Dagmar Golle: „Wir haben mit Heimatsound tatsächlich eine echte Marke geschaffen“

Heimatsound Festival im Oberammergauer Passionstheater C BR Konvalin bigAber natürlich … es gibt sie, die mutigen Musikkonzepte „jenseits des Mainstream“ im Kosmos der deutschen Radiostationen. Zugegeben, es dürfen einige mehr sein. Trotz aller Kritik an zu viel Gleichförmigkeit und „Dudelfunk“ – vergessen wir nicht FluxFM, 917xfm, ByteFM oder egoFM, die als Privatprogramme unbeeindruckt von Charts mit durchgedrücktem Kreuz ihre so ganz eigenen Formate entwickelt haben. Gleiches gilt aus dem öffentlich-rechtlichen Lager für die Jugendradios PULS und Deutschlandfunk Nova – aber auch für Programme wie Deutschlandfunk Kultur, radioeins oder Bremen Zwei. Man muss diese Angebote eben nur finden und wahrnehmen wollen.

Dass Radio weiter die Kraft hat neue Musik zu beflügeln – ja sogar eigene Trends zu kreieren und zu befeuern – zeigt seit einigen Jahren der Bayerische Rundfunk (BR) mit seinen “Heimatsounds“. Mit Bierzeltseligkeit und falsch verstandener Heimattümelei hat die Musik von Interpreten wie LaBrassBanda oder Claudia Koreck kaum etwas zu tun – wenngleich die Wahl der Instrumentierung einiger Künstler gelegentlich an die traditionelle Volksmusik erinnert.

Offenbar treffen die neuen Töne den Nerv der Menschen im Freistaat. Die weiß-blaue ARD-Anstalt sorgt neben Airplay auch für Unterstützung in Form von einschlägigen Sendungen, Wettbewerben, Festivals, Aktionen und Veranstaltungen.

Am durch “Heimatsound“ gewachsenen deutschsprachigen Anteil sowie am hohen inländischen Copyright-Wert innerhalb der BR-Programmen dürften wiederum die Urheber, Musiker und Verwertungsgesellschaften ihre Freude haben – gerade in schwierigen Pandemiezeiten.

Dagmar Golle (Bild: ©BR/Denis Pernath)
Dagmar Golle (Bild: ©BR/Denis Pernath)

RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich sprach mit Dagmar Golle, die als Musikredakteurin und Moderatorin die Entwicklung der “Heimatsounds“ bei Bayern 2 vorangetrieben hat, über Entstehung und Hintergründe des Trends.

 

„Heimatsound beschreibt das Hier und Heute der alpinen Popmusik“

 

RADIOSZENE: „Heimatsound“ ist den Hörern des Bayrischen Rundfunks ein vertrauter Begriff. Wie erklären Sie den Menschen außerhalb Bayerns was sich hinter dieser Musikkategorie verbirgt?

Dagmar Golle: Wir fassen den Begriff “Heimatsound“ gerne so zusammen: Er beschreibt das Hier und Heute der alpinen Popmusik. „Heimat“ bezieht sich auf Bayern und seine alpinen Nachbarn Österreich, Schweiz und Südtirol. Da es uns aber definitiv nicht um Heimattümelei geht, impliziert das Wort „Sound“ moderne Musik in all ihren Ausprägungen. Also Singer Songwriter und -writerinnen, Rockmusik, Reggae, Latin, Soul, Funk, HipHop … im Grunde alles, was unter den Sammelbegriff „Pop“ fällt. Nur eben fokussiert auf die alpinen Regionen. Die Wahl der Sprache spielt dabei auch keine Rolle. Das kann Englisch, Hochdeutsch, Bairisch, Schwyzerdütsch, Österreichisch, Ladinisch, Italienisch oder Französisch sein. So wie sich Musikerinnen und Musiker am wohlsten fühlen.

RADIOSZENE: Wann ist diese Begrifflichkeit entstanden, welche Interpreten stehen für diese Strömung?

Dagmar Golle: Los ging es im Jahr 2013. Es fiel auf, dass die heimische Popmusik in Sachen Kreativität enorm an Fahrt aufgenommen hatte. Und das nicht nur in Bayern, auch in Österreich und der Schweiz. Österreich war uns damals sogar schon einen Tick voraus, was die heimische Independentszene betraf. Die Singer Songwriterin Clara Luzia hatte bereits einen herausragenden Namen und inspirierte viele Frauen, den Schritt auf die Bühne zu wagen. Der Nino aus Wien hatte sich zu diesem Zeitpunkt mit seiner großartigen Poesie und seinem eigenwilligen Wiener Gesangsstil zu einem der prominentesten Vertreter der jungen Liedermacher-Garde gemausert. 2010 hatte die Stadt Wien mit dem „Pop Fest“ ein mehrtägiges, jährlich stattfindendes Event ins Leben gerufen, das die enorme Vielfalt der österreichischen Popmusik abbildet. Bei uns in Bayern waren es zwei Namen, die den Startschuss für eine neue Dialektszene gaben: Die Chiemgauer Band LaBrassBanda und die ebenfalls aus dem Chiemgau stammende Liedermacherin Claudia Koreck. Beide hatten 2007/2008 kurz hintereinander ihre Debütalben rausgebracht und damit Begeisterungsstürme ausgelöst. Es schien so, als hätten sie ein Vakuum in der bayerischen Musiklandschaft ausgefüllt. Beide kann man also durchaus als „Zugpferde“ des bayerischen Heimatsounds bezeichnen.

