Europas Radiobranche pilgert im März nach Paris: „Vive La Radio!“ ist das Motto der diesjährigen „Radiodays Europe“. Aber wie geht es überhaupt einem der ältesten elektronischen Medien im 21. Jahrhundert, während Onlineangebote wie Spotify und YouTube gerade die jungen Medienkonsumenten begeistern?
Dass die Radiobranche in Frankreich stattfinden, ist vielleicht kein Zufall. Denn die französische Radioszene gilt als spannend, während in anderen Ländern Innovationen im Hörfunk spärlicher gesät sind. Vielleicht sind die Radiodays in Paris deshalb auch als Weckruf zu interpretieren. Vertreter vom öffentlich-rechtlichen Radio France und des Marktforschers Médiamétrie geben einen Einblick in die Radioszene unserer südwestlichen Nachbarn. So ist Frankreich die Heimat der Privatradio-Kette ENERGY, man beweist aber auch, dass ebenso nationale, private Vollprogramme wie RTL mit Talk- und Musikspartensendungen funktionieren. Dazu kommen zahlreiche kleinere Sendergruppen und lokale Stationen. Diese spannende Mischung wird am ersten Kongresstag um 12.15 Uhr im Panel „Radio in France – for outsiders“ präsentiert.
Keimzellen der Radioerneuerung
Doch es gibt in ganz Europa – auch in Deutschland – kleine Keimzellen der Radioerneuerung. Entweder sind es ganze Radiowellen oder kleine Experimentierlabors, die meist innerhalb von öffentlich-rechtlichen Anstalten angesiedelt sind und neue Erzählformen für die linearen Programme oder innovative Online-Erweiterungen entwickeln. So betreiben etwa die BBC, die flämische VRT oder Radio-Canada kleine „radio labs“, in denen fleißig experimentiert wird. Spannende, neue Ideen und Hintergründe zu diesen Experimentierredaktionen werden am Dienstag um 13.45 Uhr vorgestellt: „Cooking in the radio labs“.
Radiosender produzieren die meisten ihrer Inhalte auf eine permanente Deadline hin, nämlich für die Ausstrahlung in ihrem linearen Liveprogramm. Das sind sehr effiziente Prozesse und in diesem (Live-)Umfeld ist es sehr schwierig, Innovationen zu fördern. Ein „Labor“, das genau das machen soll, kann neue Ideen in einer sicheren Testumgebung ausprobieren, ohne die Liveproduktionen zu stören. Man ist aber dennoch sehr nahe an der Produktionsebene.
Und was genau ist die Mission bei VRT Start-up?
Wir denken als erstes an den Endnutzer. Immer wenn wir einem neuen Einfall nachgehen, bitten wir die Nutzer um ihr Feedback. Diese Informationen nutzen wir für einen sukzessiven Entwicklungsansatz. Also: users first. Immer.
Muss Radio denn unbedingt interaktiv werden? Braucht es unbedingt neue Features, um in der digitalen Welt zu überleben oder sollte man sich auf die Kernkompetenzen des Hörfunks konzentrieren?
Radio ist mit seinen Kernkompetenzen immer noch sehr stark, vielleicht überlebt es im digitalen Zeitalter sogar eher als das Fernsehen. Dennoch wäre es dumm und gefährlich, wenn wir uns auf unseren Lorbeeren ausruhen würden. Wir müssen die Inhalte dahin bringen, wo unsere Zuhörer sind – also nicht mehr nur in einen altmodischen Radioempfänger. Man muss die Leute fragen, wo sie sind und wo sie uns hören und dann mit ihnen zusammen Radioinnovationen zu schaffen.
Haben Sie ein Lieblingsprojekt, das bei VRT Start-up entwickelt wurde?
Eines meiner Lieblingsprojekte ist wahrscheinlich „Ninja News“ (bzw. auf MNMBE, Anm. d. Red.), ein gutes Beispiel für nutzergetriebene Innovation. Wir wollten jungen Hörern die Nachrichten näherbringen und wir haben herausgefunden, dass Instagram eine der besten Plattformen dafür ist. Also produziert die Redaktion unserer CHR Station 15-sekündige Newsbulletins als Video und erreicht tausende Hörer damit, drei Mal täglich. Ob das noch Radio ist? Nein. Aber wir erreichen unsere Hörer so, wo sie sind. Mit relevanten Inhalten, die zur Identität des Radiosenders passen.
