Die „Offiziellen Deutschen Musik-Charts“ waren und sind innerhalb der Radiobranche stets ein umstrittenes Thema: von „sehr relevant“ bis „komplett unwichtig geworden“ lauten die Meinungen, wenn man sich bei den Musikverantwortlichen der Sender umhört. Auch wenn für die Hörfunker inzwischen andere Indikatoren – wie die eigenen Musiktests, Airplay-Charts, Streaming-Zählungen oder Shazam – bei der Findung neuer Trends eine höhere Bedeutung haben, so ganz außen vor sind die wöchentlichen Ergebnisse der Top 100 bei der Musikplanung nun aber doch nicht. Schließlich dokumentieren die Single-Charts inzwischen gleichwohl die extrem gewachsene Bedeutung von Streaming, und die Album-Charts liefern weiter eine doch recht umfassende und aussagekräftige Betrachtung des bezahlten Musikkonsums.
Ein vielseitiges Regelwerk, das – wie Spötter anmerken – „ein Meistermerk deutscher Ingenieurskunst darstelle“, garantiert zudem eine valide Spiegelung des nationalen Marktgeschehens.
Lange Jahre wurden diese Bestenlisten durch die Baden-Badener Firma Media Control ermittelt. Im Jahr 2003 stieg die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) mit in die Chart-Ermittlung ein, es entstand Media Control GfK International. 2013 übernahm die GfK vollständig die Charterstellung. Mit einher ging eine Umfirmierung der Musik-Hitparaden in „Offizielle Deutsche Charts“. Derzeit werden durch GfK Entertainment regelmäßig folgende Hitlisten ermittelt: Single-Charts, Album-Charts, Compilation-Charts, HipHop-Charts, Dance-Charts, Schlager-Charts, Klassik-Charts, Jazz-Charts, Vinyl-Charts, Download-Charts, Streaming-Charts, Musikvideo-Charts sowie Comedy-Charts.
Zudem sind die Baden-Badener Chart-Spezialisten mit Hitlisten in den Bereichen Buch, Hörbuch, Video (DVD, Blu-ray) und Games (Konsole, PC) in den jeweiligen Märkten präsent.
Zum Anfang des Jahres wurden die Erhebungskriterien für die Offiziellen Charts neu definiert. Über die Veränderungen und aktuelle Entwicklungen im Musikmarkt sprach RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich mit GfK Entertainment-Geschäftsführer Dr. Mathias Giloth.
RADIOSZENE: Zum Jahresbeginn 2019 änderten sich die Regeln für die Erhebung der Offiziellen Charts. Was genau wird nun anders ermittelt?
Dr. Mathias Giloth: Es geht vor allem darum, dem vermehrt großen Interesse der Konsumenten an „Deluxe & Fan“-Editionen gerecht zu werden. Deshalb wurden die Chartregeln weiter geöffnet, indem die chartrelevanten Einschränkungen für solche Beigaben reduziert wurden. Natürlich muss gleichzeitig gelten, dass die Künstler oder die Musik dabei nicht in den Hintergrund geraten. Seit dem 4. Januar 2019 (Chartwoche 2/2019) ist in den Offiziellen Deutschen Charts der Grundsatz weggefallen, dass der Wertbestandteil der Produktbeigabe aus Sicht der Verbraucher nicht mehr wert sein darf als der Bild-/Tonträger selbst. Gleichzeitig wurde jedoch der maximale Verkaufspreis bei der Berechnung der Verkaufswerte von € 50,- auf € 40,- pro Produkt und Transaktion gesenkt. Die entsprechenden Passagen können in der Systembeschreibung unter den Punkten 4.5 und 5.3 nachgelesen werden.
RADIOSZENE: Welche Effekte erwartet sich Ihr Auftragsgeber, der Bundesverband Musikindustrie (BVMI), von diesen Neuregelungen?
Dr. Mathias Giloth: Der BVMI ist stets bestrebt, die Charts marktgerecht zu halten, um den Konsumenten eine gute Orientierung über den aktuellen Musiktrends zu bieten und die Marktzugänge zu erleichtern. Die Regularien der Charts müssen deshalb auch immer den aktuellen Marktentwicklungen angepasst werden. Im Vordergrund stehen bei dieser Regeländerung die Musikfans und ihr gestiegenes Interesse an „Deluxe & Fan“-Editionen, das in den Offiziellen Deutschen Charts entsprechend noch transparenter abgebildet wird.
„Streaming hat sich im vergangenen Jahr weiterhin sehr positiv entwickelt und erzielt bei den Single-Charts einen Großteil der Erlöse“
RADIOSZENE: Zumindest bei den Single-Charts schlägt der Streaming-Faktor offenbar nun sehr deutlich durch. Dies war beispielsweise gerade in der Weihnachtswoche sichtbar, als 54 Christmas Songs in den Offiziellen Charts platziert waren, von denen zumindest ein Teil kaum über den physischen Verkauf stammen können. Wie stark macht sich Streaming bereits bei den Charts-Ergebnissen bemerkbar?
Dr. Mathias Giloth: Streaming hat sich im vergangenen Jahr weiterhin sehr positiv entwickelt und erzielt bei den Single-Charts einen Großteil der Erlöse. Bei den Album-Charts überwiegen dagegen nach wie vor die physischen Verkäufe, wobei Streaming die Downloads mittlerweile auch hier deutlich überholt hat.
