Wenn Langsamkeit und Tiefe plötzlich wieder Erfolgsfaktoren für Radiomacher werden: die Webdoku „Jeder Sechste ein Flüchtling“

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Von Stefan Westphal

Das ist schon so ein Problem mit den neuen journalistischen Erzählformen für Onlinemedien. In Deutschland sieht man sofort, aus welchem Stall die Macher eigentlich kommen. Langjährige Print- oder klassische Onlinejournalisten quälen die Nutzer in ihren sogenannten „Multimediareportagen“ mit Textwüsten. TV – Macher drehen für jedes noch so kleine Detail einen eigenen Videoclip.

Und die Radioleute? Sie können das liefern, was Online oft fehlt. Die Klammer, die die Geschichte zusammenhält. Die unterschwellige Emotion. Das Bauchgefühl. Zumindest, wenn man es richtig macht. „Jeder Sechste ein Flüchtling“ ist ein Beispiel dafür. Die SWR Webdoku der Filmemacherin Katharina Thoms (@mediathoms) und der Radiojournalistin Sandra Müller (@radiomachen) ist für den Grimme Online Award nominiert. Und das ist ihr Geheimnis:

 

Erfolgsfaktor 1 – Interaktion – und die Folgen für das ästhetische Gesamtbild

Der wichtigste Unterschied zwischen echtem Onlinejournalismus und dem, was viele dafür halten (Nutzung des Kanals Online als Distributionsweg für das, was man für das Radio, die Zeitung oder das Fernsehen sowieso schon produziert hat) ist die Interaktivität. Der Nutzer hat die Chance, selbst Einfluss auf das zu nehmen, was als nächstes passiert.. Das kennt er von seinen Smartphone-Apps. Und er verlangt es mehr und mehr von journalistischen Geschichten.

Die ideale Interaktion ist so angelegt, dass der Nutzer Erzählgeschwindigkeit und –tiefe so steuern kann, dass er sich weder langweilt noch überfordert fühlt und immer wieder motiviert wird, dran zu bleiben.. Die Gamedesigner können das inzwischen sehr gut (siehe z.B. Grand Theft Auto V), Journalisten lernen noch.

„Jeder sechste ein Flüchtling“ ist in Pageflow erstellt. Das Tool erlaubt eine erste, rudimentäre Form der Interaktion. Der Nutzer steuert mit Wischen die Erzählgeschwindigkeit teilweise selbst.

Technisch betrachtet besteht ein Pagefow aus der linearen Aneinanderreihung von Informationsblöcken. Ob, und vor allem wann es weitergeht, entscheidet der Nutzer selbst durch seine Interaktion jeder Zeit – in dem Fall durch das Wischen.

Hier ist der erste große Unterschied zum Feature oder Film. Als Autor der klassischen Form muss man das Tempo der Erzählung immer wieder steigern, immer wieder Höhepunkte setzen, damit der Nutzer dabei bleibt. Etwas ruhig und mit anderen emotionalen Stimmungsalgen als „Spannung“ und „Action“ zu erzählen ist schon fast unmöglich.

Sandra Müller und Katharina Thoms ist das dank der Interaktivität gelungen. Jeder einzelne kurze „Informationsblock“ kann für sich stehen und wirkt gerade wegen der „Langsamkeit“, der emotionalen Intensität und Nähe. Das ist Tease genug für den nächsten Block.

Sandra Müller und Katharina Thoms (Bild: SWR)
Sandra Müller und Katharina Thoms (Bild: SWR)

Eine gewöhnungsbedürftige Arbeitsweise, besonders für den visuellen Teil, erzählt Katharina Thoms:

„Was wir (…) lernen mussten, ist das mutigere Denken in starken ereignislosen Momentaufnahmen und „Atmo-Bildern“. Will heißen: Beim Fotografieren darf man für so eine Webdoku nicht immer nur die Action-Szenen einfangen. Man muss bewusst auch die kleinen Details am Rande, die symbolischen Randaspekte mitnehmen.“

 

Erfolgsfaktor 2 – Empathie, die nur in einem Audioformat denkbar ist

Um authentisches, fesselndes und emphatisches Originalmaterial zu bekommen, braucht jeder Journalist Nähe zu seinen Protagonisten. Der Feind der Nähe ist der für den Protagonisten deutlich sichtbare technische Aufwand, den man auch heute noch für Bewegtbildproduktionen braucht.

Sandra Müller beschreibt die Arbeitssituation so:

„Wir arbeiten bei den Gesprächen eben erst mal ohne Kamera. Wir führen Interviews wie Radiomacher: nah, persönlich, gesprächig, „unter uns“ und unabgelenkt. Die Bilder kommen später dazu und liefern eine andere Dimension oder haben oft auch „nur“ die Funktion, das unruhige Auge eines Internet-Users einzufangen, damit er sich auf die O-Töne einlassen kann.“

Zur Verstärkung der emotionalen Wirkung von O-Tönen haben die beiden Journalistinnen noch vereinzelt Musik des italienischen Komponisten Ludovico Einaudi eingesetzt. Und – das fällt dem auf 1:30 getrimmten Radiomachern besonders auf – die O-Töne sind nie hart geschnitten. Sie dürfen langsam mit Geräuschkulisse anfangen und ebenso entspannt und genüsslich stehenbleiben – und zwar in etwa die Zeit, die es am Anfang braucht, um das erste gezeigte Bild zu erfassen, und die Zeit die es am Ende braucht, um den O-Ton in seiner Gesamtheit nachwirken zu lassen.

