Henry Gross: „Musik hat nach wie vor einen hohen Stellenwert“

In 2009 übernahm Henry Gross als Nachfolger von Lutz Ackermann das Amt des Musikchefs bei NDR 1 Niedersachsen in Hannover. Seine Radiokarriere begann Anfang der 80er-Jahre als Moderator und Reporter beim „Club“ von NDR 2 – damaliger Chef Lutz Ackermann! Später moderierte Gross Musiksendungen für den SWF, wechselte als Musikchef zum RIAS und kehrte 1993 zum NDR zurück.

Henry Gross (Bild: ©NDR 1 Niedersachen/ Andrea Seifert)
Henry Gross (Bild: ©NDR 1 Niedersachen/ Andrea Seifert)

Im Interview mit RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich spricht Henry Gross über die Musik von NDR 1 sowie den wichtigen Radiomarkt in Niedersachsen.

RADIOSZENE: Über welche Wege sind Sie zu Radio gekommen?

Henry Gross: Quereinsteiger: Als Student hat mir Lutz Ackermann die Chance gegeben, zunächst als Reporter – später dann als Moderator-  für den „Club“ auf NDR 2 zu arbeiten.

Henry Gross (Bild: ©NDR 1 Niedersachsen/ Jessi Schantin)
Henry Gross (Bild: ©NDR 1 Niedersachsen/ Jessi Schantin)

Das hat weitere Türen geöffnet: Moderation bei SWF3, danach Musikredakteur bei rias 2; Musikchef N-JOY, Leiter Programmpräsentation in der Programmdirektion Hörfunk und seit 11 Jahren nun Musikchef bei NDR 1 Niedersachsen – als Nachfolger von Lutz Ackermann – so schließt sich der Kreis.

RADIOSZENE: Welche Tätigkeiten umfasst Ihr heutiges Aufgabengebiet?

Henry Gross: Musikzusammenstellung, Moderation von Musiksendungen, programmstrategische Projekte – dazu die üblichen Leitungsfunktionen.

Henry Gross (Bild: ©NDR 1 Niedersachsen/ Jessi Schantin)
Henry Gross (Bild: ©NDR 1 Niedersachsen/ Jessi Schantin)

RADIOSZENE: NDR 1 Niedersachsen wurde im Laufe der 2010er-Jahre verändert. So finden sich im Musikprogramm heute weniger deutsche Schlager, dafür mehr internationale Oldies und Evergreens. Ist dies Ausdruck eines sich veränderten Hörerinteresses?

Henry Gross: Es war ein kontinuierlicher Prozess über viele Jahre und kein Big Bang. Viele neue Hörerinnen und Hörer sind hinzugekommen – und der Hörerstamm ist weitgehend geblieben. Ja, die Musik hat sich verändert – ihre für uns erfreuliche Akzeptanz nicht.

RADIOSZENE: Nach welchen Kriterien richten Sie heute das Musikprogramm aus?

Henry Gross: Wir sind nach wie vor ein eher melodiöses denn rhythmusorientiertes Programm: Von Elvis bis Ed Sheeran, von den Beatles bis Madonna, von Udo Jürgens bis Wincent Weiss. Den Schwerpunkt in jeder Stunde bildet der Mix 60/70/80er. 

 

„Wir sind nach wie vor ein eher melodiöses denn rhythmusorientiertes Programm“

 

RADIOSZENE: Gleichwohl bietet NDR 1 Niedersachsen den Hörern weiter eine wöchentliche Schlagerparade. Ist dies ein Ausgleich für weniger Schlager im Tagesprogramm?

Henry Gross: Nein – es ist ein Spezialangebot für eine interessierte und engagierte Hörergruppe. Es gibt selten Überschneidungen mit dem Tagesprogramm – aber die Sendung hat Charme und Tradition. Ich moderiere sie vertretungsweise und es macht Spaß. Wir haben regelmäßig die Stars und Newcomer der Branche zu Gast und in den Sendungen viel Zeit für Fragen und Antworten. 

Henry Gross (Bild: ©NDR 1 Niedersachsen/ Christoph Reimann)
Henry Gross (Bild: ©NDR 1 Niedersachsen/ Christoph Reimann)

RADIOSZENE: Hörerhitparaden sind im deutschen Radio immer weniger geworden. Wie stark beteiligen sich die Hörer an Ihrer Schlagerparade?

Henry Gross: Schlagerparaden sind Hörerhitparaden und keine Airplaycharts. Das gilt auch für uns. Aber genau darin liegt ihr Reiz. Sie sind auch ein Tummelplatz für die Fanclubs mancher Schlagerinterpreten. Die legen sich oft mächtig ins Zeug, mit dem Ergebnis, dass Newcomer häufig besser platziert sind als die großen Stars.

