Lange, sehr lange sah es so aus, als sei das Radio als einzige traditionelle Mediengattung vor der digitalen Disruption gefeit. Zeitung und Fernsehen mochten Reichweite und Umsatz an Onlinemedien verlieren, das Radio gewann Jahr um Jahr ein bisschen dazu. Jetzt könnte es dafür knüppelhart kommen. Laut aktueller MA verlor Radio bundesweit über alles gerechnet 3,1 Prozent. Zugleich trudelt ein Teil der Radiobranche – der private, der ohne Gebühren wirtschaftet – in schiere Existenznot. Das wird Konsequenzen haben. Die kumulierten Effekte von Medienpolitik und Coronakrise lassen die ohnehin längst übermächtigen Gebührenanstalten nach dem Monopol greifen.
Zehn-Mann-Team für den Anstalts-Podcast
Keine mediale Nische, die öffentlich-rechtliche Sender nicht in furchterregender Geschwindigkeit und beängstigender Breite und Tiefe besetzen. Die Gutenachtgeschichte auf Alexa bringt der Bayerische Rundfunk in die Kinderzimmer der Republik, von Flensburg bis Garmisch. Ebenfalls für nationales Publikum produziert der Norddeutsche Rundfunk den Corona-Podcast des Berliner Virologen Christian Drosten. Die Anstalten sind überall. Sie lassen keinem Mitbewerber Raum. Sie haben unbegrenzte Geld-, Sach- und Personalmittel und setzen die mit erbarmungsloser Härte ein. Gesetzlich abgesichert erheben sie Anspruch auf Finanzierung ihres Bedarfs. Zum Bedarf zählt neuerdings auch, mal eben zehn Leute für den Corona-Podcast mobilisieren zu können. Ein Gespräch mit dem Chefredakteur habe ihm dafür gereicht, enthüllt NDR-Chefentwickler Norbert Grundei im Interview mit meedia.
85 Prozent Umsatz weg wegen Corona-Krise
Schiere Not dagegen bei den Privatradios. Die ostdeutschen Sender beklagen in einem öffentlichen Hilferuf an ihre Staatskanzleien Umsatzeinbrüche von sage und schreibe 85 Prozent. Am westlichen Ende des Landes ist die Lage nicht besser. Die Privatsender des Saarlandes vermelden ebenfalls massive Einbrüche, „was deren Existenz gefährdet“. Dasselbe hört man von Sendern aus der ganzen Republik. Die Branche insgesamt steht mit dem Rücken zur Wand.
„Rundfunkvielfalt existentiell bedroht“
Die Lage ist derart dramatisch, dass jetzt sogar eine der Landesmedienanstalten Alarm schlägt und grundsätzlich wird. „Die vielfältige Rundfunklandschaft in Berlin und Brandenburg ist durch die Corona-Krise existentiell bedroht“, meint die MABB. Die Berlin-Brandenburgischen Medienwächter rufen den Staat um Hilfe an. „Wenn wir die Vielfalt unserer Medienlandschaft erhalten wollen, können wir keinen Tag länger warten.“
Komfortzone der Parteien
Wie konnte es dazu kommen? Wie konnte es passieren, dass schon wenige Tage Ausnahmezustand genügen, ein Bein des dualen Rundfunksystems zu verkrüppeln, während das andere immer stärker wird? Es ist das alte Dilemma mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland, zu dem schon lange alle Argumente ausgetauscht sind. Zu groß, zu teuer, zu regierungsnah, zu parteienlastig. Ein Machtgeflecht, in dessen Gremien eine kritische Masse an Parteien, Verbänden, Kirchen und politiknahen Gruppen ungezügelt Gruppenegoismen auslebt. Über dessen Neugestaltung und Reform seit Jahrzehnten ergebnislos diskutiert wird. Das sich als nicht reformfähig herausgestellt hat, sondern immer weiter wuchert. Das öffentlich-rechtliche System ist die mediale Komfortzone der Parteien. Die wollen sie partout nicht verlassen, koste es, was es wolle. Sie gefährden damit nicht nur die Medienvielfalt, sondern zugleich die Medienfreiheit. Das öffentlich-rechtliche System gibt zunehmend die Grenzen des Erlaubten in der Debatte vor. Die Pluralitität der Meinungen verkümmert zur gesamtgesellschaftlichen Binnenpluralität – Kennzeichen eines autoritären Staates.
