Meist wundern sich Hörerinnen und Hörer, die nach langer Abstinenz wieder eher versehentlich auf einem öffentlich-rechtlichen Kulturradio gelandet sind, über völlig neue Höreindrücke. Man hatte langatmige E-Musikstrecken in Erinnerung – und „stolpert“ plötzlich über anspruchsvolle Popmusik und Singer Songwriter. Genres, die bereits seit längerer Zeit im Tagesprogramm beim einen oder anderen Sender im Mix mit durchhörbaren Klassikstücken oder Soundtracks ein neues, abwechslungsreiches Musikgerüst bilden. Wie beispielsweise bei MDR KULTUR oder SR 2 KULTURRADIO. Natürlich machen innerhalb der Welt der ARD-Kulturradios Ernste Musik und Klassik heute noch immer den weitaus überwiegenden Anteil an den Musikprogrammen aus, dennoch … die Ausrichtung der Wellen aber hat sich in den letzten Jahren gewandelt.
Auch die Wortangebote beleuchten heute den Zeitgeist der Popkultur ebenso selbstverständlich wie die vertiefende Aufarbeitung von Themen des traditionellen Feuilletons. Und vor allem machen sich die Bemühungen der Sender um eine möglichst umfängliche Einbeziehung der Kulturwellen in die Onlinewelt durch die Einrichtung von Audiotheken oder maßgeschneiderten Apps sichtlich bemerkbar.
Im Gespräch mit RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich spricht Reinhard Bärenz, Leiter der Hauptredaktion MDR KULTUR über den sich vollziehenden Wandel innerhalb der Kulturradios.
RADIOSZENE: Herr Bärenz, Sie sind 2014 als Programmchef des jungen MDR-Formats Sputnik in gleicher Funktion zu MDR KULTUR gewechselt. Verantworten seit 2016 beim Mitteldeutschen Rundfunk die trimediale Hauptabteilung Kultur. Ein großer Sprung vom Jugendradio zur Hochkultur?
Reinhard Bärenz: Zum einen ist MDR KULTUR nicht nur ‚Hochkultur‘, sondern umfasst in all seinen Ausspielwegen einen sehr breiten Kulturbegriff, der sich bis in die Bereiche der Populärkultur erstreckt. Zum anderen waren mir die Angebote und Themen von MDR KULTUR über viele Jahre vertraut, zudem ist mein persönlicher Background sehr kulturell geprägt. Daher war es kein großer Sprung, aber ein spannender Schritt.
„Die breite Themenvielfalt einer Kulturredaktion auf möglichst allen, geeigneten Plattformen unserem Publikum anbieten zu können, ist ein ehrgeiziges Unterfangen, aber meiner Meinung nach für die Zukunftssicherung unserer Inhalte in der sich wandelnden Medienwelt unabdingbar“
RADIOSZENE: Welche Aufgaben umfasst Ihr Arbeitsgebiet?
Reinhard Bärenz: Im Kern besteht meine Aufgabe darin, Dinge möglich zu machen. Eine zentral wichtige Aufgabe ist der Ausbau der digitalen Angebote von MDR KULTUR, ohne dabei die bestehenden linearen Angebote in Radio und TV in Qualität und Erfolg im Kern zu gefährden. Die breite Themenvielfalt einer Kulturredaktion auf möglichst allen, geeigneten Plattformen unserem Publikum anbieten zu können, ist ein ehrgeiziges Unterfangen, aber meiner Meinung nach für die Zukunftssicherung unserer Inhalte in der sich wandelnden Medienwelt unabdingbar.
RADIOSZENE: In wie weit haben sich die Hörgewohnheiten von Kulturradios verändert? Welche Musikgenres werden von den mitteldeutschen Hörern bevorzugt präferiert?
Reinhard Bärenz: Die Rezeptionsgewohnheiten unserer Kulturradio-Hörerinnen und -Hörer unterscheiden sich gar nicht so stark von denen anderer Sender. Das Radio ist am Morgen sehr präsent und wird auch viel unterwegs gehört. Die inhaltlichen Ansprüche unseres Publikums unterscheiden sich allerdings etwas von denen anderer Programme: Qualitativ gute Wortinhalte spielen eine wichtige Rolle und stehen fast gleichbedeutend neben der Musik.
RADIOSZENE: Welche Musikgenres werden von den mitteldeutschen Hörern bevorzugt gehört?
Reinhard Bärenz: Unsere Hörer präferieren im Vergleich zum Gesamtpublikum den bekannten, aktuellen Mainstreambereich deutlich weniger. Vor allem das gesamte Repertoire Singer/Songwriter – sowohl aktuell als auch älter – sind dagegen sehr beliebt. Aber auch ältere Musikstile, sowohl deutsche als auch international, werden gemocht, und natürlich liegen klassische Musikfarben in der Beliebtheit deutlich über dem Gesamtmarkt, wenn auch nicht unbedingt ganz oben.
