Kulturradio SWR2: „Menschen statt Algorithmen“

Für die meisten Radiohörer sind Kulturwellen kein tägliches Thema, man übt sich bei der Nutzung dieser Angebote eher in Zurückhaltung. Die allgemeine Erwartungshaltung geht meist in Richtung „tröge Hochkultur“ – mit vorgefertigten Meinungen wie: „Ach ja, da laufen nur Klassik und lang(weilig)e Wortbeiträge“. Wirklich?

SWR Kultur

Positiv überrascht berichten Menschen, die (eher zufällig) dann doch einmal bei einem ARD-Kulturradio landen, über ganz andere Höreindrücke – zumindest im Tagesprogramm. Wie etwa über anspruchsvolle Popmusik und Singer Songwriter, die bereits – seit langer Zeit – bei dem einen oder anderen Sender (wie SR 2 KulturRadio oder mdr Kultur) in angenehmer Koexistenz mit Klassik oder orchestraler Filmmusik ein facettenreiches Zuhören ermöglichen. Oder, wenn die Pfingstfestspiele in den Hintergrund geraten und stattdessen eine ausführliche Berichterstattung zum Tode von Tina Turner in den Vordergrund rückt. 

MusicMaster – "Music the Queen"

Man geht hier bei der ARD musikalisch eben immer mehr mit der Zeit. Wissend, dass eingefleischte E-Musik-Puristen vielleicht irgendwann gar nicht mehr die Mehrheit unter der Hörerschaft ihrer Kulturwellen stellen. Dennoch macht heute Ernste Musik – in Form von Klassik und Jazz – innerhalb der Welt der ARD-Kulturradios noch immer den weit überwiegenden Anteil an den Musikprogrammen aus. 

Alles ist aber irgendwie sehr viel durchlässiger geworden. Auch die Wortinhalte berücksichtigen heute die Popkultur ebenso selbstverständlich wie eine vertiefende Aufarbeitung von Themen des Feuilletons. Und vor allem machen sich die Bemühungen einer möglichst umfänglichen Einbeziehung der Kulturprogrammangebote in die Onlinewelt sehr sicht- und hörbar bemerkbar. Gerade bei der Durchsetzung des Genres „Podcasts“ haben die Kulturwellen in den letzten Jahren Großartiges geleistest – quantitativ wie qualitativ. 

Und dies mit offensichtlichem Erfolg: Die „gehobenen Programme (so die ARD-interne Sprachregelung) haben sich – in einem zuletzt unberechenbarer gewordenen Radiomarkt – fest behauptet. Ein Plus ihrer Reichweiten erzielten beispielsweise die Kulturwellen BR-KLASSIK, NDR Kultur, SR 2 KulturRadio, WDR3 oder SWR2. Gleiches gilt für den bundesweit ausgerichteten Privatsender Klassik Radio.


Dr. Wolfgang Gushurst leitet beim Südwestrundfunk die Hauptabteilung Kultur, Wissen, SWR2. Im Gespräch mit RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich erläutert er unter anderem die digitale Strategie, den Wandel beim Hörverhalten sowie die Veränderungen bei Inhalten und Ausrichtung von Radiokulturprogrammen.   

„Anders als im linearen Hörfunk vollzieht sich der Wandel in der digitalen Welt deutlich schneller“

GEMA Kulturpreis 2022 fbRADIOSZENE: Kurz vor Jahresende 2022 hat die GEMA Ihr Programm SWR2 mit dem „Kulturpreis“ der Musikverwertungsgesellschaft ausgezeichnet. Wie stolz macht Sie diese Belobigung? Preise wie diese werden in der schnelllebigen Hörfunkwelt ja eher selten an Kulturprogramm vergeben …

Dr. Wolfgang Gushurst: Wir sehen den Preis als eine große Bestätigung unserer Arbeit. Gewürdigt wurde die Vielfalt redaktioneller Beiträge, die starke regionale Komponente im Programm, die Nachwuchsförderung und besonders auch die Musikspezialsendungen. In unserem Team arbeiten fachlich sehr kompetente Kolleginnen und Kollegen, die mit viel Leidenschaft die verschiedenen Sendungen produzieren. Menschen statt Algorithmen – wir freuen uns sehr, dass dieses große Engagement mit diesem Preis gewürdigt wird. Gleichzeitig ist dies eine große Motivation uns auch immer weiterzuentwickeln, um die vielfältige Welt der Kultur zum Beispiel auch über digitale Ausspielwege anzubieten, um damit noch mehr Menschen anzusprechen. 

