Musiktrends im Radio 2021 Teil 4: „Auch 2020 kam kaum ein Radio-Hit ohne Beats aus“

Musiktrends moderatorin cds 123rf 28245744 s bigThe Trend is your Friend! Wie entwickelt sich die Musik im Radio? RADIOSZENE stellte hierzu Musikverantwortlichen deutscher Hörfunkstationen folgende Fragen:

  1. Welches waren im Radio in 2020 die angesagten Musiktrends in Ihrem Sendegebiet?
  2. Werden sich diese Richtungen fortsetzen oder sind bereits neue Trends in Sicht? 
  3. Hat die Corona-Pandemie auch Auswirkungen auf die Musikpräferenzen der Hörerinnen und Hörer?
  4. Seit Ende letzten Jahres fließt Airplay wieder in die Ergebnisse der “Offiziellen Deutschen Charts“ ein. Wie bewerten Sie diesen Schritt? Gewinnen die Charts für das Radio damit wieder mehr an Gewicht?

MusicMaster: Einfach immer perfekte Playlists

Die Antworten der Macher aus den Musikredaktionen lieferten eine Vielzahl interessanter Hinweise auf die aktuellen und kommenden Musikströmungen. Heute schließen wir unsere Umfrage mit den Antworten weiterer, wichtiger Entscheidungsträger.


 

„Ich habe das Gefühl, dass die Hörer*innen noch mehr Bekanntes/Beliebtes hören möchten“

 

Andreas Löffler, WDR, Musikverantwortlicher Breitenprogramme Hörfunk

Andreas Löffler (Bild: ©1LIVE)1) Auch 2020 kam kaum ein Radio-Hit ohne Beats aus. Dance Musik hat sich im Radio festgesetzt und dominiert den Gesamtsound.

2) In der New Music Hotlist 2021 der jungen Programme der ARD sind für dieses Jahr schon mal 15 tolle Acts aus den unterschiedlichsten Genres nominiert. Wir sind uns sicher, dass mit einigen neuen Künstler*innen aus dem Urban-Pop Bereich, sicher auch im Radio zu rechnen sein wird.

3) Ich habe das Gefühl, dass die Hörer*innen noch mehr Bekanntes/Beliebtes hören möchten.

4) Durch Airplay erreicht man jeden Tag über das Medium Radio ein Millionenpublikum, daher ist es bestimmt keine schlechte Idee, diese enorme Reichweite in die Charts einfließen zu lassen. Radio ist und bleibt relevant. Ob dadurch wieder nachvollziehbare Charts ermittelt werden, muss jeder Radiosender für sich selbst entscheiden.


 

„Im vergangenen Jahr lief bei planet radio auffallend viel von den 80ern inspirierter Popsound“

 

Sue Deckwerth, planet radio, Leiterin der Musikredaktion

Sue Deckwerth (Bild: planet radio/Daniel Camino)

1) Im vergangenen Jahr lief bei planet radio auffallend viel von den 80ern inspirierter Popsound von Künstlern wie The Weeknd, Miley Cyrus, Purple Disco Machine und Dua Lipa. Auf der Playlist waren aber auch treibende Dancebeats von Vize, Joel Corry und Topic, Gitarrenpop von Tom Gregory und Dermot Kennedy und die TikTok Ohrwürmer von Jason Derulo zu finden. Und es gab zum Glück auch Harry Styles, dem aktuelle Trends so ziemlich egal sind.

2) Am Anfang des neuen Jahres ist das immer schwer einzuschätzen, aber aktuell ist noch kein neuer großer Trend in Sicht. Interessant finde ich allerdings die vielen neuen jungen Künstler wie Tate McRae, Olivia Rodrigo oder The Kid Laroi, die Dank der sozialen Medien heute sehr viel schneller populär werden und abwechslungsreiche Sounds mitbringen.

3) planet radio spielt einen abwechslungsreichen Mix aus Pop, Urban und Dance und orientiert sich bei der Auswahl der Songs an den deutschen Charts. Uns ist wichtig, die Hörer gut gelaunt durch den Tag zu begleiten. Daran hat sich auch durch Corona nichts geändert.

4) Wenn man bedenkt, wie oft Radio schon totgesagt wurde, ist es natürlich erfreulich, dass unsere Plays nun wieder an Bedeutung gewinnen. Auch wenn wir als sogenanntes „passives Medium“ weniger Einfluss haben als Streaming- und Verkaufscharts, so ist es doch eine positive Entwicklung.