RADIOSZENE: Haben sich auch die einzelnen Präferenzen innerhalb der klassischen Musik verschoben?
Reinhard Bärenz: Deutliche Verschiebungen der Beliebtheit zwischen den einzelnen klassischen Genres in Bezug auf Stile oder Epochen kann ich nicht feststellen.
„Qualitativ gute Wortinhalte spielen eine wichtige Rolle und stehen fast gleichbedeutend neben der Musik“
RADIOSZENE: Wie ausgeprägt sind überhaupt die Nutzungsmotive der Menschen nur wegen der Musik ein Kulturradio zu hören?
Reinhard Bärenz: Nach wie vor ist auch im Kulturradio das wichtigste Einschaltmotiv die richtige Musikmischung. Allerdings spielen wie gesagt die anderen Komponenten des Programms, also Beiträge, Gespräche, Moderationen und so weiter eine wichtigere Rolle als zum Beispiel bei Popradios. Das wissen wir aus vergleichenden Untersuchungen. Auch der Anspruch an inhaltliche Tiefe im Wortprogramm und der Moderation ist bei Hörern im Kultursegment größer.
RADIOSZENE: Im Sendegebiet des Mitteldeutschen Rundfunks hat der Hörer mit MDR KULTUR und MDR KLASSIK Zugriff auf gleich zwei Angebote, die an ein Kultur-interessiertes Publikum adressiert sind. Ein Luxus, um den Sie mancher ARD-Kollege beneidet. Beide Formate konnten zuletzt in der Hörergunst zulegen. Wo liegen die Gründe für diese Gewinne?
Reinhard Bärenz: Beide Programme haben ihre Berechtigung und machen ein attraktives Programm. Den Kolleginnen und Kollegen von MDR KLASSIK spielt auch die steigende Verbreitung von DAB+ Geräten positiv in die Hände, eine Entwicklung, die dem Publikum mehr Programme und damit mehr inhaltliche Vielfalt bringt. Auch in anderen Regionen, wie zum Beispiel Bayern oder NRW gibt es mit Bayern 2 und BR-KLASSIK beziehungsweise WDR 3 und WDR 5 Radiosender, die ein vergleichbares Publikum ansprechen. Eine saubere Formatdefinition und gute redaktionelle Abstimmungen sind wichtig, damit die Hörer wissen, was sie von den jeweiligen Programmen zu erwarten haben, und garantieren, dass die Angebote weiterhin erfolgreich bleiben.
RADIOSZENE: Wie stimmig sind die – oft vorgefertigten – Meinungen, dass die Kulturprogramm doch ohnehin nur von Menschen jenseits der 50 Jahre-Grenze gehört werden? Konkret gefragt: Wie sieht die Hörerstruktur von MDR KULTUR und MDR KLASSIK aus?
Reinhard Bärenz: Es ist richtig, beide Programme sprechen ein Publikum über 50 an. Aber auch jüngere Hörerinnen und Hörer erreichen wir. MDR KULTUR versucht jüngeres Publikum darüber hinaus und vor allem über attraktive Onlineangebote an sich zu binden, was uns glücklicherweise immer besser gelingt.
RADIOSZENE: MDR KLASSIK sendet auf terrestrischem Wege über DAB+. Welche Erfahrungen haben Sie zuletzt mit dieser Verbreitungsform gemacht? Kommt DAB+ nun innerhalb der Bevölkerung an?
Reinhard Bärenz: DAB+ wächst, allerdings nicht so schnell, wie ich mir das wünschen würde. Was mich hoffen lässt: Im Vergleich aller Übertragungswege ist DAB+ 2018 ganz vorn – mit 15 Prozent weist es noch vor dem Internet-Radio die stärkste Steigerung im Vergleich zum Vorjahr auf. Ich denke, letztendlich ist ein entschiedeneres Vorgehen auf Bundesebene wünschenswert. Die Entscheidung der EU, dass demnächst nur noch Autos mit Digitalradios verkauft werden dürfen, ist ein Schritt dahin. Auch im TV war es am Ende die Abschaltung des Analog-Signals, die wichtig für den endgültigen Umstieg war.
RADIOSZENE: Während sich MDR KLASSIK ausschließlich der Klassik widmet, ist in den Magazinstrecken des Tagesprogramms von MDR KULTUR ein Musikmix aus gehobener Pop- und Rockmusik, Jazz, Filmmusik, Singer Songwriter und Klassik zu hören. Wobei der Klassikanteil bei rund 25 Prozent liegt. Nach welchen Kriterien und Anspruch wählen Sie hier die Songs jenseits der Klassik aus?