Claudia Koreck beim Bayern2-Abend auf der BR-Radltour 2019 (Bild: ©BR/Markus Konvalin)
Claudia Koreck beim Bayern2-Abend auf der BR-Radltour 2019 (Bild: ©BR/Markus Konvalin)

RADIOSZENE: Gibt es Rückschlüsse über das Spektrum der MusikerInnen, die sich der Musik verschrieben haben?

Dagmar Golle: Das Spektrum ist wie gesagt enorm vielfältig. Die Tatsache, dass die Bands in ganz unterschiedlichen Sprachen und auch Dialekten singen, bereichert die Musik dieser Heimatsound-Regionen zusätzlich. Auch erfährt man in Interviews mit einzelnen Künstlerinnen und Künstlern viel über ihre Ausbildung und ihren generellen musikalischen Hintergrund. Viele haben Musik studiert, häufig Klassik und Jazz. In der Schweiz und in Bayern wurden nicht wenige mit Volksmusik sozialisiert, aber natürlich auch mit dem gesamten Spektrum der Popmusik. In Wien leben viele Musikerinnen und Musiker aus Ländern des Balkans, die ihre Traditionen ebenfalls einfließen lassen. All das ergibt einen großen musikalischen Reichtum.

RADIOSZENE: Welche Kriterien müssen ein Musikstück erfüllen, um das Prädikat “Heimatsound“ zu erhalten?

Dagmar Golle: Im Grunde ähnliche Kriterien wie bei Popmusik generell. Gutes Songwriting, kreative Instrumentierungen und Arrangements sind eine wichtige Grundlage. Gerade wenn auf Deutsch oder in Dialekt gesungen wird, achten wir auf Niveau und Originalität der Texte. Lieder mit schlagerähnlichen Texten würden wir zum Beispiel eher nicht spielen. Dies soll keine Abwertung der Schlagermusik sein, nur läuft das eben nicht auf Bayern 2. Dafür gibt es andere Programme. Wie man kreativ mit Dialekt umgehen kann, zeigen unter anderen Stefan Dettl mit seiner Band LaBrassBanda oder auch die niederbayerische HipHop-Band Dicht & Ergreifend. Selten habe ich so viel geballte Reimkunst verbunden mit subtilen Botschaften gehört. Und das in einem rasenden Tempo, dass man die Texte eigentlich mitlesen muss, weil einem – selbst als Muttersprachlerin – sonst das meiste durchrutscht. Auch die jungen Wiener Liedermacher wie der Nino oder auch Felix Kramer mit ihrer Dialektpoesie sind eine Klasse für sich.

 

„Heimatsound ist kein eigenes Genre, sondern bezieht sich auf das Musikangebot in den oben beschriebenen Regionen“

 

RADIOSZENE: Um welche Themen kreisen die Texte?

Dagmar Golle: Generell unterscheiden sich die Texte kaum von Popmusik im Allgemeinen. “Heimatsound“ ist ja kein eigenes Genre, sondern bezieht sich auf das Musikangebot in den oben beschriebenen Regionen. Lediglich dort, wo in einer regionalen Sprache oder in Dialekt gesungen wird, kann es sein, dass lokale Themen vertextet werden. Das Südtiroler Frauentrio Ganes zum Beispiel hat sich nach weiblichen Wassernixen aus der Südtiroler Mythologie benannt. In ihren meist auf Ladinisch gesungenen Liedern geht es häufig um Themen aus Mythen und Märchen, aber natürlich nicht nur. Bei vielen Wiener Liedermachern, auch bei den Jüngeren, klingt immer wieder eine Portion düsterer Humor durch, den man gerne als „Wiener Schmäh“ bezeichnet. Ein Beispiel: Voodoo Jürgens und sein Lied „Heite grob ma Tote aus“. Auch wenn sich die Themen selbst nicht unbedingt auf Wiener Geschichten beziehen, so sind Wortwahl und die Art des Vortrags einfach „typisch Wienerisch“.

