Die Vierländerwelle NDR 2 ist – trotz einer stark gewachsenen Konkurrenz – ein weiterhin vielgehörter Leuchtturm im hohen Norden. Ein Traditionsprogramm im besten Sinne eben, auch wenn zuletzt deutliche Verjüngungstendenzen erkennbar sind. Die Popwelle startete am 1. Januar 1956 und ging aus dem Hörfunksender NWDR Nord hervor, der am 30. April 1950 seinen Sendebetrieb aufnahm. Am 2. Januar 1981 strahlte NDR 2 den ersten Werbeblock aus. Zuvor war dem NDR das Senden von Hörfunkwerbung untersagt. Es ist das einzige Hörfunkprogramm des Norddeutschen Rundfunks, das Werbung in Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Hamburg ausstrahlt.
Im Interview mit RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich spricht Programmchef Torsten Engel über die Auswirkungen der Corona-Krise auf den Sendebetrieb sowie die Veränderungen im Programm von NDR 2.
RADIOSZENE: Welchen Einfluss hat die Corona-Krise derzeit noch auf den Sendebetrieb von NDR 2?
Torsten Engel: Weiterhin sehr große Auswirkungen. Unsere Moderationsteams trennen wir seit Beginn der Krise strikt voneinander: Nur diejenigen, die zusammen eine Sendung präsentieren, begegnen sich noch im Redaktionsalltag. Auf unserer „Redaktionsinsel“, auf der das aktuelle Programm gestaltet wird, ist nur jeder zweite Platz besetzt, um die Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten. Etwa die Hälfte unserer Kolleginnen und Kollegen arbeiten zurzeit mobil von zu Hause. Das hat sich in den vergangenen Wochen alles gut eingespielt. Das NDR 2 Team macht das wirklich großartig, alle achten sehr aufeinander und bringen viel Geduld mit, auch wenn mal was nicht sofort funktioniert. Aber von einem „normalen“ Sendebetrieb ist das leider kilometerweit entfernt.
„Mein Eindruck ist, dass diese besondere Situation das Team (…während der Corono-Zeit …) noch fester zusammengebracht hat, dass die Kolleginnen und Kollegen sehr rücksichtsvoll und noch wertschätzender miteinander umgehen als vorher“
RADIOSZENE: Gibt es Erfahrungen oder Arbeitsabläufe aus den letzten Wochen, die Sie für die Zeit nach Corona mitnehmen?
Torsten Engel: Ich denke, dass die Frage: „Können wir auch mal einen Tag von zu Hause aus arbeiten?“ intensiver diskutiert werden wird als vor Corona. In Bezug auf Arbeitsabläufe und Strukturen nehme ich darüber hinaus bisher nicht so viel mit, denn wir sprechen ja in der Regel über Lösungen, die aus der Not heraus geboren wurden und deshalb oft suboptimal sind. Erfahrungen schon eher, aber ich glaube, das geht dem gesamten Team so. Mein Eindruck ist, dass diese besondere Situation das Team noch fester zusammengebracht hat, dass die Kolleginnen und Kollegen sehr rücksichtsvoll und noch wertschätzender miteinander umgehen als vorher. Wenn wir das aus der Corona-Zeit mitnehmen, dann würde ich mich sehr darüber freuen.
RADIOSZENE: NDR 2 ist seit vielen Jahren mit zahlreichen hochkarätigen Veranstaltungen im Sendegebiet präsent. Die Pandemie zwingt nun zumindest bis weit in die zweite Hälfte des Jahres zur Absage von Events mit Publikumsbeteiligung. Wie sehr schmerzt dieser Verzicht auf Konzerte und Festivals?
Torsten Engel: Das schmerzt natürlich sehr, denn Event-Marketing ist ein wichtiger Baustein unserer Off-Air-Strategie. Aber: Die Gesundheit der Besucherinnen und Besucher hat oberste Priorität. Das gilt auch für die Künstlerinnen und Künstler sowie alle anderen, die zum Gelingen dieser Events beitragen.
