Das Privatradio 89.0 RTL ist seit Jahrzehnten ein beständiger Begleiter für die jungen Jahrgänge in Sachsen-Anhalt. Allerdings nicht nur für diese. Wie bei vielen vergleichbaren Formaten bleiben die Hörer dem Sendeangebot aus dem Funkhaus Halle auch nach Verlassen der eigentlichen Zielgruppe (14 bis 39 Jahre) treu. Offensichtlich trifft das Programm bei Musikauswahl und Moderation den Nerv der Menschen in Mitteldeutschland. Und nicht nur dort: so verfügt 89.0 RTL traditionell über eine standhafte Hörerschaft in Teilen Niedersachsens, wo sogar die Reichweite im angestammten Sendegebiet Sachsen-Anhalt bei weitem übertroffen wird.
Im Interview mit RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich sprach 89.0 RTL Musikchefin Kathrin Weiß über die Musikausrichtung der Senders sowie aktuelle Entwicklungen innerhalb der Musikszene.
RADIOSZENE: Frau Weiß, Sie verantworten das Musikprogramm des jungen Senders 89.0 RTL. Welche Aufgaben umfasst Ihre Tätigkeit?
Kathrin Weiß: Zu meinen Aufgaben gehören die strategische Umsetzung des Musikformates von 89.0 RTL, außerdem die tägliche Planung und Zusammenführung von Musik- und Programminhalten, sowie die Kooperation mit den Partnern in der Musikindustrie.
„Wir konsumieren heute in einer Stunde Radio bei gleichen Anteilen an Wort fast 50 Prozent mehr Musiktitel als noch vor 10 Jahren“
RADIOSZENE: Wie haben Sie den Weg zum Radio gefunden?
Kathrin Weiß: 1996 begann mein Weg zum Radio mit einem Schülerpraktikum. Seitdem sind meine Faszination und Leidenschaft für dieses Medium nicht weniger geworden. Es war mir immer wichtig, mich neben meiner beruflichen Praxis auch in der Theorie aus- und weiterzubilden. Mit RTL habe ich einen Arbeitgeber gefunden, bei dem ich Beides gut verbinden kann. So konnte ich mein Wirtschaftsdiplom nebenberuflich erlangen, mein Hochschulzertifikat als Digital Business Managerin erfolgreich abschließen und gleichzeitig auf bereits 26 Jahre praktische Radioerfahrung zurückblicken.
RADIOSZENE: Welche Musiktrends sind bei Ihren Hörern aktuell besonders angesagt? Beim Blick auf ihre Playlisten fällt eine hohe Zahl an Songs aus den Bereichen EDM beziehungsweise Dance-Pop auf …
Kathrin Weiß: Momentan geht der Trend wieder mehr in Richtung klassischer Pop Songs. Pop Dance und Dance sind weiterhin sehr gefragt bei den Hörern. Die Beliebtheit von Cover-Dance Versionen aus den Pandemiejahren lässt nach. In den letzten Monaten konnten sich auch wieder vermehrt neue Künstler im Radio etablieren. Das ist aus meiner Sicht ein sehr positiver Trend.
RADIOSZENE: Über wie viel persönliche Gestaltungsfreiheit verfügen Musikredakteure heute bei der Musikauswahl? Für die meisten Sender sind ja Musiktests der Marktforschung und externe Einflüsse wie die Bestenlisten von Spotify, Top 100, Airplay Charts oder TikTok sehr wichtige Entscheidungskriterien bei der Ausrichtung der Musik …
Kathrin Weiß: Bei 89.0 RTL arbeite ich eng mit der Programm- Verantwortlichen Tina Wilhelm und ihrem Team zusammen. Wir genießen jahrelange gemeinsame berufliche Erfahrung, durch die wir im gegenseitigen Vertrauen miteinander arbeiten können. Das ermöglicht mir jederzeit offen in die Diskussion zu gehen und musikstrategische Empfehlungen für 89.0 RTL auszusprechen. Wir gestalten das Musikprogramm von 89.0 RTL gemeinsam im Team.
In den letzten Jahren haben sich durch die Digitalisierung unsere Hilfsmittel bei der Auswahl der Musik deutlich vermehrt. Da ist die Musikforschung nur eines von vielen möglichen Elementen. Die Airplay- und Dance Charts, Spotify, I Tunes, Shazam, TikTok und andere soziale Netzwerke geben Trends und Hinweise darauf, was die Zielgruppe hören möchte. Mittlerweile ist es der Nutzer und Hörer, der uns durch die genannten Plattformen zeigt, welche Songs und Künstler er im Radioprogramm hören möchte. Wir als die Radiomacher sind heute mehr in der Pflicht, aufmerksam alle Hinweise und Faktoren, die uns die Zielgruppe gibt, zu erkennen und für ein erfolgreiches Musikprogramm zu nutzen.
RADIOSZENE: Wie wichtig sind in diesem Zusammenhang für Ihren Sender eigentlich noch die „Offiziellen Deutschen Charts„?