Es ist also – mal wieder – nichts geringeres als die Zukunft des Radios, über die debattiert und gestritten wird. Der Radiofuturologe James Cridland sieht die Hörfunkzukunft aber gelassen. „Das klassische, lineare Radio wird aussterben – wenn diese Stationen nichts anderes machen als Musik zu spielen“, so der gebürtige Brite, der unter anderem schon für die BBC tätig war. „Tolles Radio ist eine persönliche Verbindung zum Hörer, die aus Storytelling und Kommunikation besteht!“, sagte er blmplus.de. Seine Einschätzungen werden in diesem Jahr auf den Radiodays präsentiert („Mobile Apps“, Montag, 11.20 Uhr). Experimente seien aber wichtig, denn zur Radiozukunft gehöre die Personalisierung des Programms. So habe das amerikanische National Public Radio mit „NPR One“ eine App auf den Markt gebracht, die dem Hörer genau die Beiträge vorschlägt, die ihn interessieren, das sei gewissermaßen ein interaktiver News-Radiosender, so Cridland.
Nur Simulcast ist zu wenig
Neue Ideen im Digitalen fordert auch Christian Schalt, Inhaber von NEXT LEVEL AUDIO in Berlin und in diesem Jahr ebenfalls Speaker auf den Radiodays. „Klar ist, dass das klassische Radio sich in Zukunft verändern muss – auch technologisch. Nur ein linearer Simulcast wird in Zukunft zu wenig sein“, stellt der langjährige Geschäftsführer von 98.8 KISS FM klar. „Die Hörer können bei Spotify Songs skippen oder ihr persönliches Programm zusammenstellen. Das verlangen sie in Zukunft auch von ihrem Radio.“ Um ihre guten Positionierungen in der Medienlandschaft zu behaupten, müssen Radiosender also künftig mit Innovationen aufwarten. Einige dieser Ideen werden am zweiten Kongresstag um 15.20 Uhr bei „30 ideas in 45 minutes“ vorgestellt, wo auch Christian Schalt auf der Bühne stehen wird. Er will dort konkrete Erfahrungen aus seinen Beratungstätigkeiten vorstellen, sagte er gegenüber blmplus.de.
Sicher ist aber: Radio bleibt auch ein mobiles Medium. Vertreter aus Norwegen, Australien und von der Europäischen Rundfunkunion EBU wollen im Panel „Mobile – a giant leap forward“ am Montag um 14.00 Uhr darüber diskutieren, welche Vorteile die Implementierung von Chips für klassisches Radio in Smartphones bedeuten könnte. Graham Dixon, Vertreter der EBU bei dieser Veranstaltung, sprach gegenüber blmplus.de zusätzlich von einer „bedeutenden Ankündigung“, zu der er jedoch noch keine weiteren Hinweise geben wollte. Radiofuturologe James Cridland wirft aber schon mal einen genauen Blick auf das Thema: „Wir müssen klassisches ‚broadcast radio‘ in mehr und mehr Geräte implementieren. Aber auf clevere Art und Weise, nicht nur als zusätzliches FM-Modul.“ Vielleicht wird so ein „cleverer“ Weg in diesem Panel präsentiert.
Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht – das ist keine Frage von DAB oder UKW bzw. Broadcast oder Internet. Beides ist wichtig, beides arbeitet zusammen. Das ist zum so, wenn es ums Autoradio geht, dort wäre es ineffizient, Radio zu Millionen von Hörern über das Mobilfunknetz zu übertragen. Da braucht man das „one-to-many“-Modell, das sehr sinnvoll für Audioinhalte ist. Aber zusätzlich sollten wir Wege entwickeln, um Radio weiterentwickeln und personalisieren zu können. Das könnten visuelle Inhalte oder andere Zusatzinhalte sein, die über das Mobilfunknetz übertragen werden.
Die dringlichste Frage, wenn es ums Radiohören im Auto geht, ist aber gerade die Benutzeroberfläche. Einer der größten Vorteile des Radios ist seine Einfachheit – es ist der „Entertain me“-Button im Auto. Einige der Amaturenbretter mit Touchscreen, die sich in manchen modernen Autos befinden, haben die schlechtesten Radio-Bedienflächen aller Zeiten. Da wurde alles erst im Nachhinein hineingeworfen von Softwareentwicklern, die nicht verstanden haben, wie wichtig das Radio für die Autofahrer ist.