Die Gewinner des Heimatsound Wettbewerbs 2015 mit Dagmar Golle vorne in der Mitte (Bild: © BR/Lisa Hinder)
Die Gewinner des Heimatsound Wettbewerbs 2015 mit Dagmar Golle vorne in der Mitte (Bild: © BR/Lisa Hinder)

RADIOSZENE: Wie reichlich fließt der Nachschub an einschlägiger Musik? Gab es hier Ausschläge durch die Pandemie bei den Veröffentlichungen?

Dagmar Golle: Tatsächlich hatten wir die Befürchtung, dass viele Musikerinnen und Musiker ihren Output stark reduzieren würden, um mit anderen beruflichen Tätigkeiten ihr finanzielles Überleben zu sichern. Zum Glück hat sich diese Befürchtung nicht bestätigt. Viele haben die Zeit der Konzertverbote sogar explizit dazu genutzt, neue Songs und Alben aufzunehmen. Um die heimische Musikszene zu unterstützen, spielen wir deshalb auf Bayern 2 verstärkt “Heimatsound-Musik“. Unter dem Motto „Gemeinsam lauter“ streamt der BR Konzerte bayerischer Künstlerinnen und Künstler, eine Gemeinschaftsaktion von Bayern 2, PULS, BAYERN 3 und der BR KulturBühne. Auch in meinen wöchentlichen “Heimatsound“-Tipps für Bayern 2 geht mir der Stoff nicht aus. Ich glaube, diese verstärkte Präsenz von “Heimatsound“ im gesamten Programm motiviert die Musikszene zusätzlich, weiterzumachen. Aber natürlich hoffen auch wir, dass Konzerte bald wieder stattfinden können. 

RADIOSZENE: Keimzelle von “Heimatsound“ ist Bayern 2. Wie hörbar sind die Vertreter dieser Musik heute im Programm vertreten?

Dagmar Golle: “Heimatsound“-Musik läuft standardmäßig im gesamten Programm von Bayern 2, neben internationaler Popmusik. In manchen Sendungen auch verstärkt, so zum Beispiel in „Bayern 2 am Samstagvormittag“. In der Sendung „kulturLeben“ (donnerstags ab 14.05 Uhr) spielen wir momentan sogar ausschließlich “Heimatsound“. An Feiertagen haben wir Spezialmusiksendungen, die unter diesem Motto stehen. Jeden Samstagvormittag stelle ich neue Alben von Bands aus Bayern, Österreich, der Schweiz oder Südtirol vor. Manchmal haben wir auch Spezialaktionen: Für die Weihnachtsfeiertage 2020 habe ich “Heimatsound“-Bands im Interview vorgestellt, die bei sich zu Hause kleine Weihnachtskonzerte aufgenommen haben. Das war eine wirklich schöne Aktion, für unsere Hörerinnen und Hörer und auch für die Bands, die dadurch in dieser schwierigen Zeit Unterstützung erfahren haben. Besondere Aufmerksamkeit schafft der “BR-Heimatsound-Wettbewerb“: Damit suchen wir neue Talente aus Bayern aus den unterschiedlichsten Genres. Eine Jury wählt schließlich die Finalisten aus, danach kommt es zu einer öffentlichen Online-Abstimmung, bei der Bayern 2-Hörerinnen und -Hörer den Gewinner oder die Gewinnerin küren.

RADIOSZENE: Werden diese Titel auch bei anderen BR-Wellen eingesetzt?

Dagmar Golle: Klar spielen auch die anderen Wellen Musik aus Bayern und den alpinen Nachbarländern. Manchmal gibt es Überschneidungen, ansonsten sucht sich natürlich jede Welle die Musik raus, die generell zu ihrer Farbe und Ausrichtung passt.

 

„Heimatsound ist definitiv wieder ein Markt“

 

RADIOSZENE: Ist denn bereits auch die Musikwirtschaft auf die Musikfarbe aufmerksam geworden?

Dagmar Golle: Man muss dazu vielleicht ein paar Jahrzehnte zurückblicken: Das, was wir heute “Heimatsound“ nennen, hat es in anderer Form schon mal in den 70er- und 80er- Jahren gegeben. Die Helden damals hießen unter anderem Falco, Wolfgang Ambros, Hubert von Goisern und in Bayern Haindling. Der „Austropop“ war ungemein erfolgreich. Falcos Hit „Rock me Amadeus“ landete 1984 sogar in Großbritannien und den USA auf Platz 1! Auch für die Musikindustrie war das eine lukrative Ära. Mit dem Erfolg von Claudia Koreck und LaBrassBanda ab 2007 erwachte das Interesse seitens großer Plattenfirmen erneut. Beide sind auch heute noch sichere Chartsgaranten. Das Gleiche gilt für die jungen österreichischen Heldinnen und Helden. Nehmen Sie Bands wie Bilderbuch und Wanda, aber auch Ina Regen und Conchita Wurst, um nur einige zu nennen. Mit der Plattenfirma Sony haben wir von Bayern 2 zwischen 2014 und 2016 drei Compilation-CDs veröffentlicht, die das damalige „Best-of Heimatsound“ umfassen, mit Newcomern und Klassikern. Da hat man schon gemerkt, dass die Musikindustrie neugierig war. Klar ist auch: Mit einer solchen Compilation erzielt man keinen Kassenschlager, auch nicht für die Bands. Aber die Aufmerksamkeit für diese Art von Musik war da. “Heimatsound“ ist definitiv wieder ein Markt, wie man so schön sagt …

