Am
Tag nach dem Tsunami saßen Männer im Hafen von Phuket
in Straßencafés und genossen ihre Pausenzeit. Rings
umher lagen Trümmer. Die Stimmung war entspannt. Die Thais,
sagte ein Fernsehreporter, seien Gemütsmenschen. Mag sein. Mag
andererseits auch sein, daß die Männer ihren Kaffee nicht
des Gemüts wegen tranken, sondern weil sie müde waren und
weitere Leichen zu beseitigen hatten.
Am Morgen
des zweiten Weihnachtsfeiertages rumpelte der Meeresboden westlich
und nahe der Insel Sumatra, am östlichen Ende des Indischen
Ozeans. Auf einer gewaltigen Fläche sackte der Grund um zehn Meter
in die Tiefe. Oben grub sich ein riesiges Loch in die Wasseroberfläche,
das sich konzentrisch als gewalttätige Welle ausbreitete. Je nach
Entfernung dauerte es Minuten oder Stunden, bis die Welle auf flaches
Wasser traf, sich dort auftürmte und dann das Land einrannte.
Die Küste Sumatras war zuerst dran, dann die Westseite des südlichen
Thailand, die mittendrin liegenden Andamanen- und Nikobaren-Inseln,
das südasiatische Festland, die Insel Ceylon und die Malediven.
Richtung Westen war die Entfernung etwas größer, aber als
die Welle dort nach einigen Stunden auf Afrika schlug, tat sie immer
noch weh.
Gleich
nach den ersten Verwüstungen lief die globale Medienmaschine
an. Britische, amerikanische und französische Sender und Agenturen
vermeldeten zunächst zusammenhanglos lokale Katastrophenberichte,
die sie dann sehr schnell in einen Zusammenhang verdichteten.
In Deutschland
war Sonntag, zweiter Weihnachtsfeiertag. Die Besatzungen von Radios,
Fernsehen und dpa verdauten ihre Gänsekeulen. Träge
nahm die geneigte Fachöffentlichkeit Kenntnis von einer gewissen
Flut, die am Ende der Welt ein paar Küsten benetzt haben sollte.
Wir Deutschen neigen ja eher selten dazu, die Dinge überhastet
anzugehen. Erstmal in Ruhe alles wirken lassen, bloß keine unbestätigten
Gerüchte verbreiten, und wer weiß: Vielleicht ist ja alles
nicht so schlimm.
Montag
war dann medial der eigentliche Tag 1. Kurz vor Ende des gesetzlichen
Ladenschlusses, hatte sich alles geändert. Es gab nur noch ein
Thema. Sogar die Wahl in der Ukraine, die planmäßig auf
der Tagesordnung gestanden hätte, schaffte es nur noch auf die
Zwei. Schon nach ein paar Stunden offenbarte sich ein Dilemma, das
sich in den nächsten Tagen noch verstärken sollte: Wie die
Nachrichten beginnen? Wie die unüberschaubare Masse an Einzelmeldungen
sortieren? Und so waren es viele, die den einfachsten Weg gingen und
erstmal abzählten: 3.000 Opfer, 3500, 4.000, und alle zusammen...
Der populärste Politiker unseres Landes bewahrte dabei Ruhe.
Wie dankbar haben wir alle seine fixe Idee aufgegriffen, daß uns
Deutsche das im Grunde nicht viel anginge, denn es gäbe ja keine
Hinweise auf deutsche Opfer. Da sei die deutsche Grundtugend davor,
die der einstige Kulturrevolutionär Fischer bestens inhaliert
hat: Er sandte Experten in die Region, auf das sie dort in typischer
beamtiger Verwaltungsmanier Konsulate verstärkten und Büros
eröffneten. Was die Chronisten ehrfürchtig in ihre Blöcke
schrieben und in ihre Mikrofone sprachen. Was für ein zauberhaftes
Wort: Experte! Echte Experten! Gar ministerielle Experten! Solche,
die erstmal Büros eröffnen, klar, was sonst? Experte – wofür
eigentlich? Gibt’s in Deutschland neuerdings Experten für
Tsunami-zerschlagene Paradiese mit höllisch vielen Toten?
