Horst Müller: Armer Zonen Hotte

Horst Müller im R.SH-Mobil
Horst Müller im R.SH-Mobil

Von Horst Müller (blogmedien.de)

Dem 9. November 1989 habe ich viel mehr zu verdanken, als nur einen albernen Spitznamen. Ein paar persönliche Anmerkungen zu dem Tag, der langsam in Vergessenheit gerät.

 

Als die „Mauer fiel“, habe ich tief und fest geschlafen. So tief, dass mich nicht einmal der Anruf meines damaligen Kollegen Alexander von Humboldt aus dem Hamburger Studio von Radio Schleswig-Holstein erreichte. In der Nacht zuvor war ich nach Bremerhaven gefahren, weil dort an der Columbuskaje das Fährschiff „Hamburg“ erwartet wurde, das in der deutschen Bucht mit einem Containerschiff kollidiert war. Drei Menschen waren bei dem Unglück ums Leben gekommen. Den ganzen Tag über hatte ich aus Bremerhaven für R.SH und etwa ein Dutzend weiterer Radiostationen so genannte „Aufsager“ gemacht, Beiträge abgesetzt und Kollegengespräche geführt. Für einen Tag stand zumindest im Norden der damaligen Bundesrepublik nicht die „friedliche Revolution“ in der DDR im Mittelpunkt der Berichterstattung, sondern das Schiffsunglück. Abends bin ich dann zurück nach Hamburg gefahren, habe noch einige Berichte für den folgenden Morgen produziert und bin zuhause todmüde ins Bett gefallen.

Was da am Abend des 9. November passiert ist, erfuhr ich erst, als ich am nächsten Morgen gegen 5 Uhr in unserem Studio an der Hamburger Deichstraße ankam, die voll von Trabis und Wartburgs war. Vier junge Männer aus der Nähe von Schwerin, die wie viele andere auch, noch in der Nacht nach Hamburg gekommen waren, klärten mich begeistert auf: „Die Mauer ist weg!“ Ich nahm sie mit ins Studio, interviewte sie für die Frühsendung und verabredete mich für den übernächsten Abend mit ihnen zur Dorfdisco im mecklenburgischen Dorf Warsow. Diese Verabredung konnte ich nur deswegen einhalten, weil ich – damals glaubte – „schwarz“ in die noch existierende DDR einzureisen und – wie ich später erfuhr – mit dem „Segen“ der Stasi auch wieder auszureisen. Was ich damals noch nicht ahnen konnte – mein erster Besuch in der „untergehenden“ DDR sollte mein damals immerhin schon 37 Jahre altes Leben noch einmal völlig auf den Kopf stellen: zunächst beruflich, später auch privat.

Horst Müller Anfang 1990 im R.SH-Studio in Schwerin
Horst Müller Anfang 1990 im R.SH-Studio in Schwerin

Weil ich mich in den Wochen nach dem „Mauerfall“ mit Unterstützung von Aktivisten der Bürgerbewegung Neues Forum in Schwerin regelrecht einnistete und laufend Sendeplätze für meine Berichte verlangte, erhielt ich von den sichtlich genervten Kollegen in der Kieler R.SH-Zentrale bald den Spitznamen „Zonen Hotte“. Das hat mich eigentlich weniger gestört. Dass einige meiner Kollegen mitten in der Wende „Business as usual“ betrieben, dagegen schon mehr. Immerhin, ich hatte seinerzeit spannende Monate im Osten. Vor allem in Mecklenburg hatte ich in meinem R.SH-Espace so etwas wie Narrenfreiheit: Im Frühjahr 1990 wurde ich in Bad Doberan von den „Vopos“ mit völlig überhöhter Geschwindigkeit geblitzt und gestoppt. Statt einer saftigen Geldstrafe erhielt ich vom Genossen Volkspolizisten das Angebot, mich nach Rostock zu einer Wahlveranstaltung der SPD zu eskortieren, weil „sie es doch sicherlich eilig haben“. Kurz bevor die DDR-Volksmarine im Sommer 1990 aufgelöst wurde, bekam ich in Rostock sogar noch einen Orden verliehen – weil ich mich nach Auffassung des Admirals und seines Presse-Adjutanten so für die Verständigung der beiden deutschen Völker eingesetzt hatte (den Beweis für die Auszeichnung kann ich leider nicht mehr antreten, weil ich Orden und Urkunde bei unserem Umzug von Oberbayern nach Hamburg vor gut zwei Jahren irgendwie verbummelt habe).

Zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung war ich viele Male im damaligen Ost-Berlin und berichtete über die Sitzungen des ersten frei gewählten DDR-Parlaments. Ich interviewte Angela Merkel und Joachim Gauck, als sie fast noch niemand kannte und ich rief regelmäßig den damaligen DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel morgens zu Hause an, um besonders energiegeladene O-Töne für R.SH und weitere Radiostationen einzufangen. Ein exklusiver O-Ton, den ich im Frühjahr 1990 in Rostock aufgenommen hatte, wurde allerdings nie gesendet. Es war die Bestätigung, dass Wolfgang Schnur, der damalige Spitzenkandidat der CDU-nahen Allianz kurz vor der ersten freien Volkskammerwahl als Stasispitzel enttarnt worden war. Wie sich spätere herausstellte, hatte eine Praktikantin meinen aus dem damaligen Warnow-Hotel telefonisch abgesetzten Beitrag versehentlich gelöscht. „Armer Zonen Hotte“, veräppelte mich am nächsten Tag ein Kollege in der Kieler Nachrichtenredaktion – mit sehr viel Ironie in der Stimme. Zu unser beider Glück war er schneller als ich, so dass ich ihn auf der Jagd durch das Funkhaus Wittland nicht zu fassen bekam…

Ernennung zum Professor mit Sabine Kilger und dem damaligen Dekan – und heutigen Rektor der Hochschule – Prof. Dr. Ludwig Hilmer
Ernennung zum Professor mit Sabine Kilger und dem damaligen Dekan – und heutigen Rektor der Hochschule – Prof. Dr. Ludwig Hilmer

Dennoch – die Zeit von November 1989 bis Oktober 1990 war die spannendste und wohl auch erfolgreichste berufliche Periode in meinem Leben. Und der Mauerfall war letztlich auch Grundlage für weitere Stationen: Vermutlich wäre ich wohl nie Chef eines Radiosenders „im Osten“ geworden und hätte ganz bestimmt keine Professur an einer Hochschule erhalten. Vor allem hätte ich wohl  nicht Inge Seibel  getroffen, die Mitte der 1990er Jahre Programmchefin von Antenne Thüringen war und heute Mutter unserer wundervollen 17jährigen Tochter Julia ist. Was ist dagegen schon so ein alberner Spitzname…?

Von Horst Müller (blogmedien.de)