Dieses Timing ist laut Katharina Thoms auch der Teil, der richtig viel Arbeit gekostet hat:

„Nicht selten bauen wir eine Seite (…) drei-, viermal. Denn gerade weil das alles so minimalistisch ist, muss man den richtigen Rhythmus treffen und sehr genau nachspüren: Was kann noch weg? Was ist die Essenz? Was bringt auf den Punkt, was ist?“

 

Erfolgsfaktor 3 – Storytelling – wie eine starke Geschichte seine eigene Dramaturgie entwickelt

Es ist im Onlinejournalismus genau so, wie es schon zu Zeiten des altgriechischen Theaters war. Ohne Dramaturgie wird es langweilig. Auch eine neue Online-Erzählform wie die Webdoku mit Pageflow würde sich ohne Storytelling ganz schnell wie ein Kaugummi anfühlen (zuerst voller Geschmack und nach einer Minute nur noch zähes herumkauen).

Die Helden bei „Jeder Sechste ein Flüchtling“ sind zum Beispiel der Polizist, der für das Flüchtlingsheim zuständig ist, die Besitzerin des kleinen Bio Dorfladens oder der ehemalige Bundeswehrsoldat, der quasi ehrenamtlich die Hilfe der Dorfbewohner für die Flüchtlinge koordiniert.

Sie alle erleben das, was man im Storytelling die Methode des Berg – Erklimmens nennt. Sie beginnen ihre Arbeit mit viel Enthusiasmus und Vorfreude auf das, was Unbekanntes vor ihnen liegt. Sie treffen auf Hürden, die sie meistern. Man spürt aber von O-Ton zu O-Ton, wie die Anstrengung in ihnen wächst, wie die Hürden immer größer werden. Und zum jetzigen Zeitpunkt der Webdoku – am Ende des dritten Teils – ist ungewiss, ob es wirklich ein Happy End geben wird.

Die Autorinnen wissen es natürlich auch noch nicht. Den die Story wird weitererzählt, bis zur geplanten Schließung des Flüchtlingsheims im kommenden Jahr.

 

Das zusammen ergibt

Erfolgsfaktor 4 – Immersion

In der Medienwelt hat schon immer derjenige gewonnen, der sein Publikum an sich binden konnte. Nur die Spielregeln dafür haben sich mit Online und erst recht mit Mobile verändert. Das nächste Thema und der neue Reiz waren noch nie so leicht erreichbar wie heute – nämlich mit nur einem Wischen.

Letztlich geht es in der Online-Medienwelt nur um eins: Die Immersion, also, die tiefgehende Vereinnahmung, das Fesseln an das Thema, die emotionale Beteiligung am Erzählten. Das Gefühl, das viele der heutigen Radiomacher als Kind noch selbst erlebt haben, als sie spät abends heimlich mit dem Kopfhörer unter der Bettdecke stundenlang selbstvergessen Hörspiele gehört haben. Darum, dass bei der Mediennutzung Flow entsteht.

In den USA steht der Begriff Immersive Journalism für das Versetzen des Nutzers in die Geschichte selbst, mit Hilfe einer 3D Brille. Auf der re:publica 15 hat Jamie Pallot – einer der einflussreichsten Produzenten des neuen VR-Journalismus – auch über die Ästhetik dieser Form gesprochen. Aus seiner Sicht ist der O-Ton, das Audio, die wesentliche Spur zum Erzählen der Geschichte. Die Bilder und die Interaktion werden nur dazu gesetzt. So, wie auch „Jeder sechste ein Flüchtling“ funktioniert.

Gute Radioleute müssen sich also keine Sorgen um ihre berufliche und kreative Zukunft machen, wenn es das Radio von heute irgendwann nicht mehr gibt. Denn wer die Tonspur beherrscht hat Zukunft.

 

 

Stefan Westphal (Bild: Frîa Hagen)
Stefan Westphal (Bild: Frîa Hagen)

Über den Autor:
Stefan Westphal entwickelt für Industrieunternehmen digitale Kommunikationsstrategien und berät Medienunternehmen bei der Integration digitaler Erzählformen und Geschäftsmodelle. Bis 2012 war er Moderator und Autor bei NDR 2, anschließend veröffentlichte er ein Buch über die Weiterentwicklung des Hörfunkfeatures in eine digitale Erzählform. Stefan Westphal bloggt regelmäßig zu Themen des digitalen Medienwandels.