Kathrin Weiß: Die deutschen Charts haben an Bedeutung verloren. In meinen ersten Jahren beim Radio waren sie das wichtigste Entscheidungskriterium bei der Auswahl von neuer Musik. Diese enorme Bedeutung der “Offiziellen Charts“ ist heute in jedem Fall nicht mehr gegeben. Das hängt meiner Meinung nach vor allem mit der Masse an anderen Quellen für neue Musik und auch der Schnelllebigkeit von Informationen zusammen. Die Charts erscheinen einmal in der Woche, in diesen sieben Tagen können unter Umständen bei anderen digitalen Charts Titel steigen und auch wieder fallen. Diese Informationen entgehen uns, wenn wir den “Offiziellen deutschen Charts“ eine zu große Bedeutung zugestehen. Dennoch sind diese Bestenlisten weiterhin einer von vielen Faktoren, die wir für die Zusammenstellung der Musik von 89.0 RTL heranziehen.
RADIOSZENE: Wie sehr beeinflussen Streaminganbieter oder Dienste wie TikTok die heutigen Trends?
Kathrin Weiß: Neue musikalische Trends werden sehr stark von TikTok beeinflusst. Das bedeutet aber nicht, dass ein Trend auch immer einen potentiellen Hit hervorbringt. Bei TikTok legt der Nutzer den Fokus sehr stark auf einen kurzen Ausschnitt des Songs. Der komplette Titel hinter der TikTok Message ist nicht zwingend genauso beliebt. Bei 89.0 RTL thematisieren wir die Songs der TikTok Charts und die der Streaming-Anbieter regelmäßig und spielen sie auch abseits der regulären Playlist, verpackt mit guten Interviews und Moderationen.
„Ein Song ist ein guter Song für 89.0 RTL, wenn er so gut funktioniert und bekannt ist, dass er über einen langen Zeitraum im Programm bleiben kann“
RADIOSZENE: Die Digitalisierung im Musikgeschäft hat alle früher bekannten Mechanismen grundlegend verändert. Welchen Einfluss haben die Umwälzungen auf Ihre Zusammenarbeit mit den Musiklabels und Künstlern?
Kathrin Weiß: Die Digitalisierung hat vor allem das Tempo in der Zusammenarbeit mit der Musikindustrie beeinflusst. Drei bis 4 Wochen Vorlauf für das Radio, bevor der Song veröffentlicht wird, gibt es nicht mehr. Teilweise releasen die internationalen Stars einen Song, den wir dann erst nach Veröffentlichung für das Radio bemustert bekommen. Die Zusammenarbeit hat sich insofern auch verändert, dass sie für mich intensiver und kommunikativer geworden ist. Es ist heute umso wichtiger gute Partnerschaften mit der Musikindustrie zu pflegen, die auf einem Geben und Nehmen basiert.
89.0 RTL arbeitet eng mit allen Musiklabels zusammen und wir bemühen uns auch das Vertrauen und den Support hinter den Musikprodukten zu erfassen. Ein Song der vom Label nach kurzer Zeit nicht mehr supportet wird, ist auch für uns im Radio ein Verlust von Kapazitäten, die wir in ein anderes musikalisches Produkt hätten investieren können. Ein Song ist ein guter Song für 89.0 RTL, wenn er so gut funktioniert und bekannt ist, dass er über einen langen Zeitraum im Programm bleiben kann.
RADIOSZENE: Hat die starke Hinwendung zum „Track-basierten“ Geschäftsmodel die Musik insgesamt interessanter und kreativer gemacht?
Kathrin Weiß: Es gibt Titel, die sehr interessant und kreativ sind, aber auch Songs die eindeutig für den Massenkonsum produziert werden. Beides kann im Radio funktionieren und wir beschränken unsere Musikauswahl nicht mit diesen Kriterien. Die Radiohörer interessiert letztendlich nur wenig, wie wertvoll oder kreativ aus unserer Sicht ein Musikstück ist. Er möchte musikalisch unterhalten werden, im richtigen Mix. Musik ist heute nicht nur Track-basiert, sondern auch kürzer, kommt schneller auf den Punkt, hat nur noch selten ein Intro. Wir konsumieren heute in einer Stunde Radio bei gleichen Anteilen an Wort fast 50% mehr Musiktitel als noch vor 10 Jahren. Das hat zur Folge, dass die Songs sehr viel mehr Zeit benötigen, um ein richtiger Radio-Hit zu werden.
RADIOSZENE: Wie wichtig sind für die Hörer heute noch die hinter der Musik stehenden Künstler? Es scheint, dass der von früher bekannte dauerhafte Aufbau von Stars immer mehr in den Hintergrund tritt. Wie gefährlich ist dies für das Showgeschäft und das Radio im Besonderen – wenn man zum Beispiel an attraktive Besetzungsfelder bei Senderveranstaltungen in der Zukunft denkt?