Tag 2.
Die thailändischen und sonstigen Gemütsmenschen trugen
die Ärmel noch immer hochgekrempelt. Das Wasser war wieder abgezogen
und hatte viel mitgenommen, was man gern im Trockenen bewahrt hätte.
Die in die Katastrophe entsandten Reporter (Fernsehen, Zeitung, Öffentlich-Rechtlich)
entdeckten Khao Lak, eine Strandlandschaft in Thailand, in der das
Chaos zu sehen und detailliert zu begreifen war. Jetzt war endgültig
Schluß mit der netten Vision, man sei Zuschauer, der mit kribbeliger
Gänsehaut einen Gruselfilm im TV glotzte. Plötzlich war klar,
daß die tausenden deutschen Urlauber, von denen niemand eine
Spur gefunden hatte, wohl doch nicht von liebenswürdigen Aliens
mal kurz auf einen Ausflug gebeamt worden waren, sondern tot im Schlamm
lagen. Tot wie Thais und Inder, Franzosen und Schweden.
Tag 3.
Politik-Deutschland schlief weiter, was Mediendeutschland nicht besonders
auffiel – sei es, daß man eh nichts anderes gewohnt
ist, sei es, daß die Obrigkeit stets Recht zu haben geruht. Des
Herrn Fischers Amt tat die unübersehbaren Fakten erstmal pikiert
als Gerücht ab, dem man aber immerhin nachgehen werde. Die Bravheit
der Medienarbeiter ließ sie sogar darüber hinwegsehen, daß darin
eigentlich eine Beleidigung lag, Denn es überschlugen sich die
Reportagen, die Aussagen der Hoteldirektoren, die amtlichen Bestätigungen
der Thais, daß es hunderte Urlauber hinweggerafft habe. Mindestens.
Und der Herr Minister nannte das „Gerüchte“. Haben
wir das auch so empfunden, als wir das sendeten? Tatsächlich klang
das Amtsgerede von den Gerüchten, das gerade noch ehrfuchtsvoll
auf die Sender geklaubt worden war, plötzlich hohl und lächerlich.
Derart hohl und lächerlich, daß der populärste Politiker
Deutschlands und oberste Urheber dieser Lächerlichkeit um sein
Ansehen zu fürchten hatte. Und siehe da: Bedeutungsschwanger räumte
er in der Mitte des Tages 3 eine „dreistellige Zahl“ an
deutschen Toten auf Thailands Stränden ein. Vom Blatt abgelesen,
damit ihm kein Fehler unterlaufe, statt der dreistelligen er vielleicht
von einer vierstelligen Zahl rede, das Gesicht in sorgenvolle Knitterfalten
gelegt, grad so, als verlese er eine weltverbessernde Predigt vor der
UNO-Vollversammlung. Und großzügig sei man ja auch, die „Soforthilfe“ sei
doch verdoppelt worden. Laut: Verdoppelt. Und leise: Auf 2 Millionen
Euro. Wie er das sagte, klang es gerade so, als habe er sein persönliches
Konto geplündert. Dabei war es ja Steuerzahlers Konto, der ob
der Großzügigkeit des populärsten Ministers aller Deutschen
wohl ehrfurchtsvoll erschauern sollte. Hier wäre es an den Medienschaffenden
gewesen, die schnelle Spendabilität solcher Länder wie Irland,
Norwegen oder auch den (zu Unrecht kritisierten) USA zu erwähnen.
Aber das taten nur wenige. Hätte ja auch arm ausgesehen, vielleicht
nicht staatstragend genug. Immerhin wußte der Minister zu verkünden,
es könne bedrückend werden. Wer hätte das gedacht!
Tag 4.