 

„Der Trend geht in Richtung handgemacht“

 

Christian Brost, hr3, Musikchef

Christian Brost (Bild: ©Andreas Frommknecht)

1) Im vergangenen Jahr hat sich der Trend fortgesetzt, dass die hr3-Hörerinnen und -Hörer immer anspruchsvoller werden. Sie wissen genau, welche Musik sie hören wollen – und eben auch, welche nicht. Besonders im aktuellen Dance-Bereich und beim Deutschpop „funktioniert“ längst nicht mehr jede Produktion; auch nicht, wenn ein großer Name darauf steht. Für uns als Musikredaktion bedeutet das, dass wir bei der Auswahl neuer Songs noch aufmerksamer sein müssen als früher. Dabei leitet uns immer die Frage: Wird dieser Song unseren Hörerinnen und Hörern gefallen, hat er oder bekommt er eine Relevanz für unser Publikum? Können wir das nicht klar mit einem „Ja“ beantworten, nehmen wir einen Song nicht ins Programm. Gleichzeitig wird musikalische Abwechslung noch wichtiger. Neben aktuellen Songs erwarten und bekommen die hr3-Hörerinnen und -Hörer die großen Hits der 80er- und 90er-Jahre im Programm.

2) Der Trend geht in Richtung handgemacht. Bands wie Welshly Arms und Imagine Dragons stehen hoch im Kurs, ebenso Musiker wie Michael Patrick Kelly, Milow oder Zoë Wees – für mich übrigens die Neuentdeckung des Jahres. Ich denke, dass sich dieser Trend fortsetzen wird, auf Kosten der eher elektronischen Produktionen.

3) Ein paar hoch beliebte Titel hätte es in anderen Jahren vielleicht nie gegeben. Denken wir nur mal an „Best Of Us“ von WIER, der im Sommer aus einer Initiative der Radiozentrale hervorging. Der Song transportiert einen Gedanken, der im hr3-Programm immer wieder auftaucht: Am besten bewältigen wir eine Krise, wenn wir zusammenhalten. Vielleicht ist der Trend zu mehr handgemachter Musik und zu bekannten Hits aus der Vergangenheit auch eine Folge dieses besonderen Jahres: Auf der einen Seite haben wir alle ein großes Informationsbedürfnis. Gleichzeitig werden zwischen den Nachrichten und der aktuellen Berichterstattung die Wohlfühl-Momente immer wichtiger, die das Radio über die Musik schaffen kann.

4) Die Charts haben keinen Einfluss auf das Musikprogramm von hr3. Aus direktem Feedback unserer Hörerinnen und Hörer wissen wir, dass das Wort „Charts“ teilweise sogar negativ gewertet wird – im Sinne von: Spielt doch nicht immer nur die Charts rauf und runter. Das tun wir auch nicht. Tatsächlich laufen in den meisten Wochen nur ein oder zwei Songs aus den aktuellen Top 10 regelmäßig bei uns. Daran hat sich mit der Umstellung zunächst nichts geändert.


 

„Schon vor der Pandemie hat die Musikindustrie begonnen, Songs zu produzieren, die sich besonders gut für die Nutzung auf TikTok eignen“

 

Stefanie Schäfer, DASDING, Musikchefin

Stefanie Schäfer (Bild: ©SWR DASDING)1) + 2) Im letzten Jahr haben sich im jungen Bereich vor allem die Trends aus dem Vorjahr gefestigt, sehr gefestigt. Inzwischen wurde gefühlt jeder populäre Song aus den 80ern und 90ern (mindestens!) einmal geremixed. Ebenfalls wie im letzten Jahr sind viele dieser Remixe gut gelungen und überraschen positiv – manche dagegen hätte man besser in der Schublade gelassen. Auch neue Produktionen orientieren sich immer noch stark am Sound dieser beiden Jahrzehnte. Im EDM-Bereich ist „Slap House“ weiterhin sehr beliebt sowie die Aufweichung der Genre-Grenzen (vor allem zwischen Hiphop und Pop) erhalten geblieben ist. Gerade auf nationaler Ebene sind hier 2020 ein paar vielversprechende junge Künstlerinnen erschienen, die sicherlich noch weitere nach sich ziehen werden. Aktuell hören wir auch wieder mehr Songs mit Elementen aus dem Two Step. Das gab es in den letzten Jahren immer mal wieder. Momentan sieht es allerdings danach aus als könnte sich diese Entwicklung tatsächlich eine Zeit lang etablieren. Nicht zuletzt setzt sich ein weiterer Trend aus den letzten Jahren fort: Die Gitarren kommen über den HipHop zurück.

