Hits, die auch die vorderen Plätze der Verkaufs-Charts besetzen.
Dazu finden sich innerhalb der Titelpools der älteren Dekaden sowie der Millenium-Hits nahezu ausschließlich ehemalige Top 100-Platzierungen aus den deutschen Charts früherer Jahre.
So ganz aus den Blickwinkeln der Musikverantwortlichen der Hörfunkwelt scheinen die „Offiziellen Deutschen Charts“ nun also doch noch nicht geraten zu sein.
Dabei spielten die Verkaufs-Hitparaden bis in die 1970er Jahre hinein für das Radio kaum eine Rolle. Damals galt eher das Motto: „Wir spielen keine Hits, wir machen sie“. Ursprünglich waren die damaligen Bestenlisten eigentlich als Messinstrument für den deutschen Markt der Musikboxen ins Leben gerufen worden. Im Zuge der sich Mitte der 1970er Jahre abzeichnenden Professionalisierung im Tonträgergeschäft führte der damalige Bundesverband Phono ein neues, wegweisendes Drei-Säulen-Modell bei der Erhebung der deutschen Musik-Charts ein, das lange Zeit Bestand haben sollte. Dabei wurde die Erhebung der Ergebnisse dem Baden-Badener Institut Media Control übertragen, die exklusiven Veröffentlichungsrechte erhielt das Fachmagazin „Musikmarkt“. Die Vorgaben der Regularien sowie die regelmäßige Kontrolle der ermittelten Ergebnisse lag in den Händen des Phonoverbandes – heute Bundesverband Musikindustrie (BVMI).
Ab 2013 übernahm die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) die wöchentliche Hitparadenermittlung für Singles und Alben. In diese Musikbestenlisten fließen heute neben der Erhebung von physischen Abverkäufen auch Nutzungsdaten von Downloads, Musik-Streams und Radio-Plays ein. Die „Offiziellen Deutschen Charts“ bilden in diesem repräsentativ und zeitnah ermittelten Zusammenspiel die gerade angesagte Musiknutzung in Deutschland ab.
Zu aktuellen Fragen der Chart-Ermittlung und derzeitigen Trends sprach RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich mit GfK Entertainment-Geschäftsführer Dr. Mathias Giloth.
„HipHop hat auf weiterhin hohem Niveau um einiges nachgelassen, während das Pop-Genre Anteile hinzugewonnen hat“
RADIOSZENE: Wie bewerten Sie das Charts-Jahr 2021? Welche Trends haben sich durchgesetzt? Welches Genres waren top, welche haben an Gewicht verloren?
Dr. Mathias Giloth: Das Charts-Jahr 2021 war sehr abwechslungsreich. Wir hatten Schlager-Sängerinnen wie Daniela Alfinito und Helene Fischer ebenso an der Spitze wie Popstars (Adele/Ed Sheeran), Metalbands (Helloween/Metallica) und Rapper (Kontra K/Kool Savas). Die „Eurovision“-Gewinner von Måneskin haben mit drei Top 10-Hits gezeigt, dass Rock noch lange nicht tot ist, und ABBA haben mit ihrer Comeback-Platte „Voyage“ bewiesen, dass physische Tonträger nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Insgesamt hat HipHop auf weiterhin hohem Niveau um einiges nachgelassen, während das Pop-Genre Anteile hinzugewonnen hat.
RADIOSZENE: Thema Rap und HipHop: täuscht der Eindruck, dass sich das Genre – zumindest auf den vorderen Positionen – in den Single-Top 100 weniger stark präsentiert hat?
Dr. Mathias Giloth: Der Eindruck täuscht nicht. 2020 hatte der HipHop-Anteil an allen Platzierungen in den „Offiziellen Deutschen Single-Charts“ fast 50 Prozent erreicht, 2021 lag er „nur“ noch bei etwas mehr als einem Drittel. Hingegen konnten Pop-Produktionen ihren Anteil von ca. einem Fünftel auf ein Drittel steigern. Trotzdem ist und bleibt HipHop-Musik sehr präsent: 19 der insgesamt 29 Singles, die 2021 vorne standen, kamen aus diesem Segment.
RADIOSZENE: Auch die Verweilzeit vieler Titel schien weniger dauerhaft …
Dr. Mathias Giloth: 2021 waren 818 Titel in den „Offiziellen Deutschen Single-Charts“ platziert, 2020 insgesamt 776 Songs. Insofern war die Verweildauer etwas kürzer, was zum Teil auch an den vielen Weihnachtssongs lag, die über Wochen hinweg die Top 100 aufmischten.
RADIOSZENE: Wie hat sich deutsche- beziehungsweise deutschsprachige Musik in der Bestenliste geschlagen?