Reinhard Bärenz: Das wichtigste Kriterium ist, das am Ende ein stimmiges Gesamtprogramm entsteht. Es gibt klassische Musikstücke, die harmonieren sehr gut mit dem Repertoire aus Singer/Songwriter, Jazz oder anspruchsvoller Popularmusik, bei anderen hat man ganz schnell einen Bruch im Programm. Die Auswahl erfordert viel Verständnis für das festgelegte Format und natürlich auch ein sehr gutes musikredaktionelles Gespür für die richtigen Übergänge und Zusammenstellungen. Ein Patentrezept oder eine einfache Formel dafür gibt es nicht, und ich bin fest überzeugt, dass die Frage, welche Musik zusammenpasst und welche nicht, sich nicht final beantworten lässt, zumal wir uns im Kulturradio nicht auf die Ergebnisse aus gängigen Musikstudien verlassen können, denn dafür sind die Programmanforderungen zu komplex.
„Alle Abendsendungen sind zur Profilbildung des Kulturradios von großer Bedeutung“
RADIOSZENE: Bei den Kollegen der großen Masse-attraktiven AC-Wellen sind Special-Interest-Sendungen kaum mehr auf den Programmplänen zu finden. Bei den Kulturradios gibt es dagegen noch zahlreiche monothematische Sendungen für Klassik- und E-Musikinteressierte, es werden bei MDR KULTUR aber auch andere Sparten wie beispielsweise Folk oder Chansons bedient. Wie wichtig sind diese Formate für das Gesamtprogramm, wie intensiv werden Sie genutzt?
Reinhard Bärenz: So wie wir wissen, dass Radio vor allem am Morgen stattfindet, so wissen wir, dass wir am Abend nur noch wenige, aber dann überaus interessierte und engagierte Hörerinnen und Hörer haben. Wir investieren sehr viel in dieses Abendprogramm. Für viele unserer anspruchsvollen Wortprogramme wie Hörspiel oder Feature ist inzwischen die Präsenz in der ARD Audiothek sehr wichtig geworden. Alle Abendsendungen sind zur Profilbildung des Kulturradios von großer Bedeutung.
RADIOSZENE: In welchem Umfang fördern Sie den Nachwuchs und Live-Übertragungen/Konzerte? Wie hoch ist hierbei der Anteil an Musik und Aufführungen aus dem eigenen Hause beziehungsweise dem Sendegebiet?
Reinhard Bärenz: Ein Livekonzert-Abend in der Woche präsentiert immer Orchester aus der Region, ein weiterer das MDR Orchester und unsere Chöre. Wir senden regelmäßig Abschlusskonzerte aus den drei Musikhochschulen unserer Region und portraitieren junge Musiker und Künstler aller Genres in unserer Multimedia-Portraitreihe ‚Nächste Generation‘.
RADIOSZENE: Die Kollegen der Popwellen werden zunehmend mit dem Thema Streaming konfrontiert, das für die Kulturradios eher noch in weiterer Ferne liegt. Allerdings hat der bundesweite Privatsender Klassik Radio mit seinem neuen Bezahlangebot „Select“ ein ganzes Bündel mit bis zu 150 sehr aufwändig gemachten Musikangeboten an den Start gebracht, das sehr dezidiert auf die Vorlieben anspruchsvoller Musikliebhaber abzielt. Offenbar schon eine Antwort auf Musikstreamingdienste. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Reinhard Bärenz: Die Streamingdienste sind uns auf den Fersen, daran besteht kein Zweifel. Wenn das Radio hier zukünftig bestehen will, muss es sich in Teilen nicht neu erfinden, aber neu definieren. Wenn wir uns auf unsere Kernqualitäten besinnen, werden wir auch zukünftig von den Menschen gehört. Für mich sind das in unserem föderalen Rundfunksystem die regionale Kompetenz und die Verbindung von zielgruppengerechter Musik- und Themenauswahl, großer inhaltlicher und journalistischer Expertise und guten Stimmen beziehungsweise Köpfen im Programm. Wenn diese Mischung in sich stimmt und zuverlässig angeboten wird, sind wir meiner Meinung nach gegenüber den Mitwettbewerbern im Streamingbereich sehr gut aufgestellt.
„Wenn das Radio hier zukünftig bestehen will, muss es sich in Teilen nicht neu erfinden, aber neu definieren“
RADIOSZENE: Bei näherem Hinhören fällt auf, dass sich auch die Inhalte und Ausrichtung der Wortbeiträge gewandelt haben. Heute rücken vermehrt auch Beiträge aus der Welt der popularen Musik in den Fokus der Berichterstattung. Wie balancieren Sie die Gewichtung zwischen Feuilleton, Popkultur und sonstigen Themen aus?