3) Aus meiner Sicht hatte (und hat) die Corona-Pandemie keine Auswirkungen auf die Musik-Präferenzen der Hörer*innen. Wir alle tragen diese Pandemie nun schon lange mit uns. In dieser Zeit gab es unterschiedliche Phasen: Phasen, in denen man sich eher ruhige, melancholische Musik wünscht. Phasen, in denen man ausbrechen möchte und erst recht nach stimmungsvoller, eskalierender Musik sucht und natürlich gerade im jungen Segment Phasen, in denen die Hörer*innen ihren Festivalsommer vermissen und sich über Live-Musik freuen. Diese Phasen gelten allerdings für alle Genres. Vielmehr hatte Corona Auswirkungen auf die Nutzung von Musik und Radio. Wir sehen das vor allem an den deutlich gestiegenen Abrufzahlen unseres DASDING Webstreams. Was die Musikpräferenzen der jungen Hörer*innen eher verändert hat und noch weiter verändern wird, ist TikTok. Mutmaßlich haben die Menschen noch mehr Zeit mit ihren Smartphones verbracht, was unter anderem zu einem weiteren Push dieser Plattform geführt haben wird. Schon vor der Pandemie hat die Musikindustrie begonnen, Songs zu produzieren, die sich besonders gut für die Nutzung auf TikTok eignen.

4) Vielleicht schauen wir – gerade jetzt zu Beginn der Umstellung – wieder etwas mehr auf die offiziellen Charts. Letztlich passiert das aber mehr aus persönlicher Neugier als dass es für ein junges Programm wie DASDING wirklich relevant wäre. Viel wichtigere Gradmesser sind für uns nach wie vor reine Streamingcharts sowie Aufrufe auf Social Media-Plattformen.


 

„Deutschrap spielt bei unseren Hörerinnen und Hörern – entgegen all der Streaming-Rekorde des Genres – weiterhin keine Rolle. Dieser funktioniert nur, wenn er mit einer starken Popmelodie glänzen kann“

 

Andreas Zagelow, MDR, Musikchef „Junge Angebote“ (MDR SPUTNIK und MDR TWEENS)

MDR TWEENS1) Elektro und Dance regieren ungebrochen, teilweise konnten die beiden Genres im Laufe des vergangenen Jahres sogar noch zulegen. Pop hält sich wacker. Deutschrap spielt bei unseren Hörerinnen und Hörern – entgegen all der Streaming-Rekorde des Genres – weiterhin keine Rolle. Dieser funktioniert nur, wenn er mit einer starken Popmelodie glänzen kann.

2) Aktuell sind im Mainstream-Segment keine großen Veränderungen abzusehen. Vor allem für MDR TWEENS gehen wir davon aus, dass TikTok-Influencerinnen und -Influencer, die selbst Musik machen, 2021 im Programm immer präsenter werden. Das wird sicher auch einen Effekt auf das Programm von MDR SPUTNIK haben.

MDRSputnik Logo 2017 rot small3) Im Radio scheinen die Hörerinnen und Hörer aktuell eher Sicherheit zu wollen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass es neue Songs schwerer haben und länger brauchen, bis sie in der Zielgruppe angekommen sind.

4) Für MDR SPUTNIK und MDR TWEENS bleiben – neben dem Know How der Musik-Redakteurinnen und -Redakteure – die Airplay-Charts das wichtigste Element bei der Arbeit am Musikprogramm. Darüber hinaus orientieren wir uns an einer Vielzahl anderer Daten: Streaming, Shazam, TikTok, um nur einige zu nennen. Die Einbeziehung der Airplay-Daten in die ‚Offiziellen Deutschen Charts‘ dürfte zumindest dazu führen, dass die Realität der deutschen Radio- und vor allem Musiklandschaft ein Stück realistischer widergespiegelt wird und ist darum zu begrüßen.


 

„Es gibt eine trotzige Renaissance von Gitarrenpop, die sich nicht in den kommerziellen Kanälen abbildet, aber in der Nische sehr wohl wahrgenommen wird“

 

Anja Caspary, radioeins, Musikchefin

Anja Caspary (Bild: radioeins)1) Da radioeins vom rbb ein kuratiertes, nicht an den Charts orientiertes Musikprogramm aufweist, kann ich nichts über den Trend im Sendegebiet sagen. Der erscheint mir beim Querhören sehr gleichförmig. Aber wir hören uns natürlich alle Neuerscheinungen an und auch wenn wir sie für unser Programm verwerfen, wird deutlich, dass die Welt nach Billie-Eilish-Epigoninnen abgesucht wird, soll heißen, es gibt sehr viele elektronisch und breakbeats-gestützte Zart-Mädchenstimmen in der Popmusik und sehr viele hochtönende Männerstimmen. Der Trend geht zur Androgynie.