RADIOSZENE: Wie wichtig ist deutschsprachige Musik – Schlager wie Deutsch-Pop – generell für Ihr Programm?

Henry Gross: Sie ist eine Facette unserer musikalischen Anmutung. Gerade im Deutschpop gibt es ja seit einiger Zeit eine Reihe von Liedern und Künstlern, die Menschen generationsübergreifend ansprechen. Ich bin gespannt, wie es in den nächsten Jahren mit deutschsprachiger Musik weitergeht.

RADIOSZENE: Musiktests sind für das Radio von hoher Bedeutung. Wie sehr unterstützt die Forschung die Arbeit Ihrer Musikredaktion?

Henry Gross (Bild: ©NDR 1 Niedersachsen/ Jessi Schantin)
Henry Gross (Bild: ©NDR 1 Niedersachsen/ Jessi Schantin)

Henry Gross: Da unser Repertoire nahezu ausschließlich aus Titeln mit sehr hohem Bekanntheitsgrad besteht, ist es für uns wichtig herauszufinden, wann ein Lied übersättigt und ein Nervfaktor entsteht. Daher ist eine regelmäßige Überprüfung sinnvoll, zumal ein erheblicher Teil unserer Hörerschaft uns täglich über mehrere Stunden begleitet.

RADIOSZENE: Liefert die Musikwirtschaft heute für ein Programm wie NDR 1 Niedersachsen noch ausreichend Nachschub an neuer Musik? In den Sendeabläufen finden sich – abgesehen von der Hitparade – relativ wenige aktuelle Stücke …

Henry Gross: Wir sind mit unserem Musikangebot in Niedersachsen nach wie vor ziemlich exklusiv unterwegs – in der Tat mit relativ wenig aktuellen Stücken. Würde das Musikprogramm konzeptionell moderner, wäre der Nachschub durch die Musikindustrie gewiss ausreichend. Aktuell stellt sich die Frage nicht.

 

„Wir sind mit unserem Musikangebot in Niedersachsen nach wie vor ziemlich exklusiv unterwegs“

 

RADIOSZENE: Auf den Programmplänen finden sich auch Musiksendungen wie „Unsere Oldies“ oder „Der große Liederabend“. Hinzu kommen musikredaktionelle Beiträge wie „Die Geschichte zum Hit“. Wie wichtig sind dies Angebote für das Gesamtprogramm.

Henry Gross: Diese Angebote sind ohne Frage wichtig. Neben den Genannten möchte ich auch gerne unsere „Blaue Stunde“ empfehlen – von Montag bis Freitag jeweils 18.00 bis 19.00 Uhr. Die Sendungen und Beiträge sind mit viel Liebe „handgemacht“ und bei unseren Hörerinnen und Hörern außerordentlich populär – wenn man bedenkt, dass sie am Tagesrand stattfinden. Ich mache diese Sendungen regelmäßig. Es sind tolle Formate mit großer Resonanz in Form von Mails, Anrufen – und manchmal sogar noch Briefen.

RADIOSZENE: Niedersachsen ist ein großer und umkämpfter Radiomarkt. Wer sind Ihre härtesten Mitbewerber?

Henry Gross: Die musikalischen Schnittmengen mit anderen Wellen sind relativ gering. Wir müssen eher darauf schauen, für unser im Musiksegment mittlerweile auch sehr unterschiedlich sozialisiertes Publikum weiterhin einen erfolgreichen Mittelweg zu behalten.

Henry Gross (Bild: ©NDR 1 Niedersachsen/ Andreas Gervelmeyer)
Henry Gross (Bild: ©NDR 1 Niedersachsen/ Andreas Gervelmeyer)

RADIOSZENE: Wie sehr hat sich der Stellenwert von Musik im Radio im Verlauf der Jahre verändert?

Henry Gross: Musik hat nach wie vor einen hohen Stellenwert – für mich immer noch der höchste Ein- beziehungsweise Um- und Ausschaltfaktor. Gleichwohl kann das Gesamtangebot einer massenattraktiven Welle sich heute nicht mehr auf die Musik reduzieren: Authentische Moderatorenpersönlichkeiten sind gefragt und gesucht, Unterhaltungskompetenz, Witz und Originalität, Kreativität, Hörernähe auf Augenhöhe, Lebensgefühle erkunden, dazu die passende akustische Verpackung. Das sind spannende Herausforderungen, auf die ich mich sehr freue! 

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