RADIOSZENE: Wie hoch ist bei der Zusammenstellung der Charts konkret der Gewichtungsfaktor von Streaming?
Dr. Mathias Giloth: Zunächst ist es wichtig, den durchschnittlichen Wert eines Premium-Abos zu ermitteln, da es mittlerweile eine Vielzahl unterschiedlicher Varianten gibt – Einzelpaket, Familienabonnement, Bundle (zum Beispiel in Verbindung mit einem Mobilfunkvertrag), Aktionsangebot etc. Dieser Durchschnittswert wird anschließend mit der Gesamt-Anzahl an Premium-Accounts multipliziert und dann durch die Anzahl der durch Premium-Nutzer getätigten Streams geteilt. So ergibt sich ein aussagekräftiger Streaming-Wert, der halbjährlich überprüft und gegebenenfalls angepasst wird.
RADIOSZENE: Wird es heute nicht immer schwieriger noch teilnehmende Händler für die Chart-Ermittlung zu gewinnen? Wie viele physische Vertriebsstellen nehmen an der Erhebung teil?
Dr. Mathias Giloth: Das Interesse, Chartmelder zu werden, ist nach wie vor sehr groß – sowohl im stationären Handel als auch im E-Commerce und bei den Download- und Musik-Streaming-Anbietern. Insgesamt senden über 2.800 Verkaufsstellen ihre Daten an GfK Entertainment. Die Marktabdeckung liegt bei 90 Prozent – das heißt wer in den Offiziellen Deutschen Charts auf 1 landet, der ist auch wirklich über alle Verkaufs- beziehungsweise Musik-Streaming-Kanäle am erfolgreichsten.
RADIOSZENE: Welche weiteren Trends lassen sich derzeit aus den Offiziellen Deutschen Charts ablesen?
Dr. Mathias Giloth: Der Trend zu Musik „Made in Germany“ setzt sich fort: Zwei Drittel der Album-Jahrescharts 2018 besteht aus deutschen beziehungsweise deutschsprachigen Künstlern, das ist schon sehr stark. Bei der Top 10 sind es sogar neun von zehn Interpreten. Ansonsten sind HipHop und Dance populär: Rund ein Fünftel der 100 erfolgreichsten Singles 2018 stammt von deutschsprachigen Rappern. Dance-Künstler waren unter anderem für den erfolgreichsten Song 2018 („In My Mind“) und den Sommerhit („Bella Ciao“) zuständig. Bei den Formaten greifen Musikfans auf eine immer größere Auswahl zurück: von der Standard-CD über die Deluxe-Version bis hin zur Live-DVD/Blu-ray. Auch Best Of-Alben und remasterte Versionen bereits bekannter Werke erfreuen sich großer Beliebtheit.
„Rund ein Fünftel der 100 erfolgreichsten Singles 2018 stammt von deutschsprachigen Rappern“
RADIOSZENE: Die Offiziellen Single-Charts waren stets ein Gradmesser für den Musikgeschmack der Deutschen. Innerhalb der Radiobranche hat deren Bedeutung nachgelassen, da – so die Meinung vieler Programmmacher – die Ergebnisse in manchen Wochen von sehr zahlreichen Eintagsfliegen aus Top-Alben aus dem HipHop/Rap-Genre überlagert werden, die nach kurzer Zeit bereits wieder verschwunden sind. Bei Nummer 1 Alben – beispielsweise aus den Segmenten Schlager oder Rock – sei dieser Effekt weniger festellbar. Beständigkeit und Glaubwürdigkeit ließen sich auf diese Weise schwer ablesen. Was setzen Sie diesen Argumenten entgegen?
Dr. Mathias Giloth: Die Offiziellen Deutschen Charts zeigen Woche für Woche, was Deutschlands Musikfans über alle Verkaufs- und Musik-Streaming-Kanäle hinweg am liebsten hören. Das Musikprogramm im Radio wird meist von Redakteuren zusammengestellt. Trotzdem haben die Offiziellen Deutschen Charts auch für Radiomacher weiterhin eine hohe Bedeutung, egal ob es um die Charthistorie, neue Rekorde oder aktuelle Trends geht. Wann immer der Erfolg eines bestimmten Titels in Deutschland behandelt wird, kommt man an den Offiziellen Deutschen Charts als zentralem Branchenbarometer nicht vorbei. In manchen Fällen sind viele Tracks eines Albums kurzfristig stark in der Hitliste vertreten. Diese Entwicklung wird genau beobachtet, damit gegebenenfalls darauf reagiert werden kann. Auch die zunehmende Segmentierung im Musikmarkt spielt eine Rolle – auch wenn zum Beispiel die Top 10 der Single-Jahrescharts 2018 fast allesamt radiotaugliche Songs sind.
RADIOSZENE: Wie wird sich der Musikmarkt 2019 entwickeln – halten die letztjährigen Erfolgsgeschichten von Streaming und HipHop/Rap an? Oder sind gar neue Trends in Sicht?
Dr. Mathias Giloth: In einem dynamischen Unterhaltungsbereich wie dem Musikmarkt sind langfristige Prognosen meist schwierig. Streaming wird seine herausragende Stellung sicherlich weiter festigen, und auch ein Ende des Trends zu deutschen Künstlern, HipHop-Musik und Schlager ist angesichts anstehender Top-Veröffentlichungen nicht abzusehen. Insgesamt ist das Repertoire sehr breit gefächert und wir freuen uns auf ein spannendes, abwechslungsreiches Musikjahr 2019.