„Leitmedium Radio“

Bitter Lemmer

Da muß man ausgerechnet Arte gucken, um festzustellen, daß Radio ein wichtiges und ernstzunehmendes Primärmedium sein kann: In den Nachrichten ging es um die Regierungskrise in Frankreich, und zur Illustration blendete der Sender ein Stillbild des Ministerpräsidenten Dominique de Villepin ein – denn der entscheidende O-Ton des Tages entstammte einem Interview mit dem Radiosender Europe 1. Man muß sich das mal richtig klarmachen: Ministerpräsident – sowas wie Merkel – gibt einem Privatradio ein Interview – muß ja nicht gleich ein Lokalradio sein, aber vielleicht einer der dicken Landesweiten -, das der Tagesschau als Vorlage dient, mit Mikrofon und Logo des Senders auf dem bildschirmfüllenden Stillbild.

Schon schade, daß das hierzulande so nicht läuft. Der letzte mir bekannte private Radiosender, der einen Bundeskanzler exklusiv und nicht nur für Tralala-Geschwätz am Mikrofon hatte, war Gafrons Hundert,6, und das ist länger als zehn Jahre her. Und schon das war nicht so ganz vergleichbar mit der Lage in Frankreich: Weder Europe noch RTL (dessen französisches Radio in dieser Hinsicht ähnlich erfolgreich ist) sind intime Freunde ihrer hochrangigen Politiker-Interviewpartner. Vielmehr gelten ihre Fragesteller als hochgradig giftig, gut informiert und schwer zu befriedigen. Dafür haben sie den Politikern etwas anderes zu bieten: Enorm hohe Reichweiten, ein kompetentes und glaubwürdiges Umfeld und die angenehme Situation, auch mal unkontrolliert die Gesichtszüge entgleisen lassen zu dürfen, ohne, daß eine Fernsehkamera zusähe.

Letzteres könnten auch deutsche Sender bieten, alles andere jedoch nicht. Die – wie üblich – mitschuldige Medienpolitik verantwortet einen Teil des Problems, weil sie unbeirrt landesherrschaftlich hier nur diesen, dort nur jenen das Sendeprivileg überläßt, in manchen Ländern bis heute minutenweise die Wort- und Musikanteile zählt und ähnlichen Unfug verzapft, der keinem Hörer auffallen würde und in Wahrheit völlig bedeutungslos ist. Das ist nicht unbedingt die beste Voraussetzung für Sender, ihre Gesprächswirkung in der öffentlichen Wahrnehmung zu erhöhen.

Den anderen Teil der Misere verantworten die Sender selber, und diejenigen, deren Hörerforschung entsprechende Ergebnisse auswirft, wissen das auch. Dort finden sich immer wieder Einschätzungen, daß der Sender ja äußerst nett sei, sympathische Moderatoren beschäftige und gute Musik spiele, auch die Infos seien brav und komplett – allein: Charakter und Profil fehlen. Man geht einfach in der Masse unter, schwimmt immer im Mainstream, fällt möglichst nicht auf – schon gar nicht dann, wenn das Thema wirklich interessieren könnte.

Ein Beispiel: Wir erinnern uns an den Überfall auf einen Schwarzen in Potsdam. Bevor noch das erste Verhör geführt war, war sich ganz Mediendeutschland einig, daß die Täter rechtsextrem und das Motiv Fremdenfeindlichkeit gewesen sei. Als die Innenminister Schönbohm und Schäuble Zweifel äußerten (ohne das medienseitig vorweggenommene Ermittlungsresultat auszuschließen), hagelte es einhellig Schimpfe. Es klang wie trotziges Rechthaben-müssen: Nimm mir gefälligst nicht meine Rechtsradikalen weg, die gerade so wunderbar ins Weltbild passen. Es war eines dieser Themen, bei denen man keinen Sender hören oder gucken und praktisch keine Zeitung lesen konnte (bis auf die wie üblich vernünftige FAZ), ohne mit kollektiver Empörung geradezu erschlagen zu werden. Nachrichtler und Moderatoren waren schlicht nicht mehr in der Lage, einen gerade Text zu berichten, sondern vibrierten vor Erregung – im wahrsten Wortsinn.

Mitreden und ernst nehmen kommen aber nicht vom heulen mit der Meute, sondern davon, sich von der Meute abzusetzen. Das simpelste wäre, einfach an den Ermittlungen dranzubleiben. Schon komisch, kaum zeigen sich Risse im Urteil der empörten Kollegen, schweigen alle stille – statt mit Ermittlern und Anwälten Nachrichten zu produzieren. Ein Thema ist das allemal – jeder will jetzt wissen, was sich da eigentlich wirklich zugetragen hat. Ob es tatsächlich fremdenfeindliche rechtsextreme Gewalt war (was bisher ja noch keiner ausschließt) oder ob es anders war (was die Ermittler ebenfalls für möglich halten).

Gerade Radioleute sind da allerdings manchmal komisch. Mit den Anwälten von mutmaßlichen Rechtsextremisten reden die nicht gern. Radioleute glauben, sie würden sich mit jedermann verbrüdern, mit dem sie sprechen. Sie glauben, sie müssten ununterbrochen ihre korrekte Gesinnung demonstrieren. Sie vergessen dabei, daß sie kritisch (also spannend) nur dann berichten können, wenn sie sich beim Recherchieren einfach auf das Sammeln von Informationen beschränken. Und beim Berichten darauf, die Informationen zu präsentieren – ohne Empörungstimbre in der Stimme.


Lemmer
Christoph Lemmer arbeitet als freier Journalist in Berlin.

E-Mail: christoph@radioszene.de