RADIOSZENE: Sind hier Alternativen – etwa in Form von virtuellen Konzerten – denkbar?
Torsten Engel: Ja, und das haben wir in den vergangenen Wochen auch schon gemacht. Wir haben zum Beispiel viele Konzerte unseres Festivals „NDR 2 Soundcheck Neue Musik“ gesendet, sowohl on-air als auch als Videostream im Netz. Das war sehr schön. Die Reaktion unserer Hörerinnen und Hörer war durchweg positiv. Aber eine wirkliche Alternative ist es dann doch nicht. Das Gefühl, Musik gemeinsam mit anderen live zu erleben, lässt sich eben nicht ersetzen.
RADIOSZENE: Zumindest während der ersten Phase von Corona haben Reichweitenforscher eine stärkere Radionutzung ausgemacht. Können Sie diese Tendenz bestätigen?
Torsten Engel: In absoluten Zahlen kann ich das nicht einschätzen. Die Radionutzung einzelner Programme wird ja anders als beim Fernsehen nicht Tag für Tag ausgewiesen. Die Nutzung unseres Livestreams ist zumindest deutlich angestiegen. Wenn ich die Reaktionen der Hörerinnen und Hörer, ihre Mails, die Messages und Sprachnachrichten ansehe, dann hatten wir in unseren Accounts allerdings noch nie so viel Traffic wie in diesen Tagen und Wochen. Gleiches gilt für unsere Social Media-Kanäle.
RADIOSZENE: Hat sich hier auch das Interesse der Hörer am aktuellen Tagesgeschehen verstärkt?
Torsten Engel: Das Interesse am aktuellen Geschehen ist dabei extrem hoch, die Mehrzahl der Nachrichten dreht sich um die aktuelle Situation.
RADIOSZENE: Wie gehen Sie mit der immer dynamischer werdenden Podcast-Entwicklung um?
Torsten Engel: Mit unserer Comedy „Wir sind die Freeses“, die wir ja auch als Podcast veröffentlichen, haben wir eines der erfolgreichsten Produkte dieses Genres im Portfolio. Im Moment produzieren wir einen „Pop-Up-Podcast“ rund um unsere Bundesligashow. Solange der Spielbetrieb in der Liga ruht, bieten wir Hintergründe, Interviews und legendäre Schlusskonferenzen. Über weitere Formate denken wir im Moment nach, und zwar auch unabhängig vom linearen Programm. Podcast ist ein eigenes Genre mit einer sehr eigenen Erzählweise, dem werden wir mit neuen Produkten Rechnung tragen.
„Wir befinden uns zurzeit in einem intensiven Modernisierungsprozess, auch abseits der gespielten Musiktitel“
RADIOSZENE: Die NDR 2 Musik ist seit Sendebeginn ein sehr wichtiger Baustein. Nach welchen Vorgaben haben Sie das Musikprogramm aktuell ausgerichtet? Seit September 2019 werden im Slogan die Songs aus den 1980er-Jahren ja bereits nicht mehr erwähnt …
Torsten Engel: Das stimmt. Wir haben im Herbst 2019 eine erste, behutsame Verjüngung unseres musikalischen Angebotes vorgenommen. Seit Januar 2020 positionieren wir darüber hinaus aktuelle Titel noch stärker als bisher. Die Vorgabe, das Musikprogramm muss der Mehrzahl der Hörerinnen und Hörer gut gefallen, hat sich dabei allerdings nicht verändert. Wir befinden uns zurzeit in einem intensiven Modernisierungsprozess, auch abseits der gespielten Musiktitel.
Mit „Der NDR 2 Morgen mit Elke und Jens“ haben wir seit Anfang des Jahres ein neues Team in der Primetime. Gleiches gilt für die Drivetime, dort moderieren seit Januar Jessica Müller und Sascha Sommer. Im Herbst werden weitere Schritte folgen, um NDR 2 weiter zu modernisieren.