Dr. Mathias Giloth: Deutschsprachige Titel machten 2021 rund 58 Prozent aller Produktionen aus, die in den „Offiziellen Deutschen Single-Charts“ platziert waren. 2020 waren es noch 63 Prozent gewesen. Der Anteil ist also etwas zurückgegangen, bleibt aber weiterhin hoch. Daraus einen Trend abzulesen, ist noch etwas verfrüht.
RADIOSZENE: Welches Fazit ziehen Sie gut ein Jahr nach Einführung neuer Regularien für die Single-Top 100?
Dr. Mathias Giloth: Ziel der „Offiziellen Deutschen Charts“ ist es, die Vielseitigkeit der Musiknutzung möglichst umfassend widerzuspiegeln. Insofern war die Integration von Radio-Plays ein wichtiger Schritt – ebenso wie seit 2022 die Aufnahme von Streams aus werbefinanzierten, kostenfrei zugänglichen Musik-Angeboten von Audio- und Video-Streaming-Services inklusive der Daten von YouTube.
„Deutschsprachige Titel machten 2021 rund 58 Prozent aller Produktionen aus, die in den ‚Offiziellen Deutschen Single-Charts‘ platziert waren“
RADIOSZENE: Uns fällt auf, dass es seit diesen Veränderungen ruhig geworden ist um Vorwürfe wegen angeblich manipulierter Streamingwerte …
Dr. Mathias Giloth: Schon allein die Hinzunahme neuer Kanäle macht Manipulationsversuche über einen einzelnen Kanal möglicherweise bereits unattraktiver. Grundsätzlich sind Streaming-Manipulationen ein Thema, gegen das die Musikindustrie weltweit Maßnahmen ergriffen hat. Für die „Offiziellen Deutschen Charts“ gilt: Kriminelle Vorgehensweisen und der Versuch zur Manipulation haben in den Hitlisten nichts verloren. Wir setzen alles daran, Manipulationen zu erkennen und diesen, zusammen mit der Industrie und auch den Streaming-Plattformen, gezielt entgegenzuwirken.
RADIOSZENE: Wie bewerten Sie die Auswirkungen der Radioeinsätze, die seit Ende 2020 in die „Offiziellen Single Charts“ einfließen?
Dr. Mathias Giloth: Bei der Einberechnung der Airplays wird durch einen Gewichtungsfaktor berücksichtigt, dass Radio-Hörerinnen und -Hörer in der Regel keinen direkten Einfluss haben, welche Musik im Radio gespielt wird. Der Einfluss der Airplays in den Single-Charts ist deshalb begrenzt. Die „Offiziellen Deutschen Single-Charts“ sind somit auch weiterhin klar abgegrenzt vom eigenständigen Profil der „Offiziellen Deutschen Airplay-Charts“.
RADIOSZENE: Streaming scheint weiter der maßgebliche Faktor bei der Zusammensetzung des Rankings zu sein. Wie das Beispiel Weihnachten 2021 zeigt, als 71 Christmas Hits aus einschlägig prominenten Playlists die Top 100 fluteten …
Dr. Mathias Giloth: Streaming ist der größte Umsatztreiber im Musikverkauf und war im ersten Halbjahr 2021 hierzulande für über 70 Prozent der Erlöse verantwortlich. In der Weihnachtszeit liefen natürlich die Playlists heiß, aber auch abseits davon wurde viel gestreamt – wie zum Beispiel an Silvester, dem mit 674 Millionen Aufrufen nach Heiligabend (716 Millionen Klicks) meistgestreamten Tag bislang.
RADIOSZENE: Wie sehen Sie die Entwicklung innerhalb der „Offiziellen Album-Charts“?
Dr. Mathias Giloth: In den „Offiziellen Deutschen Album-Charts“ spielen physische Tonträger nach wie vor eine wichtige Rolle. Dies konnte man, besonders beeindruckend, bei ABBA beobachten, die mit über 235.000 zumeist physischen Verkäufen den erfolgreichsten Album-Start der vergangenen zweieinhalb Jahre hinlegten – und dann bekanntermaßen auch das beliebteste Album des Jahres stellten.
RADIOSZENE: Bei den Album-Charts fällt auf, dass weiter verstärkt so genannte Anniversary-Longplayer in die Top 10 einsteigen. Spielt hier die gute Entwicklung beim Vinyl-Verkauf eine Rolle?
Dr. Mathias Giloth: Der Vinyl-Markt ist seit 2007 fast durchweg im Wachstum und erreichte im ersten Halbjahr 2021 wieder einen Marktanteil von 5,9 Prozent. Allein das ABBA-Album „Voyage“ verkaufte sich als Schallplatte bislang über 33.000 Mal. Neben Vinyl-Versionen aktueller Produktionen waren aber auch Jubiläumseditionen wie „Metallica“ (Metallica) und „Herzeleid“ (Rammstein) sowie Longseller wie das „Greatest Hits“ von Queen oder Nirvanas „Nevermind“ gefragt. Diese Alben schafften es allesamt in die die Top 20 der Vinyl-Jahrescharts.