GEMA Kulturpreis 2022: Charlotte Seither mit Wolfgang Gushurst und Doris Blaich von SWR2 (Bild: © Manuel Vescoli)
GEMA Kulturpreis 2022: Charlotte Seither mit Wolfgang Gushurst und Doris Blaich von SWR2 (Bild: © Manuel Vescoli)

RADIOSZENE: Die Kulturprogramme der ARD – und SWR2 im Besonderen – halten auch in bewegten Zeiten mit konstanten Reichweiten weiter Kurs. Wie sehr schlagen sich inzwischen die durch Corona veränderten Hörgewohnheiten auch bei den Kulturprogrammen nieder? Mussten Sie hier – wie einige Kollegen bei den Popsendern – gegensteuern?

Dr. Wolfgang Gushurst: In der Corona Zeit gab es durchaus Veränderungen bezüglich der Mediennutzung im Tagesablauf durch die veränderte Situation mit Home Office et cetera. Mittlerweile hat sich das doch wieder einigermaßen stabilisiert. Was uns mittel- und langfristig eher zum Handeln zwingt, ist die veränderte Nutzung hin zu digitalen Ausspielwegen. 

RADIOSZENE: Welche zentralen Nutzungsmotive leiten Menschen heute ein Kulturradio zu hören?

SWR2 Wissen
SWR2 Wissen

Dr. Wolfgang Gushurst: Als Kulturprogramm im Südwesten haben wir natürlich eine besondere Nähe zu allen Kulturaktivitäten, die in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz stattfinden. Daneben sind es im Wesentlichen zwei Nutzungsmotive. Einerseits gibt es die Menschen die sehr gerne klassische Musik hören und diese dann auch an unterschiedlichen Stellen bei uns im Programm bekommen. Andererseits die an Wortprogramm interessierten Menschen. Wir bieten hier verschiedene Angebote von Wissenschaftssendungen über Debattenformate bis hin zu Hörspiel oder Feature.

Auch wenn unser Programm natürlich auch im Nebenbei gehört wird, gibt es doch auch einige Hörerinnen und Hörer, die sehr gezielt einzelne Sendungen ansteuern. Alles verbindet das emotionale Nutzungsversprechen Tiefgang und Entschleunigung und die besondere Nähe (auch als Kulturproduzent) zum Sendegebiet. Wir setzen uns ausgeruht und fundiert mit verschiedensten Themen auseinander und setzen so auch einen Kontrapunkt zur Hektik des Alltags.     

„Viele Menschen sind grundsätzlich offener in ihrer Musiknutzung. Sie nutzen oder tolerieren zumindest in verschiedenen Situationen verschiedenste Arten von Musik“

RADIOSZENE: In wie weit sind die Kulturwellen im Wandel? Früher war das Musikprofil mit traditionellem Jazz, Klassik und Klangkunst berechenbar ausgerichtet, heute sind bereits diverse ARD Kulturwellen mit Filmmusik, New Jazz, anspruchsvollem Pop und Rock, Singer Songwritern et cetera – auch im Tagesprogramm – durchmischt … Haben sich die Musikpräferenzen der Hörer über die Jahre gewandelt?

Dr. Wolfgang Gushurst: Die musikalische Vielfalt und die Zugänglichmachung von Musik jederzeit an jedem Ort jede Art von Musik nutzen zu können – etwa über Streamingdienste – hat sicherlich die Musikpräferenzen aber auch die Mediennutzung verändert. Viele Menschen sind grundsätzlich offener in ihrer Musiknutzung. Sie nutzen oder tolerieren zumindest in verschiedenen Situationen verschiedenste Arten von Musik. Es ist nicht ungewöhnlich an einem Abend in ein klassisches Konzert zu gehen und am nächsten Tag bei einer Party bei Popmusik „abzufeiern“. Die Kulturprogramme versuchen sich darauf einzustellen.

RADIOSZENE: Welches Konzept verfolgen Sie bei SWR2?

SWR2-Treffpunkt Klassik

Dr. Wolfgang Gushurst: Die Vielfalt eines Kulturprogramms kann man nur erhalten durch klar profilierte Sendungen. Eine zu wilde Durchmischung von verschiedensten Musikstilen führt nur dazu, dass man kaum jemanden zufriedenstellen kann. Wir haben daher klar aufgestellte Sendungen mit „klassischer“ Musik wie Treffpunkt Klassik oder dem Mittagskonzert, Spezialmusiksendungen in verschiedenste Richtungen am Abend oder auch Magazinsendungen mit populärer Musik, wie zum Beispiel das aktuelle Wissenschaftsmagazin Impuls. Eine klare Profilierung von Einzelsendungen besonders auch im Wortbereich, macht eine zielgerichtete, zeitsouveräne digitale Nutzung erst möglich. 