RADIOSZENE: Mit dem “Heimatsound Festival“ ist inzwischen ein begleitendes Konzert-Highlight entstanden. Im letzten Jahr entfiel die Veranstaltung wegen Corona. Wie planen Sie in diesem Jahr?

Dagmar Golle: Leider musste dieses tolle Festival im Passionstheater auch in diesem Jahr wieder abgesagt werden. Dann sind kommendes Jahr die Passionsspiele in Oberammergau. Wann also ein neues Festival als Live-Event stattfinden kann, das besprechen wir mit den Veranstaltern und Partnern. Wir haben es gemeinsam fest vor. Schau‘n mer mal.

Dagmar Golle mit Moderator und Musiker Sebastian Horn (Bild: © BR/Lisa Hinder)
Dagmar Golle mit Moderator und Musiker Sebastian Horn (Bild: © BR/Lisa Hinder)

RADIOSZENE: Eine weitere Form von Heimatmusik im BR ist der “Tradimix“. Wo liegen die Unterschiede zu “Heimatsound“?

Dagmar Golle: “Tradimix“ kann man auf BR Heimat hören. Die Sendung heißt „Obacht! Tradimix“: Volksmusik weiterentwickelt und reloaded. Neue Ideen mit alten Stückln. Alte Melodien mit neuen Texten. Und vieles mehr – garantiert „stadlfrei“. Hier steht also der kreative Umgang mit Volksmusik im Mittelpunkt. Im “Heimatsound“ ist es Popmusik in all ihren Ausprägungen, was einzelne volksmusikalische Einsprengsel natürlich nicht ausschließt.

RADIOSZENE: In wieweit identifizieren sich die Hörer heute über Musikfarben wie “Heimatsound“ mit einem Sender beziehungsweise mit einer bestimmten Welle? Kann bestimmte Musik in unserer im Trend-orientierteren Zeit zu so etwas wie einer fixen Markenbildung beitragen?

Dagmar Golle: Je stärker eine Musikfarbe oder ein bestimmtes Musikmotto im Programm präsent ist, desto mehr bindet man dadurch eine bestimmte Hörerschaft an sich. Das gilt für alle Musikfarben. Das Thema “Heimatsound“ auf Bayern 2 hat ziemlich schnell eine echte Strahlkraft entfaltet. Auch in Österreich wurde die Musikszene recht bald darauf aufmerksam. Labels, Musikerinnen und Musiker begannen, uns von sich aus mit ihren Neuerscheinungen zu bemustern. Beim Oberammergauer “Heimatsound-Festival“ sehen wir ein Publikum, das, wenn man sich mit einzelnen Leuten unterhält, immer wieder Bayern 2 erwähnt, wenn es um “Heimatsound“-Bands geht. Wir haben damit tatsächlich eine echte Marke geschaffen – beim Publikum und bei den Bands.

 

„Je stärker eine Musikfarbe oder ein bestimmtes Musikmotto im Programm präsent ist, desto mehr bindet man dadurch eine bestimmte Hörerschaft an sich“

 

RADIOSZENE: Wagen Sie einmal eine Prognose – können sich die “Heimatsounds“ auch jenseits Ihres Sendegebietes durchsetzen?

Dagmar Golle: Einige Künstlerinnen und Künstler beziehungsweise Bands sind längst über die Grenzen hinaus bekannt: LaBrassBanda füllt spätestens seit ihrer Teilnahme am Vorentscheid zum Eurovision Song Contest – trotz zweitem Platz – bundesweit die Hallen und hat mit Unterstützung durch das Goethe-Institut sogar eine Welttournee absolviert. Wanda und Bilderbuch sind im gesamten deutschsprachigen Raum gefeierte Bands, Conchita Wurst gewann 2014 den Eurovision Song Contest. Die Schweizerin Sophie Hunger ist ein international gefeierter Star. Und nicht zu vergessen die Ikonen der 80er-Jahre: Hubert von Goisern ist für mich nach wie vor einer der größten Helden des Heimatsounds. 

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