Kathrin Weiß: Auch in der „früheren Zeit“ wurde nicht jeder Song mit dem Ziel veröffentlicht, dauerhaft einen Star zu etablieren und aufzubauen. Wir vergessen nur die One-Hit-Wonder der Vergangenheit gern, weil nur das wirklich Gute und Beständige in den Radioprogrammen bleibt. Das ist heute auch noch so. Entscheidend in der schnelllebigen, digitalisierten Welt ist für den dauerhaften Erfolg eines Künstlers die Geduld und das Vertrauen darauf, dass es Zeit braucht, bis ein guter Song zu einem Hit werden kann. Nicht jeder Künstler, der heute bei einem großen Major Label unter Vertrag ist, wird auch automatisch erfolgreich. Ein großer Name bedeutet auch nicht mehr die Garantie, dass jeder veröffentlichte Song ein Erfolg wird. Insofern ist der Künstler hinter der Musik wichtig, noch wichtiger aber die konstant gute Arbeit an den Songs, die veröffentlicht werden. Durch die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen bei den Veranstaltungen, hatten es vor allem neue Künstler tatsächlich schwer ihre Musik bekannter zu machen. In den letzten Monaten haben wir aber durch Festivals, Konzerte und Partys neue Künstler bei 89.0 RTL kennenlernen und aufbauen können.
RADIOSZENE: Und das Radio? Sind Sie für die Hörer heute noch ein Empfehlungsmedium für neue Musik und Künstler?
Kathrin Weiß: Ja, da bin ich mir sicher. Radio ist beliebt, modern, verlässlich und gleichzeitig überraschend. 53 Millionen Menschen in Deutschland hören täglich Radio. Und auch 65 Prozent der jungen Menschen zwischen 14 bis 29 Jahren hören täglich Radio. Wir sind ein wichtiges Medium für den Aufbau von neuer Musik und der Etablierung von neuen Künstlern.
„Deutsche Musik hat es immer mal wieder schwer im Radio, weil sie schnell verständlich ist und oft polarisiert“
RADIOSZENE: Bestimmte Musikgenres finden trotz großen kommerziellen Erfolgen in den Playlisten im Radio nur begrenzt statt. Beispiel Rap oder bestimmte Formen von Rock. Passen diese Genres in ihrer Anmutung heute einfach nicht ins Radio?
Kathrin Weiß: Extreme Musikgenres wie Rap oder harter Rock finden bei weniger Hörern Beliebtheit als verträglichere, wie Pop. Musikgenres im Radio und damit die Zusammenstellung der Playlisten, sind im stetigen Wandel. Vor Jahren waren Rock- und Rap Interpreten wie 3 Doors Down und Eminem sehr stark im Radio vertreten, jetzt sind diese Sounds weniger beliebt. Das ist keine bewusste Entscheidung für oder gegen ein Genre. Wir bei 89.0 RTL wissen, dass jede Art von Musik großen Gefallen beim Hörer finden kann. Deshalb lassen wir regelmäßig beim „Freaky Friday“ der Musikleidenschaft unserer Hörer noch mehr Freiraum und spielen wirklich alles von Rammstein, Rin, Scooter und Bushido bis zu den Backstreet Boys, Helene Fischer und Albano & Romina Power.
RADIOSZENE: Auch deutschsprachige Musik hat es heute immer schwerer. Einige Sender verzichten komplett darauf. Kennen Sie die Gründe?
Kathrin Weiß: Deutsche Musik hat es immer mal wieder schwer im Radio, weil sie schnell verständlich ist und oft polarisiert. Die Lebensdauer ist kürzer für diese Songs, deshalb schaffen sie es selten in den Backkatalog der Radiostationen. Ich bin mir aber sicher, es kommt wieder eine Zeit, in der auch deutschsprachige Musik wieder verstärkt vom Hörer gefordert wird.
RADIOSZENE: Wie wichtig ist heute im Radio ein hörbarer Anteil an musikredaktionellen Elementen? Eigentlich müssten diese doch den Unterschied zur Streamingkonkurrenz ausmachen …
Kathrin Weiß: Radio ist immer noch sehr erfolgreich. Es ist wichtig für uns bei 89.0 RTL, dem Hörer starke und unterhaltsame Inhalte in der Zusammenstellung der Musik und dem Wort zu liefern, angepasst auf unsere Zielgruppe. Radio ist live, persönlich, schnell, aktuell und kostenlos. Das sind die Stärken des Radios gegenüber allen Medien die heutzutage um die Aufmerksamkeit des Hörers und Nutzers konkurrieren.
RADIOSZENE: In 2023 feiert Radio in Deutschland 100sten Geburtstag. Was macht das Medium heute gut, wo sehen Sie Nachholbedarf? Wohin wird es sich in den kommenden Jahren entwickeln?
Kathrin Weiß: Radio ist der treue Begleiter. Wir sind überall erreichbar, ein vertrautes Medium und schnell in der Aktualisierung von Inhalten. Unsere Challenge in den nächsten Jahren wird sein, unser Radioangebot zu erweitern und abseits der Kernzeiten dem Hörer das richtige Audio zu liefern und damit noch stärker an uns zu binden.