Um 10 wurde der Krisenstab zur Chefsache. Nach vier Stunden Chefsache
wußte der Kanzler Bescheid. Alle läuft super,
der Krisenstab sei Spitze. Mediendeutschland war weiter und stellte
die Kanzlerworte zusammenhanglos neben die anderslautenden eigenen
Erkenntnisse. Im Fernsehen meldete sich ein Urlauber, der auf die Seite
der freiwilligen Helfer gewechselt war und klagte, es lägen so
viele Verletzte herum, es finde sich bloß niemand, der sie operieren
könne. Dpa hatte am Morgen noch gemeldet, das legendäre MedEvac-Flugzeug
der Bundeswehr sei in Phuket gelandet. Doch niemand fand es dort. Dpa
meldete dann, die Ankunft verzögere sich noch ein bißchen.
Wer beim Verteidigungsministerium anrief, der erfuhr, die Piloten hätten
ihre gesetzlich festgelegte Dienstdauer in Abu Dabi erreicht und müßten
erstmal pausierten. Darum komme der Spitalsflieger erst in der Nacht
am Einsatzort an. Umso erstaunlicher, als der Kanzler kurz darauf verkündete,
der Flieger sei schon eingetroffen. Wie bitte? Was denn nun? Zwei Anrufe
klärten die Lage: Der Kanzler war im Chaos versunken, und das
Presseamt bat um Verzeihung. Tag 4 war dann der Tag, an dem die Flaggen
auf Halbmast sanken und die Soforthilfe auf konkurrenzfähige 20
Millionen verzehnfacht wurde. Was macht wohl so ein Krisenstab? Er
gewinnt Erkenntnisse, die Mediendeutschland bereits hatte. Nur langsamer.
Was hat das jetzt mit uns und mit dem Radio zu tun?
Eine Menge, oder gibt es irgendwo einen Sender, der das Ereignis nicht
in dieser oder jener Art on Air hatte?
Von der
Vorstellung, irgendein Hörer könne sich jetzt ausdrücklich
dazu entschieden haben, wegen der Südasien-Berichterstattung den
eigenen Sender einzuschalten, sollten wir uns freilich verabschieden – wenn
wir denn überhaupt so etwas geglaubt haben sollten. Das gilt vor
allem die meisten Privatradios – deshalb, weil dort der alltägliche
Schwerpunkt eben nicht auf den Nachrichten und Informationsteilen liegt,
sondern auf Musik und Unterhaltung. Für die Sender ist das eine
einfache Rechnung. Information – das ist eben so – kostet
verhältnismäßig viel Geld. Sie kostet außerdem
eine Menge an Aufwand. Information ist in Deutschland historisch bedingt
immer noch eine öffentlich-rechtliche Domäne. Das zeigen
auch die fehlgeschlagenen Versuche, in Berlin private Nachrichten-
oder Informationsradios zu gründen. Die Dominanz der Staatssender
mit ihren unerschöpflichen finanziellen und personellen Ressourcen
ist zu erdrückend. Sie zwingt die Privatsender dazu, sich Domänen
vorzunehmen, die bei geringerem Aufwand mehr Ertrag versprechen.
Das hat
natürlich Folgen. Ein Sender, der für Spaß und
große Gewinne bekannt ist, der ist eben nicht auf Nachrichten
spezialisiert.
Wer’s nicht glaubt: Vielerorts herrscht noch immer der Glaube,
die Nennung einiger Ortsmarken an allen möglichen passenden und
unpassenden Stellen schaffe wenigstens lokale Kompetenz. Das ist ja
auch nicht falsch. Aber es ist arg oberflächlich. Manchen Beratern
ist das klar. Sie raten ihren Sendern, aktuelle Ereignisse, die sich
nicht als Gaginspiration ausbeuten lassen, einfach links liegen zu
lassen. Ne Meldung in den Nachrichten – und gut damit. Wer mehr
wissen will, der wechselt eh die Welle und kommt – hoffentlich – zurück,
wenn sich die Flut verzogen hat. Warum den Hörern mit halbgaren
Infohäppchen klarmachen, daß man sich bemüht, aber
leider schlicht nicht mithalten kann mit den dicken Infoschiffen der
ARD?
