Es ist ein schleichender, aber inzwischen unüberhörbarer Trend: Immer häufiger werden Nachrichten im Netz gesprochen und gehört statt geschrieben und gelesen. Audio ist auf dem Vormarsch – dank neuer Technik und neuer Web-Anwendungen. Für das Radio ist das Chance wie Bedrohung.
Es ist die Summe von Details, die das Bild macht.
- Das Audio-Portal Soundcloud gab vor wenigen Tagen bekannt, dass jetzt zehn Millionen User seinen Dienst verwenden.
- Der Dienst Audioboo, bisher eine Art Twitter zum Sprechen, erweiterte zum Jahreswechsel seine Funktionspalette und expandiert zu einer Art Youtube zum Hören.
- Die Macher der deutschen WebradioPlattform 1000mikes freuen sich über ein stetiges Wachstum an zahlenden Premium-Kunden. 1000mikes hat sich vor allem als feste Größe für Radio-Übertragungen von Sportereignissen etabliert.
- Das Startup Trottr verspricht einfachstes Absetzen eines Audiostatus vom Telefon.
- Für Radioprofis ist Luci live eine App, die das iPhone zur mobilen Reportageeinheit macht und mp2-Qualität aus dem 3G-Netz ins Sendestudio streamt: in Echtzeit für Live-Übertragungen.
- Überhaupt, das iPhone: In seiner neuen 4S-Version hat es mit Siri eine potente Audio-Oberfläche, die nicht folgenlos bleiben wird.
Das Netz und die Geräte, die es mit den Menschen verbinden, fangen an, unsere Sprache zu verstehen und mit uns zu reden. Die Folgen der neuen Audiofertigkeiten sind mancherorts schon unüberhörbar.
Etwa im Berliner Café St. Oberholz in Mitte, das sich als WLAN-Zentrale der digitalen Hauptstadt-Bohème einen Namen machte. Die Musik, die dort den Gastraum beschallt, kommt neuerdings immer häufiger vom Soundcloud-Server.
Oder die britische BBC, schon immer innovativer als ihre deutschen Pendants: Sie testet praktisch das gesamte Angebot neuer Web-Services, um seine Beiträge im Netz zu verbreiten. Hörenswert ist der Audioboo-Kanal von BBC Radio 4, der konsequent gepflegt wird und jederzeit auf dem neuesten Stand ist.
Gleich daneben findet sich ein Kanal des Guardian mit einem Audioblog über die Ereignisse im Nahen Osten. Ohnehin beginnen Zeitungen überall auf der Welt damit, ihre Tauglichkeit als Audio- oder Webradioveranstalter zu testen, auch hierzulande. Ebenfalls zum Jahresbeginn startete Radio HNA, das Webradio der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeine. Ein gutes Dutzend Jahre nach den ersten Versuchen mit Webradios hat das Thema die Avantgarde-Zirkel verlassen und ist da gelandet, wo es echte Chancen bekommt: Bei Unternehmen, die professionellen Erfolg anstreben.
Deutsche Radiosender sind da noch zurückhaltender. Das ist verständlich. Zu wissen, dass es viele Möglichkeiten gibt, Dinge zu tun, heißt noch nicht, zu wissen, aus welchen Gründen und mit welcher Strategie man sie tun sollte. Klar ist aber, dass die Audiowelle aus dem Netz heranrollen wird und unsere Claims überspülen kann. Das fürchteten viele schon, als klassische Webradios wie quu.fm ihre Gründerzeit hatten – die es aber bisher nicht geschafft haben, aus der Nische der Avantgarde in den Massenmarkt zu steigen. Relevanter sind da schon die zahlreichen Musikdienste im Netz von Google Music (ärgerlicherweise bisher nur in den USA empfangbar – kleinstaatlichen Protektionismus konnte unsere angebliche Globalisierung bisher nicht schlagen) bis iTunes oder last.fm.
Was aber passiert, wenn interaktive Audiodienste sich durchsetzen, ist unabsehbar. Soundcloud oder Audioboo setzen massiv auf Gruppeneffekte mit Empfehlungen unter Freunden und Bekannten – die klassische Web-2.0-Strategie also. Noch müssen die Nutzer dafür am Bildschirm Buttons klicken. Aber Siri weist den Weg, wie ein Like oder eine Empfehlung im wörtlichen Sinn auszusprechen wären. Eine einfache Innovation, die eine Radiowebseite schon heute im Audio-Sinn interaktiver machen würde, lässt sich bei Audioboo heute schon besichtigen: Der Aufnahmeknopf für den Webbrowser, der das Computermikrofon aktiviert und beispielsweise eine direkte Nachricht ans Sendestudio aufzeichnen könnte.
Christoph Lemmer arbeitet als freier Journalist.
E-Mail: christoph@radioszene.de