Von Oliver Carlo Errichiello und Dr. Arnd Zschiesche, Hamburg
Kaum eine Branche richtet ihre Aktivitäten in ähnlich radikaler Weise an der Marktforschung aus wie die der Radiosender. Was vor Jahren als Mittel der Kundengewinnung begann, erweist sich zunehmend als fatale Falle für den Aufbau von Markenkraft.
Mehr als 200 verschiedene Powerpoint-Folien, endlose Zahlenkolonnen, Prozentsätze, bunte Balken geben genauestens Aufschluss über jede Veränderung im Hörermarkt. Wann wird gehört, von wem, was hat sich bei den Hörern verankert, wie viele Sekunden wird ein Titel gehört, im Auto oder im Büro, welcher Song hat Resonanz, ist die Wettermoderation zu lang, welcher Moderator wird wie empfunden. Es gibt nichts, was im Wettkampf der Sender nicht herausgefunden wurde, geprüft und gecheckt ist. Nicht genug, dass der „MA-Terror“ die Sender zweimal pro Jahr durchschüttelt, darüber hinaus arbeiten Radiosender dezidierte Eigenstudien aus, die jede Empfindung der Hörerschaft widerspiegeln. Jeder Song, jeder Moderator, jeder Zungenschlag wird auf seinen Markterfolg geprüft. Allumfassendes Motto: Wissen-wollen-was-der-Markt-will! Diese Logik ist bei Radiosendern inzwischen so automatisiert, wie der weiße Bademantel von Udo Jürgens zum Ende seiner Konzerte. (Bild: Dr. Arnd Zschiesche)
Marke sein, heißt Grenzen ziehen
Die Frage nach dem Zweck und der Bestimmung dieser (teuren) Analysen führt bei Radiomachern meist auf vollkommenes Unverständnis: Wie will man ansonsten die Marke entwickeln, wenn nicht auf die Reaktionen des Marktes? Radiosender sind Wirtschaftsunternehmen und der Erfolg steht und fällt mit den Marktkennziffern. Der Markt regiert, heißt es aus der Programmredaktion.
Das was „üblich“ ist, weist oft auf eine Gefahrenquelle hin. Der Markensoziologe weiß, dass „der Markt“ genau das Gegenteil von Marke ist. Im Folgenden sind die drei Folgen und eine Konsequenz einer absoluten MAFO-Hörig-keit als Szenario dargestellt – man mag es an der Realität der Radiolandschaft im Jahre 2007 messen.
Folge 1: Anpassung
Folge 2: Austauschbarkeit
Folge 3: Hohe Werbe- und PR-Investitionen
Konsequenz: Schotten dicht!
1. Anpassung: Alle reagieren auf das Gleiche
Wenn sich eine Marke am Markt orientiert, so stellt sie ihr eigentliches Merkmal in Frage. Denn Marke sein bedeutet in erster Linie Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit. Marke heißt, dass ein Mensch mit einem bestimmten Namen eine Erwartung verbindet. Marktanalysen offenbaren in professioneller Weise, was die Gesamtheit aller Menschen erwartet bzw. was exakt definierte Ausschnitte des Marktes erwarten. Diese Ergebnisse sind das Material für die Programmdirektion, um den vermeintlichen Wünschen und Bedürfnissen zu entsprechen und dies möglicht passgenau. Allerdings ist es für den strategischen Markenaufbau problematisch, dass alle Anbieter die Entwicklungen eines Marktes beobachten. Was ist die Folge?
2. Austauschbarkeit: Wer alles ist, ist nichts
Wenn alle die identischen Ergebnisse haben und sich an ihnen orientieren, dann handeln auch alle gleich, um den statisch analysierten Marktpotentialen zu entsprechen. Konsequenz: Ein Unternehmen führt nicht mehr – macht also kein besonderes Angebot – sondern wird zum Empfänger: es reagiert auf vermeintliche Bedürfnisse. Die Marke wird ein Spiegelbild des Marktes, aber sie ist nicht mehr das Besondere, denn das Besondere ist niemals durchschnittlich: Leider zieht den Menschen nur das Besondere an.
Für Radiosender bedeutet dies: Wenn unterschiedliche Stationen wie gebannt den gleichen Markt beobachten und ihr Programm vermeintlichen Resultaten anpassen, dann gleichen sich auch die Sender und ihre Formate aneinander an. Auch hier löst sich ein wichtiges Kriterium für Marke buchstäblich im Markt auf: Eine Marke verliert ihre Alleinstellungsmerkmale. Es entsteht das, was der Volksmund als den „Einheitsbrei im Radio“ kritisiert – der Volksmund, der laut MA ursächlich für das Programm ist!