Gefangen in System- und Formatketten
Während das öffentlich-rechtliche System sich selbst reguliert – sprich: tut, was es will – unterliegen die Privatsender umfassender Fremdregulierung. Zuständig sind dafür die sogenannten Medienbehörden, die tatsächlich aber keine Behörden sind, sondern auch öffentlich-rechtliche Anstalten. Auch die „Medienbehörden“ werden aus dem Gebührentopf finanziert und nicht aus Steuern. Sie sind Brüder und Schwestern der Rundfunkanstalten und bestimmen, wer einen Privatsender betreiben darf und was für ein Programm da zu laufen hat. Das war über lange Zeit eine Art goldener Käfig. Die Medienanstalten verteilten Lizenzen wie Claims zum Geld drucken. Die Sender und ihre Gesellschafter gewöhnten sich im Gegenzug loyale Gefolgschaft an. Das Denken in Formaten wurde Teil der DNA der Programmmacher. Das Geschehen in der Welt und der Region existiert vorzugsweise in kleinen Päckchen: Zwei Minuten Nachrichten, einsdreißig BMI, 3-Element-Break, hier der Platz fürs Bunte, da die Ecke fürs Kuriose und für die Politik den dpa-Korri.
Kultur der planbaren Routine
Selbst, wenn da das Geld stapelweise herumläge: In einer solchen Kultur existiert einfach niemand, der in einer aktuellen Lage die gute alte Sondersendung als Podcast neu erfindet, schnell plant und schlagkräftig umsetzt. In einer solchen Kultur sind überraschende Wendungen immer Störfaktoren. Sie stören den Programmfluss. Sie stören die eingefahrenen Abläufe. Sie stören die Routine. Eine solche Kultur zieht Leute an, die den Job nicht fürs Abenteuer machen. Eine solche Kultur ist hierarchisch. Sie sieht Brüche als Risiko und nicht als Chance. Das kann sinnvoll sein, wenn es nur den UKW-Hauptkanal zu bespielen gilt. Wer da was falsch macht, gefährdet ja gleich das Ganze. Das ist aber nicht mehr sinnvoll, wenn die Welt mit Streams und Podcasts plötzlich unendlich weit und vielfältig sein kann.
Die Uhr tickt!
Wer mal einen Podcast versemmelt, der hat vielleicht ein paar Euro verbrannt, aber keineswegs die Basis riskiert. Wer aber vor jedem Projekt immer erst die Research-Maschine anlaufen lässt, keine Entscheidung ohne umfangreiche Excel-Tabellen wagt und dann auch noch ängtslich klein-klein anfangen will, wird irgendwann keine Chancen mehr bekommen. Das wirklich Fatale an der aktuellen Lage ist nicht die Corona-Krise allein, sondern ihr Timing. Sie fällt in eine Phase, in der das Privatradio schon länger konzeptionell stagniert. In der es im Grunde unverdient gut lief. Die Zahlen der letzten Jahre waren immer auskömmlich. Man glaubte, Radio könne ewig so weitermachen. Man glaubte, Digitalisierung sei im Grunde nur ein hippes Hobby.
Aber das war falsch, und ausgerechnet jetzt, wo die Corona-Krise hinzukommt, wird es unübersehbar. Einer dieser allgegenwärtigen Beratersprüche lautet: Der Vater des Misserfolgs ist der Erfolg. Weil der Erfolg bequem macht. Und umgekehrt ist der Vater des Erfolgs die Krise. Kriegen wir das hin?
Kommentar von Christoph Lemmer (Freier Journalist). Mehr unter bitterlemmer.net
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