RADIOSZENE: Heute rücken bei SWR2 immer mehr auch Ereignisse aus Popbereich in den Fokus der Berichterstattung. Wie balancieren Sie die Gewichtung zwischen eher traditionellem Feuilleton, Popkultur und sonstigen Themen aus?

Dr. Wolfgang Gushurst: Der Kulturbegriff hat sich zunehmend erweitert. Im sog. traditionellen Feuilleton ist Popkultur schon längst angekommen. Wir versuchen bei uns im Programm auch Phänomene aus der Popkultur einzuordnen und vertiefend darüber zu berichten. Wichtig ist die Herangehensweise und entscheidend bei der Auswahl ist die Frage wie relevant ist ein Thema für unser Publikum. 

RADIOSZENE: Das Durchschnittsalter von SWR2 – wie auch das der meisten anderen Kulturangebote – ist relativ hoch. Über welche Wege versuchen Sie mehr junge Hörer von Ihrem Programm zu begeistern?

Dr. Wolfgang Gushurst: Das Durchschnittsalter von SWR2 liegt aktuell bei 58,5 Jahre (MA 2023/I) und ist jüngst wieder etwas gesunken. Grundsätzlich ist das Durchschnittsalter doch sehr konstant in den vergangenen Jahren geblieben, das heißt,  die oft prognostizierte Alterung findet hier nicht statt. Wir verändern und modernisieren das lineare Hörfunkprogramm aber auch permanent. Das alles muss in der richtigen Geschwindigkeit passieren, um neue, jüngere Hörerinnen und Hörer zu gewinnen und bestehende Hörerschaften zu halten.

SWR2 Kultur - Alle Sendungen auf einen Blick (Bild: SWR)

Wir haben in den vergangenen Jahren zum Beispiel auf Grundlage einer qualitativen Untersuchung zur Morgensendung diese optimiert, wir arbeiten im Bereich Moderationscoaching permanent an der Ansprache, das Programmschema wurde hin zu klarer profilierten Sendeflächen am Tag umgebaut, das Abendprogramm wurde verändert und Ressourcen dort herausgezogen, um mehr im Digitalen zu machen et cetera.

„In der digitalen Entwicklung liegt ein Schwerpunkt unserer derzeitigen Arbeit“

RADIOSZENE: Stichwort digitale beziehungsweise nicht-lineare Strategie, Audiotheken und Podcasts. Ein Blick auf Ihre Online-Präsenz zeigt, dass hier inzwischen ganz offensichtlich ein – wenn nicht DER – zentrale Schwerpunkt Ihrer Arbeit liegt … Wie intensiv ist das lineare Programm von SWR2 heute mit den Möglichkeiten der Online-Welt verbunden?

Dr. Wolfgang Gushurst: Das ist richtig. In der digitalen Entwicklung liegt ein Schwerpunkt unserer derzeitigen Arbeit. Ein großer Vorteil für Dual Use Formate ist die Struktur eines Einschaltradioprogramms mit klar profilierten Sendeformaten. SWR2 Wissen ist zum Beispiel eine tägliche Hörfunksendung in SWR2 und zugleich einer der erfolgreichsten Wissenspodcasts im deutschsprachigen Raum überhaupt. Wir versuchen diese in sich abgeschlossenen Sendeformate für die digitale Welt zu optimieren und über die ARD-Audiothek und Drittplattformen neuen Hörerschichten zugänglich zu machen. Hier erreichen wir dann tatsächlich auch Menschen, die wenig oder kein Radio mehr hören.

FAKT AB! (Bild: SWR2)

Durch den strategischen Umbau von linear zu digital haben wir auch einige neue Online Only Podcasts entwickelt, wie beispielsweise im Bereich True Crime „Sprechen wir über Mord“, das Filmmusikformat „Score Snacks“, das junge Wissenschaftsformat „Fakt ab“ oder Debattenformate wie „Was geht was bleibt“. Anders als im linearen Hörfunk vollzieht sich der Wandel in der digitalen Welt deutlich schneller. Wir probieren viel aus, testen Formate, beenden sie aber auch wieder, wenn sich der erhoffte Erfolg bei einem anvisierten Publikum nicht einstellt. Daneben bereiten wir gerade einen größeren Umbau der eigenen Webseite vor und haben unsere Social Media Auftritte weiter optmiert.    