Radiohören über 3G- oder 4G-Netzwerke klappt noch nicht in allen europäischen Ländern ohne Aussetzer – und Datenflatrates ohne Limit hat auch noch nicht jeder. Glauben Sie, dass sich das noch zum Positiven ändert?
Ich glaube, die Situation verbessert sich jetzt, sehr langsam. Die großen Sprünge was die Reichweite angeht, wurden vor drei oder vier Jahren gemacht, aber die Netzwerke sind in einigen britischen Städten weiterhin überfüllt und unzuverlässig auf dem Land. Wenn die Entwicklung so weitergeht wie bisher, könnte es fünf bis zehn Jahre dauern, bis wir ein Mobilfunknetz haben, das auch zu Stoßzeiten Streaming verarbeiten kann, gerade in einem Auto während der Fahrt.
Spotify und andere Streaming-Apps machen auch im Auto viel Spaß. Ist das eine Bedrohung für’s klassische Radio?
Nein. Wir haben gerade erst eine Studie über Radio im Auto veröffentlicht, in der wir aufzeigen, dass Hörfunk bei weitem die beliebteste Unterhaltungsquelle im Auto ist – sogar in neuen Fahrzeugen, die weniger als drei Jahre alt sind und eine moderne Ausstattung haben (Smartphone-Verbindung usw.). Als wir 1500 Menschen in Großbritannien, Frankreich und Deutschland gefragt haben, welche Unterhaltungsquelle sie vor allen anderen bevorzugen, haben 69% das Radio genannt – und nur 1% Streaming.
Radioberater Christian Schalt prognostiziert: „Der deutsche Radiohörer wird in diesem Jahr das größte Audioangebot aller Zeiten zur Verfügung haben – und er wird es nutzen!“. Dass sich die meisten dieser Angebote, egal ob sie von Radiosendern selbst oder Anbietern wie Spotify kommen, online abspielen werden, ist selbstverständlich. Anders wird das vielleicht in Norwegen aussehen, wo in naher Zukunft die ersten UKW-Sendernetze zugunsten von DAB+ abgeschaltet werden sollen. Mit der Entwicklung von Digitalradio in Europa befassen sich die Teilnehmer des Panels „Digital radio: Europe’s choice?“ am Dienstag um 11.00 Uhr.
Die Situation auf dem Audiomarkt bleibt also spannend. Das Primetime-Angebot des Radios schlechthin wird sich aber wohl nicht verändern: Das Frühprogramm. Die australischen Morningshow-Stars Kyle Sandilands und Jackie O Henderson werden kurz nach der Eröffnung der Radiodays um 10.15 Uhr über ihren Wechsel zu einem der nun erfolgreichsten Sender in Sydney und ihre Arbeit berichten (KIIS and say goodbye… The Big Move).
Die Radiomacher müssen also dafür sorgen, dass ihre Angebote durch Innovationen auch für ein junges Publikum attraktiv bleiben – und gleichzeitig die Stärken ihres Mediums herausstellen. Die Radiodays Europe machen Hoffnung, dass diese Mischung aus Bewährtem und Neuem gelingen wird.
Aber es geht nicht nur um die Zukunft des Radios. Bereits am Sonntagabend wird Elettra Marconi, die Tochter von Nobelpreisträger und Erfinder des Radios Guglielmo Marconi, auf den Radiodays zu Gast sein und die Teilnehmer begrüßen. Anlass ist ein neuer Dokumentarfilm der um 16.00 Uhr exklusiv den Gästen vorgestellt wird.
Außerdem hat der Film „I Am What I Play“ Europa-Premiere. Es ist eine Rock-Doku über legendäres Rock-Radio in Amerika von Roger King, das sich auf die vier bekanntesten Rock-Radio DJs fokussiert: Meg Griffin, David Marsden, Charles Laquidara und Pat O’Day:
Die Radiodays im Palais des Congrès in Paris beginnen mit einem Workshop- und Networking-Tag am 13. März, darauf folgen am 14. und 15. März diverse Vorträge und Präsentationen.
Weiterführende Informationen
Die wichtigsten Speaker und Panels der Radiodays Europe 2016 in Paris
Das gesamte Programm der Radiodays für den 14. und 15. März
Dieser Artikel erschien am 24.02.2016 zuerst beim BLM-Plus, ergänzt mit weiteren Info-Boxen.