Des Nachts um 3 beginnt der Tag mit ungläubigem Entsetzen. Endlich in watteweiche Traumwelt, das Bett hat soeben erst Kuscheltemperatur erreicht, ringsum herrschen Ruhe und Frieden. Mittenrein stört der Wecker. Ich pfeife auf die disziplinarischen Verhaltensmaßregeln, die ich mir an Vortag verordnet hatte und stelle das Scheißding ab. Kaum zurück in der traumhaften Schlafwelt trötet der Zweitwecker. Der Vorgang ist mehrfach ärgerlich, denn das Ding klingt sensationell penetrant und steht außerdem außer Reichweite. Ich schmeiß mich auf den Bauch und halte mir die Ohren zu. Wenigstens noch eine Minute! Das Ding trötet ungerührt weiter. Wird immer lauter. Ich kapituliere. Taste mich zur Tröte, aus damit, und unter die Dusche.
Im Sender ist die Atmosphäre kurz vor Sendebeginn angenehm. Wie sie nicht anders sein kann, wenn ein halbes Dutzend unausgeschlafener Menschen sich treffen, die Tag für Tag dasselbe traumatische Aufwacherlebnis miteinander teilen. Niemand stört. Das Telefon ist ruhig. Jeder arbeitet still vor sich hin. Es kreisen die Zeitungen zum querlesen. Dann und wann gibt’s kurzen Smalltalk. Alles ist sehr zielgerichtet, aber auf sanfte Weise.
So, wie jeder Tag im Leben eines Morgenmenschen seinen Ablauf hat, so hat auch jede Woche ihre Phasen. Montage sind immer komische Tage. Man weiß nie, wie es kommt. Die Sendung kann exzeptionell perfekt laufen, aber ebensogut exzeptionell entgleisen. Montage sind nach gefühlter Empfindungslage auch die Tage mit den häufigsten technischen Pannen. Dienstage und Mittwoche verlaufen in der Regel ohne besondere Vorkommnisse (außer, im Berufsverkehr entzündet sich eine S-Bahn im Tunnel oder ein Haus fällt zusammen – aber das passiert eh selten). Donnerstage sind berüchtigt für anhaltendes Schwächegefühl. Freitage sind stärker, weil das bevorstehende Wochenende motiviert. Allerdings können Freitage auch desaströs verlaufen, weil sie im Wochenverlauf das höchstmögliche Schlafdefizit aufweisen. Auf jeden Fall dauern Freitage immer besonders lange, weil aus irgendeinem Grund ausgerechnet Freitags besonders viele Dinge vorzubereiten sind und aus irgendeinem heiligen Grunde Freitags die Technik besonders schlecht funktioniert.
Eigentlich braucht es eine Menge Disziplin, um Morgen für Morgen pünktlich, vorbereitet und gut riechend vor dem Mikrofon zu stehen. Komischerweise sind gerade Morgentypen aber häufig undiszipliniert, tendenziell versoffen und verkommen. In Stadtsendern, die sich mit scharfer Konkurrenz schlagen, ist die Desperado-Komponente stärker ausgeprägt als in Kleinstadtradios oder landesweiten Dickschiffen.
Bei allem Hang zum Anarchismus – Morgenleute sind ehrgeizig. Wer sich längere Zeit den Schmerz der unterbrochenen Nachtruhe antut, den treibt eine mysteriöse Energie an. Morningshow – das ist die Lokomotive des Senders. Ganz vorn im Triebwagen zu stehen, jeden Tag den Zug neu zum Rollen zu bringen, das fühlt sich nett an. Es macht auch stolz, weil es eine Auszeichnung ist. Es ist ja schließlich nicht so, daß der Morgen bevorzugt zum Testen neuer Moderatoren verwendet wird. Das Gefühl, zur Morgenavantgarde zu zählen, kribbelt – auch noch nach vielen Jahren.
Aber weh tut’s trotzdem, wenn der Wecker stört.
Christoph Lemmer arbeitet als freier Journalist in Berlin.
E-Mail: christoph@radioszene.de