3. Hohe Werbe- und PR-Investitionen
Wenn keine klar unterscheidbaren Sendeformate mehr vorliegen, kommt Werbung und PR die entscheidende Rolle zu: Werbung soll die Differenzierungsmerkmale schaffen, welche die eigentliche Produktleistung (also das Sendeformat) nicht mehr erbringt, weil sich die Anbieter auf der Jagd nach der größten Schnittmenge allesamt den Hörererwartungen angepasst haben. Dem viel gepriesenen „added value“ kommt nun die Aufgabe zu, die Marke „emotional“ aufzuladen. „Emotions“ sollen durch (teure) Werbung, die Marke zu etwas Einzigartigem machen. Claims, Jingles und Kooperationen bzw. Sponsoring-Aktionen übernehmen die Funktionen, die das Programm (nicht nur das Musikformat) nicht mehr sicherstellen kann. Emotionen sind demnach der Rettungsanker, wenn es kaum noch Aspekte eines Programms gibt, mit denen es sich von der Konkurrenz unterscheidet.
Konsequenz: Schotten dicht!
Kaum ein Begriff wird so missverstanden und regelrecht verbrannt, wie der Begriff Marke. Marke ist keine Werbekampagne, Marke ist nicht auf das Logo beschränkt, auch nicht auf einen Slogan. Marke besteht aus konkreten Leistungen, die ein Unternehmen über längere Zeit in spezifischer Art und Weise angeboten hat. Im Markt der Radiostationen wird der Markencharakter auf das Musikformat begrenzt. Die Markensoziologie weiß, dass Marke durch die Gesamtheit aller Leistungen getragen wird: Ob Nachrichten, Moderationsthemen, Sprachduktus oder Gewinnspiele, ein Marken-Sender interpretiert sein Programm – im besten Fall – in einmaliger, typischer Weise. Diese Einmaligkeit erschafft die „typische“ Erwartung der Hörer an ihren Sender.
Vertrauen bildet sich nur zu einer Marke, die immer und auf allen Ebenen ein vertrautes Bild abgibt und ihre Fahne nicht in jeden vermuteten Trendwind hängt. Erst diese Konsequenz führt zu positiven Vorurteilen der Hörerschaft.
Die Marken-Soziologie fasst dies in einem Satz zusammen:
Vertrauen entsteht durch Vertrautheit.
Diese positive Erwartungshaltung entsteht nicht, indem man versucht Marken emotional aufzuladen. Emotionen entstehen nicht aus Emotionen. Emotionen entstehen aus Leistungen. Aus Leistungen entsteht Marke.
Anders formuliert:
In den Sinn kommt man nur durch die Sinne. Ohne Leistung keine Marke
(und erst Recht keine Emotion).
Es ist bekannt, dass sich Menschen Emotionen nicht merken können. Menschen brauchen konkrete Leistungen aus denen sie Emotionen ableiten.
Ein Beispiel: Für „Abwechslung im Musikprogramm“ stehen viele Sender, keiner kann und wird sich diese austauschbaren Selbstbeschreibungen merken. Stattdessen wird die konkret kommunizierte Tatsache, dass im Archiv des Senders xy mehrere 20.000 Musik-Aufnahmen gespeichert sind, zum dem abstrakten Urteil bei den Hörern führen: „Dieser Sender ist in der Lage, ein abwechslungsreiches Programm zu bieten.“
In dieser Reihenfolge funktioniert menschliche Kommunikation:
Aus einem konkreten Sachverhalt leitet der Mensch ein abstraktes Werturteil ab.
Die Seele der Marke kennen
Beim Markenaufbau geht es „nur“ darum, die konkreten Eigenschaften und Handlungen herauszufinden, die ein Sender intuitiv jeden Tag erneut „typisch“ erbringt:
Welche spezifischen Leistungen machen Sender x zu Sender x?
Was wird seit langer Zeit in ähnlicher Art und Weise aufrechterhalten?
(z.B. bes. Spielformate, Musikformate, Moderatoren, Morningshow, etc.)
Was kam bei unseren Hören nicht gut an und musste eingestellt werden?
Dies erfordert eine Analyse sämtlicher Bereiche und Abteilungen vom Tag der Gründung bis heute: Musikformat, Moderation, Nachrichten müssen genauso auf „typische“ Interpretationen abgesucht werden, wie Sponsoring, Werbung, Vertrieb oder Hörerservice. Auf diese Weise wird das Material gehoben, das die Marke zur Marke macht. Anstelle von Philosophien und Leitbildern treten jetzt konkrete Fakten, die gezielt eingesetzt und verstärkt werden können. Ziel: Der Senderleitung die greifbaren Hebel an die Hand geben, die zuvor nur intuitiv eingesetzt wurden.
Und die MAFO?
Auch auf andere Weise ist dieses „Erfolgsprofil der Marke“ einsetzbar. Zurück zu den Ergebnissen der Marktforschung. Weil die Analyse der „typischen“ Eigenschaften vorliegt, können die Ergebnisse der MAFO nunmehr auch individuell aufgegriffen und konstruktiv interpretiert werden. Die Frage ist nicht mehr: Was für Entwicklungen müssen wir in unserem Programm einbauen? sondern: Wie bauen wir die Entwicklungen oder Trends so ein, dass sie „typisch“ für uns sind und unsere Markenkraft nicht abschwächen?
Das spart Energie, endlose Diskussionen und Geschmacksurteile und macht Sender zu Marken und nicht zu Abspielprodukten.
Die Autoren Oliver Carlo Errichiello (Bild r.) und Arnd Zschiesche sind die Geschäftsführer des Büro für Markenentwicklung in Hamburg.