Und dennoch – seit einiger Zeit kursiert in etlichen Sendern
das Zauberwort von der Info- und Nachrichtenkompetenz. Die Überlegung
dahinter mag folgende sein: Wer sich aus der Tagesaktualität zu
sehr heraushält, der hält auch einen Teil seiner gewünschten
Zielgruppe heraus. Zudem wirkt die Erkenntnis beunruhigend, daß aktuelle
Information für einen immer größeren Teil der Bevölkerung
offenbar immer wichtiger wird.
Nachrichten
und Informationen haben aber leider ein paar Nachteile. Während sich Musik wunderbar testen läßt, geht das
mit Nachrichten nicht so einfach. Es wäre ja absurd, zuerst ein
Callout in die Landschaft zu jagen und nachzufragen, ob der Hörer
gern mehr über die Tsunami-Katastrophe hören möchte,
um dann die getesteten Beiträge zu liefern. Nachrichtenleute (und
Programmchefs) müssen – da führt kein Weg dran vorbei – Bauchgefühl
und Allgemeinwissen strapazieren, um ungestützt schnelle Entscheidungen
zu fällen. Außerdem ist der Wirkungsmechanismus etwas ungewohnt:
Bei der Musik wünscht und erwartet der Normalmensch etwas, was
er mag und folglich kennt – sonst würde er es nicht mögen.
Geht es um Nachrichten, dann erwartet er Neuigkeiten – also etwas,
was er nicht kennt, was freilich aus einer irgendwie vertrauten Umgebung
stammen muß. Im Falle der Flut ist die vertraute Umgebung der
Reisekatalog – wären einige der Katastrophenländer
nicht bekannte Urlaubsziele, wäre das Thema ein kleineres. Hier
zählt die Emotion des Publikums, nicht der Verstand. Wäre
das anders, dann wäre auch die Ukraine ein Thema für den
ARD-Brennpunkt gewesen – konsequenterweise mit der ganzen Geschichte
von Macht, Intrige, Mord, Giftmischerei und Korruption. Eigentlich
eine hammerharte Geschichte, aber leider nicht im gefühligen Fokus
der Mehrheit.
Wer jetzt
bessere Informationsimages einfordert, der möge auch
folgendes bedenken: Private Radiosender sind da stark, wo sie investiert
haben. Geld ging und geht in: Unterhaltsame Moderatoren, teure Promotions,
Musikforschung, ausgefeilte Infrastruktur, Technik und Software für
Produktion, on-Air-Promotion, T&C und Moderation. Sehr viel weniger
Geld ging und geht in: Nachrichtenpersonal, Redaktionssysteme, Korrespondenten,
eigene Quellen. Die wichtigsten Mitarbeiter der Sender sind in der
Regel von Status und Geld – in dieser Reihenfolge: Der GF, der
PD, der Morgen-Moderator, der on-Air-Promotion-Chef (on-Air-Promotion
und Morgen-Jock können auch mal umgekehrt dastehen). Der Nachrichtenchef
läuft praktisch überall unter Pflicht, nicht als Kür.
Insofern
bekommen Privatradios das, was sie selbst geschaffen haben – den
Nachteil eingeschlossen, manchmal einfach nicht im Zentrum des Geschehens
zu stehen. Das muß kein Nachteil sein, aber es ist möglicherweise
einer der Gründe für die beklagte Marginalisierung des Mediums.
Wie wäre es, wenn die Sender, die jetzt viel über Informationskompetenz
nachdenken und die „Mitte“ wirklich halten wollen, sich
stärker um das Fundament bemühen, das dafür nötig
ist? Sich einmal klarmachen, was sie dafür wirklich benötigen
(die Rufa sicher nicht), sich gern auch gruppenweise zusammenschließen
(ein bißchen Konkurrenz schadet schließlich auch nicht),
und bei der nächsten Flut die ersten sind, die fähige Korrespondenten
vor Ort haben?
Allen
ein erfolgreiches Jahr 2005 – mit dem Vorsatz, das Radio
stärker zu machen.