RADIOSZENE: Besteht mit dieser verstärkten Orientierung zum Abruf angebotener Audiodienste nicht auch die Gefahr der Abwanderung von klassischen Radiohörern? Das Hören von Podcasts und externer Audiobeiträge ist in den Nutzungsdaten der halbjährlichen ma-Erhebungen ja noch nicht darstellbar …

Dr. Wolfgang Gushurst: Auch wenn das Medienzeitbudget im Laufe der Jahre größer geworden ist, konkurriert. lineares Radio mit digitalen Angeboten. Im besten Fall ergänzen sich beide Nutzungsarten. Radio hat für viele Menschen nach wie vor eine eigene Faszination. Die Nutzungszahlen beweisen das ja auch. Aber: Die Veränderungen im Mediennutzungsverhalten – zeitsouveräne Nutzung, Streamingdienste et cetera – haben besonders in der jüngeren Generation eine starke Dynamik. Deswegen müssen wir uns darauf einstellen und entsprechende Angebote erstellen. Laut Medienforschung wird der Kipppunkt im Radio, damit ist der Zeitpunkt gemeint, ab dem mehr als 50% Audio digital nutzen, aber erst irgendwann nach 2030 erreicht. Für ältere Zielgruppen entsprechend noch etwas später. Diese Zeit werden wir nutzen um uns auf die neue Situation einzustellen. 

RADIOSZENE: SWR2 wurde in 2021 einem Relaunch unterzogen. Mit diesen Veränderungen ist die Kultur im SWR Hörfunk, Fernsehen und Online-Bereich näher zusammengerückt. Inzwischen wurde bekannt, dass das Radioprogramm SWR2 ab 2024 in SWR Kultur umfirmiert wird. Werden weitere Veränderungen folgen?

WOLFGANG-GUSHURST (Bild: SWR2)
WOLFGANG-GUSHURST (Bild: SWR2)

Dr. Wolfgang Gushurst: Die Einführung von SWR Kultur ist ein weiterer Schritt im Umbauprozess des SWR im Zusammenhang mit den Herausforderungen der Digitalisierung. Das Ziel ist, einen festen Anlaufpunkt für die Kultur im und aus dem Südwesten in der digitalen Welt zu schaffen und diesen zu etablieren, damit die Sichtbarkeit von öffentlich-rechtlichen Kulturthemen weiter verbessert wird. Für seinen ‚Auftragskern‘ Information/Nachrichten hat der SWR diesen ‘Knotenpunkt’ mit SWR Aktuell schon geschaffen, mit sehr guten Erfahrungen in der übergreifenden Zusammenarbeit. Bislang haben wir so eine zentrale ‘Anlaufstelle’ für die Kultur noch nicht, dabei entstehen an vielen verschiedenen Stellen im SWR Kulturinhalte. Diese sollen durch den gemeinsamen Absender auch besser miteinander verknüpft werden. Die SWR2 Social Media Accounts wurden bereits umbenannt. Ein neues TV-Kulturformat SWR Kultur ist entstanden, die SWRClassic Auftritte werden in den Kulturkosmos integriert und nächstes Jahr eben auch das Hörfunkprogramm SWR2. Der Markenkern für das Hörfunkprogramm bleibt gleich. Veränderungen erfolgen weiter schrittweise aus den oben genannten Gründen. Das Hörfunkprogramm ist und bleibt ein wichtiger Bestandteil von SWR Kultur.

„Laut Medienforschung wird der Kipppunkt im Radio, damit ist der Zeitpunkt gemeint, ab dem mehr als 50% Audio digital nutzen, erst irgendwann nach 2030 erreicht“

RADIOSZENE: In diesem Jahr begeht der Hörfunk in Deutschland seinen 100sten Geburtstag. Wird sich dieses Jubiläum auch bei SWR2 widerspiegeln?  

Dr. Wolfgang Gushurst: 100 Jahre Radio heißt nicht nur den Blick in die Vergangenheit werfen, sondern auch die Weiterentwicklung, die Zukunft von Radio zu betrachten. Wie wird Radio in der digitalen Welt rezipiert? Was wird sich verändern – Stichworte KI, Smart Speaker Nutzung et cetera? Das sind die Fragen, denen wir uns stellen. Natürlich werfen wir auch einen Blick zurück. So produzieren wir zum Beispiel für das ARD Radiofestival eine fünfteilige Halbstundenserie zu großen Radiomomenten. 

RADIOSZENE: Was macht das Radio heute für Sie persönlich besonders gut?

Bild: SWR

Dr. Wolfgang Gushurst: Radio hat für viele Menschen immer noch etwas Faszinierendes, wenn man zeitgleich mit vielen anderen Menschen bei bestimmten Ereignissen den gemeinsamen Moment teilt – ob bei der ARD Bundesligaschlusskonferenz (in diesem Jahr sensationell) oder bei einer Liveübertragung von den Schwetzinger Festspielen, wenn meine Lieblingsmoderatorin oder mein Lieblingsmoderator mich an die Hand nimmt und durch eine Sendung führt. Und es ist immer klasse, wenn ich bei SWR2 Sendungen höre zu Themen, von denen ich zuvor gar nicht gewusst habe, dass sich mich interessieren und begeistern.

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