RADIOSZENE: Wie begegnen Sie den dem Boom der Musikstreamingdienste? Sind da beispielsweise Ihre täglichen Musikspecials am Abend oder vermehrte musikredaktionelle Inhalte eine Antwort?
Torsten Engel: Dass diese Specials eine Antwort sind, glaube ich nicht. Dafür haben wir sie auch gar nicht konzipiert. Die „Soundcheck“-Sendungen sind ein Angebot für Menschen, die sich besonders für Musik interessieren, für neue Künstlerinnen und Künstler und neue Songs. Wir stellen Bands vor, sprechen mit Protagonistinnen und Protagonisten und bieten musikredaktionelle Inhalte.
Ein Angebot, das Streamingdienste in dieser Form gar nicht anbieten. Streamingdienste haben – zumindest in der NDR 2-Zielgruppe – eine andere Funktion. Sie ersetzen Tonträger. Früher war es die CD, irgendwann das eigene digitale iTunes-Archiv, jetzt ist es die Playlist bei Spotify & Co. Aber selbstverständlich beobachten wir sehr genau, wie sich die Streamingdienste entwickeln. Erste Versuche, „Radioähnliches“ anzubieten, gibt es ja bereits.
RADIOSZENE: Immer wieder wird zuletzt ein verstärktes Storytelling als Garant für eine hohe Hörerbindung eingefordert. Teilen Sie diese Einschätzung?
Torsten Engel: Gute Moderatorinnen und Moderatoren müssen – gerade in unserem Format – unbedingt gute Storyteller sein. Insofern: Ja. Ich bin sogar der festen Überzeugung, dass sich der Wettbewerb immer mehr über genau diese Protagonistinnen und Protragonisten entscheiden wird. Sie brauchen einfach Personalities, mit denen sich die Zielgruppe gern an den Frühstückstisch setzt, die sie als bereichernden Teil ihrer Community begreift.
„Gute Moderatorinnen und Moderatoren müssen – gerade in unserem Format – unbedingt gute Storyteller sein“
RADIOSZENE: Einige Privatsender experimentieren bereits intensiv mit personalisiertem Radio, die Zahl der Musikspartenstreams von deutschen Privatsendern ist in 2019 auf ein Rekordniveau gestiegen – auch im Gebiet des NDR. Sind dies Entwicklungen, die schon bald Auswirkungen auf die Hörgewohnheiten haben werden?
Torsten Engel: Personalisiertes Radio, also eine App, bei der ich mir die Inhalte mit meinen musikalischen Vorlieben mischen kann, könnte ein spannendes Projekt sein. Ob das wirklich „massentauglich“ sein kann, daran habe ich aber noch große Zweifel. Natürlich wird es auch auf dem Audiomarkt immer wieder Angebote geben, die für eine spezielle Zielgruppe interessant sein können. Ich bin nur nicht sicher, ob die Menschen immer gern irgendetwas tun wollen, um sich „ihr“ ganz persönliches Programm zusammenzustellen. Lineares Radio ist aus meiner Sicht gerade deshalb immer noch so erfolgreich, weil es ein „Lean-Back-Medium“ ist, und mir der Sender, dem ich vertraue, ein Programm zusammenstellt, das mir zusagt.
RADIOSZENE: Vervollständigen Sie abschließend den Satz: „NDR 2 und DAS Radio werden auch zum 100. Geburtstag des Hörfunks noch eine bedeutende Rolle in der Lebenswelt der Hörer haben, weil …“
Torsten Engel: …Radio und seine Personalities ein Anker in einer immer unübersichtlicheren Medienwelt bleiben, wenn sie nah an den Hörerinnen und Hörer und selbst nahbar sind. Gutes Radio hat eine Seele. Streamingdienste nicht.