Klug geschissen

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Was ist der Unterschied zwischen dem Berliner Tagesspiegel und dem Radiosender 104.6 RTL? Zum einen: Der Tagesspiegel hat im letzten Quartal 2014 gegenüber dem Vorjahresquartal 4,03 Prozent seiner verkauften Auflage verloren, von 115 338 auf 110 692 Exemplare. 104.6 RTL dagegen gewann ausweislich der MA 2015 I Hörer dazu, nämlich 2,1 Prozent, von 201 000 auf 206 000 (Gesamtmarkt 10 Jahre oder älter).

Es gibt noch einen Unterschied: 104.6 RTL nervt den Tagesspiegel nicht mit den Ergüssen klugscheißender Medienredakteure. Kein RTL-Moderator sendet gutgemeinte Ratschläge, was der Tagesspiegel so alles unternehmen könnte, um auch mal wieder einen Leser dazuzugewinnen. Umgekehrt dagegen finden die Schlaumeier der Tagesspiegel-Medienredaktion es ganz normal, den Radiosendern mal kurz zu erklären, wie ihr Geschäft so funktioniert.

Das fängt schon mit der Einstiegsfrage in den Text an: „Laut einer aktuellen Media-Analyse hören die Deutschen immer weniger Radio. Ob es am Programm liegt?“ Nun ja, die Frage ist so banal wie richtig – wie auch folgender Einstieg banal und richtig wäre: Laut den IVW-Quartalszahlen verliert der Tagesspiegel wie auch sonst fast jede deutsche Tageszeitung seit Jahren Auflage. Ob es an den Artikeln liegt?

Anders als in früheren, ähnlich gelagerten Artikeln verzichtet die Autorin diesmal auf allzu plumpes Musikradio- und Morningshow-Bashing, sondern bekundet ihre Respektlosigkeit vor den populären Wellen subtiler. Da „gackert“ es aus dem Radio, wenn Arnos Morgencrew etwas sagt, und Arno selber sei „aufgekratzt“. Mit Logik hat die Schreiberin es nicht so. Einmal ist ihr die Musik für den Morgen zu schnell, dann zu langsam. Sie staunt, dass es noch Telefonstreiche gibt. Warum sollte es die nicht mehr geben? Im Tagesspiegel gibt es ja auch immer noch eine Medienseite, obwohl die vermutlich weit weniger für die Zeitung bringt als die Telefonstreiche für den Radiosender.

Überhaupt: Die erste MA 2015 bestärkt – wieder einmal – recht deutlich, dass das Radio unter den Traditionsmedien die Ausnahme bleibt und dass das vor allem an den populären Erfolgsformaten liegt. Beständigkeit zahlt sich aus, zu viel Herumgedoktere dagegen nicht. Ob Antenne Bayern, die auf derart hohem Level liegen, dass eigentlich gar kein weiterer Zuwachs denkbar ist, Radio Hamburg oder Radio PSR – die stabilsten der Mainstream-Popradios gewannen Hörer hinzu.

Weniger gut lief es dagegen bei den öffentlich-rechtlichen Programmen. Die bleiben zwar deutschlandweit stärker als die privaten. Das liegt aber vor allem an ihrer überlegenen technischen Ausstattung und der skandalös-sicheren Gebührenfinanzierung. Im Trend verloren sie Hörer. Vor allem die Imageprogramme wie Inforadio Berlin-Brandenburg oder B5 Aktuell büßten Reichweite ein.

Vielleicht hätte die Medienredaktion des Tagesspiegel einfach ein paar Tage warten sollen. Als die Redakteurin besagten Artikel schrieb, da waren die Zahlen der Sender noch gar nicht publiziert – und ihr Vorab-Resumee darum entstellend knapp. Überhaupt ist erstaunlich, dass die Medienredaktionen deutscher Zeitungen (Ausnahme: Michael Hanfeld von der FAZ) eine unbegreifliche Zuneigung zum ARD-ZDF-System und eine ebenso unbegreifliche Abneigung gegen Privatfunk hegen.

Warum das so ist? Meine private Meinung: Wohl deshalb, weil manche Redakteure sich danach sehnen, im öffentlich-rechtlichen System einen gut dotierten und sicheren Posten zu ergattern – und darum Artikel schreiben, die der ARD gefallen mögen, weniger aber den Lesern.

Link-Tipps:
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Christoph Lemmer Portrait 2012 100
Christoph Lemmer arbeitet als freier Journalist.

E-Mail: christoph@radioszene.de