Reinhard Bärenz: Das Kulturradio des MDR bietet eine Mischung aus Regionalität, Kultur und gesellschaftlichen, beziehungsweise politischen Themen und im besten Fall ist jede Stunde im Tagesprogramm so gebaut. Wir verstehen uns als ein Radioangebot für kulturinteressierte Hörerinnen und Hörer, deren inhaltliches Interesse über die reinen Kulturthemen hinaus geht. Mit stündlichen „Kulturnachrichten“, die wir seit einiger Zeit anbieten, konnten wir diesem Bedürfnis unseres Publikums mit einem weiteren Angebot im Programm entgegenkommen. Am Ende ist Themengewichtung redaktionelle Alltagsarbeit. Themen balancieren sich einerseits durch den hier beschriebenen, redaktionellen Anspruch aus, andererseits aber auch durch die aktuelle Lage. Wenn es irgendwo in der Welt brennt, wollen unsere Hörer gut und ausgewogen informiert sein, ebenso wie über die Frage, welche guten Neuinszenierungen unsere Theater im Sendegebiet aktuell anbieten.
RADIOSZENE: Die Bedeutung des linearen Hörens nimmt ab, der Trend zur zeitsouveränen Nutzung steigt. Wie intensiv ist das Programm von MDR KULTUR heute schon mit den Möglichkeiten der Online-Welt verknüpft?
Reinhard Bärenz: Kulturangebote im Radio, TV und im Netz werden im Mitteldeutschen Rundfunk seit 2016 unter dem redaktionellen Dach MDR KULTUR gestaltet und verantwortet. Mit diesem Schritt war der MDR Vorreiter in der ARD und wir stellen fest, dass viele nun ähnliche oder fast identische Wege gehen. Insofern besteht die Verknüpfung bereits. Wir müssen dabei aber auch darauf achten, dass jeder Ausspielweg seine eigene Dynamik und Dramaturgie hat, die berücksichtigt werden muss. Inhaltlich, thematisch findet die Zusammenarbeit bereits statt.
RADIOSZENE: Welche Rolle spielen hierbei auch Podcasts und Mediatheken? Wie entwickeln sich hier die Zugriffszahlen?
Reinhard Bärenz: Podcasts sind für eine spezielle und sehr interessierte Hörerschaft interessant. Der Anspruch sollte sein, nicht Radiosendungen eins zu eins als Podcast anzubieten, sondern extra für Podcast produzierte Angebote zu machen. Da nach der letzten Studie von ARD und ZDF dazu, die Podcast-Nutzung auch in der jüngeren Kulturzielgruppe nur im mittleren einstelligen Bereich liegt, die lineare Radionutzung aber unverändert hoch ist, müssen wir priorisieren. Ein Angebot, das sich gut entwickelt, ist die ARD Audiothek, auf der alle Radios der ARD ihre Langformate anbieten. Hier wollen wir uns perspektivisch noch intensiver engagieren, denn hier trifft sich ein großes Publikum, das an komplexen und niveauvollen Audioinhalten Interesse hat.
RADIOSZENE: Generell geht heute der Trend in vielen Lebensbereichen wieder hin zu mehr verlässlicher Information. Offenbar ein Zeitgeist, der sich vor der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung absehbar wohl noch verstärken wird. Das Misstrauen vieler Menschen gegenüber den Nachrichten aus dem Internet wächst, eigentlich eine perfekte Vorlage für die klassischen Medien, sich hier wieder als verlässliche Partner zu positionieren? Wie setzen Sie diese Bedürfnisse Ihrer Hörer im Programm um?
Reinhard Bärenz: Bei allen Veränderungen, die die Medienweltentwicklung seit einigen Jahren von uns verlangt, sehe ich hier einen Punkt, bei dem wir einfach das weiter tun sollten, was wir schon immer getan haben, nämlich uns auf unsere Kernqualitäten zu verlassen und diese zu pflegen. In allen Akzeptanzabfragen in Sachen Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit steht die ARD immer ganz oben. Das gilt auch für die Radios. Insofern bauen wir weiterhin auf journalistische Qualität, thematische Ausgewogenheit, intensiven Dialog mit dem Publikum und ein zuverlässiges Angebot. Ich denke nicht, dass die Fragen der Zukunft sich aus der Vergangenheit beantworten lassen, wie manche meinen. Aber ich bin überzeugt, dass bestimmte Kernkompetenzen im Journalismus auch in Zukunft von den Menschen gebraucht und vor allem von uns erwartet werden.