2) Es gibt eine trotzige Renaissance von Gitarrenpop, die sich nicht in den kommerziellen Kanälen abbildet, aber in der Nische sehr wohl wahrgenommen wird. Und es gab coronabedingt einen Trend zu Coverversionen.

3) Ja, bezogen auf Hörer*innenmails wurde der Wunsch nach schnellerem Rotationswechsel laut. Das heißt, durch längere Hördauer nutzten sich Lieder schneller ab. Bei der radioeins-Aktion EMOTIONAL RESCUE, bei der sich Hörer*innen Lieder wünschen können, die sie emotional aufrichten – täglich 2mal und als Spezialtage – wird deutlich, dass es vor allem ältere Nummern sind, die mit positiven Erlebnissen aus der Vergangenheit konnotiert sind.

4) Für radioeins sind die Charts nicht programmprägend, aber natürlich begrüßen wir diese Entwicklung.


 

„Slaphouse verabschiedet sich so langsam aus der Gunst der Hörer“

 

Henning Pyritz, radio fritz, Musikredaktion

Henning Pyritz (Bild: ©rbb/Ben Wolf)

1) Wie zu erwarten, war abgesehen von Popsongs Slaphouse der große Hype 2020. Gerne auch als Remake / Remix eines 90er- oder 2000er-Hits. Generell kennt das Neuauflegen bekannter Songs zur Zeit kein Ende. Ob als klar zu erkennender Remix oder nur angelehnte Melodie wie bei Ava Max‚ “My Head & My Heart“ oder Neas “Some Say“  – von Eiffel 65s Hit gab es allein im letzten Jahr über ein Dutzend neuer Interpretationen.
Des Weiteren ist TikTok nicht zuletzt durch die Pandemie immer erfolgreicher geworden und hat den ein oder anderen ungeahnten Hit hervorgebracht. Künstler, Produzenten und Labels haben das Potential 2020 endgültig erkannt beziehungsweise zu spüren bekommen. 
Erfreulich ist hierbei zu sehen, dass nicht nur kalkulierte Hits – Jason Derulo bediente sich 2020 fleißig bei TikTok-Hits – dabei Erfolg haben, sondern auch viele junge, nationale Künstlerinnen wie Zoe Wees, Céline, Luna, Lune, Aylo oder badmómzjay so ihren Durchbruch schafften.

2) Slaphouse verabschiedet sich so langsam aus der Gunst der Hörer.
Urbaner Pop von deutschen Künstlerinnen erlebte in den letzten Monaten einen Aufschwung und hat gerade aus dem Berlin-Brandenburger Markt vielversprechende Vertreterinnen zu bieten. So ist badmómzjay beispielsweise gerade als jüngste Rapperin ever auf dem Thron der deutschen Charts.

TikTok wird auch 2021 seinen Stempel aufsetzen. Ob als label-gesteurte Kampagne oder Überraschungshits. Olivia Rodrigo ist bereits das erste internationale Phänomen, in UK geht ein Shanty-Song dank TikTok wahrscheinlich auf die 1 und in den deutschen Shazam-Charts steht ein arabisches Liebeslied auf der 1. Inwiefern diese Erfolge auf den diversen Plattformen 1:1 aufs Airplay oder die Gesamtcharts umzusetzen ist, bleibt weiterhin spannend.

3) Wir finden zur Zeit viele Songs, die eher aus dem modernen Singer/Songwriter-Bereich stammen und sich am bedroom-Pop aus dem Netz orientieren, im Airplay wieder. Junge Künstlerinnen wie Tate McRae, Charlotte Jane oder aktuell Olivia Rodrigo schlagen ruhigere Töne an. Durch den Wegbruch des Live-Geschäfts hatten hingegen Bands und Party-/Festival-Kracher das Nachsehen. Viele Releases wurden entsprechend verschoben.

4) Dass der Einfluss des Streamings die Charts so verzerrt und das Hörverhalten einer unrepräsentativen Gruppe von Dauer-Streamern solchen Einfluss bekommt, hätte man wissen können. Ich begrüße es, dass dem nun entgegengewirkt wurde. Aktuell ist aber noch kein merklicher Umschwung in den Charts festzustellen. Die Top 10 der Charts werden immer noch zum Großteil von Songs dominiert, die im Radio keine Rolle spielen. Genauso sind von den aktuellen Airplayhits kaum welche in den Top 20 der Charts zu finden.


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