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5 Gründe, warum sich Radio jetzt auf den Weg in die Zukunft machen muss

Bild: ©DENYS Rudyi/123rf.com

Von Marc Krüger

Ich liebe Radio. Und ich mache mir Sorgen. Radio funktioniert im Wesentlichen immer noch wie vor Jahrzehnten, droht die Digitalisierung zu verschlafen und macht sich durch die immer gleichen Inhalte beliebig und austauschbar. Ändern wir das!

Die gute Nachricht gleich vorneweg: Ich bin davon überzeugt, dass lineares, moderiertes Radio eine Zukunft hat. Ehrlich! Menschen wollen nicht ununterbrochen mitmachen, abstimmen, entscheiden, sondern auch mal einen Knopf drücken. Und fertig. Sie wollen einen vertrauten Moderator erleben, sich informieren, berieseln lassen oder brauchen einfach Geräusche. Starke Argumente, das Radio einzuschalten, sind: Gewohnheit und Bequemlichkeit.

In der Masse wird Radio immer noch regional gehört, und zwar über UKW. Den Markt beherrschen die Service-, Top40- und Schlagerwellen. Dort kommen zur vollen Stunde die Nachrichten, es folgen Wetter und Verkehr, manchmal auch Verkehr und Wetter. Die Auflösung für die großen Gewinnspiele ist immer morgens um 07:10 Uhr: Anruf, Jubelschrei, Applaus vom Band.

Röhren-Radio (Bild: Marc Krüger)
Röhren-Radio (Bild: Marc Krüger)

Ja, natürlich gibt es großartige Info- und Kulturwellen, Hörspiele, Features, Beiträge und Interviews, Comedy, Talk, ausgewählte Musik. Aber mal ehrlich: Kommt einem das beim Wort „Radio“ wirklich zuerst in den Sinn? Und wie sehen das ein 14-Jähriger oder eine 19-Jährige?

Radio muss JETZT Antworten für die Zukunft finden. Eine hoffentlich nicht allzu ferne Zeit, in der mobiles Internet schnell ist und ein Datenvolumen keine Rolle mehr spielt. Und in der alle Autos, Busse und Bahnen Internet haben.

Fünf Gründe zu Nachdenken:

1. Das Musik-Mix-Monopol ist weg

Es gab Zeiten™, da haben Menschen (wie ich) gezielt einen Radiosender eingeschaltet, weil dort die aktuellen Charts liefen oder neue Musik vorgestellt wurde. Das sparte den Weg mit dem Fahrrad zum örtlichen CD-Händler, wo die Wochencharts aushingen. Eine Maxi-Single-CD kostete runde 10 Mark.

Für in etwa das gleiche Geld gibt es heute ein taschengeldtaugliches Monats-Abo von Streaming-Diensten wie Spotify, Deezer, Apple oder Google mit jeweils mehr als 20 Millionen Songs, darunter die neuesten Alben. Was es dort nicht gibt, hat YouTube. Musik ist auf dem Smartphone, dem Fernseher, bei der Bravo(!), im Supermarkt, im Auto, in der U-Bahn. Menschen mit Kopfhörern im Ohr sind überall! Aber hören sie darüber Radio?

Auch eine Playlist muss ich nicht mehr selbst machen. Spotify bietet jedem Nutzer einen personalisierten „Mix der Woche“, passende Musik zum Joggen, außerdem gibt’s tausende Playlists für jeden Anlass und jede Stimmung. Auch YouTube kann endlos Musik abspielen, sogar sortiert nach Gefühlslage. Stars spielen exklusive „Spotify-Sessions“ oder kommentieren ihre neuesten Alben selbst, erzählen die Geschichte des Songs oder was sie damit verbinden. Warum dafür noch stundenlang Radio hören und warten?

2. Das „Das-Versendet-Sich-Problem“

Radio lebt auch durchs Wort, immer noch! Aber was macht es daraus? Die meisten Worte werden einmal gesagt – und sind dann bereits Hörfunkgeschichte. Radiomacher kennen den unsäglichen Satz: „Das versendet sich.“ Leider stimmt er allzu oft. Immer noch landen zu wenige Wort-Inhalte als Podcast, Zitat-Happen und als Text(!) im Netz. Dadurch wird Radio als Inhalte-Produzent zu wenig wahrgenommen und seltener zitiert. Das bedeutet auch: Radio wird unattraktiver für Menschen, die etwas zu sagen haben – trotz seiner Reichweite. Außerdem ist es nicht sexy, die puren Hörfunk-Beiträge bei Facebook oder Twitter zu teilen (mehr dazu hier).

Ein großes Problem ist der Inhalte-Egoismus. Bei vielen Sendern ist es weiterhin Standard, vorproduzierte Beiträge, Interviews, Kommentare usw. erst nach dem Ausstrahlen im linearen Programm fürs Internet „freizugeben“. Dadurch ist es unmöglich, schon in der Sendung auf Meinungen, Korrekturen, Ergänzungen oder sonstige Reaktionen einzugehen. Das Radio nimmt sich also eine Interaktionsmöglichkeit, die eigentlich serienmäßig eingebaut ist.

Noch schlimmer ist aber Inhalte-Egoismus zusammen mit Remix-Unwillen. Heißt: Jede Sendung gibt ihren eigenen Podcast heraus. Aber wieso kann ich nicht alle Beiträge eines Senders aus dem Bereich „Wirtschaft“, „Politik“, „Interview“ oder „Comedy“ mit einem Klick abonnieren? Oder alle Interviews eines bestimmten Moderators? Oder weiter gedacht: Wieso kann ich nicht die Nachrichten von MDR INFO, die „Wirtschaft“ und den „Hintergrund“ vom Deutschlandfunk, „Zeiglers Wunderbare Welt des Fußballs“ von Bremen4 und „Die größten Hits und ihre Geschichte“ von SWR3 in meinen Spotify-Musikstream reinabonnieren? Wieso gibt es noch keine öffentlich-rechtliche App wie „NPR One“, die mir mit einem Knopfdruck Inhalte vorspielt, nach denen ich gar nicht gesucht hätte?

Eigentlich könnte im Radio gelten: Was produziert und bezahlt ist, sollte möglichst breit verteilt werden, um dem Wort ein zweites Leben zu geben – weg vom einfachen Versenden. Dass es in diese Richtung geht, zeigt die Kooperation von Deutschlandradio und Bayerischem Rundfunk mit Spotify. Und das Projekt „Soundticker“, das (bald?) Radio-Nachrichten für den Spotify-Stream anbieten will.

3. Radio-Service kann das Smartphone besser

Die Service- und Infowellen füllen pro Stunde mehrere Minuten mit Wetter und Verkehr, und sie nutzen das, um auch mal ein paar kleinere Orte aus dem Sendegebiet zu nennen, denn: Regionalität/Nähe ist wichtig! Aber wie lange ist dieser vorgelesene Service noch DAS Einschaltkriterium?

Beispiel Wetter: Wieso soll ich eine halbe oder ganze Stunde auf die Infos warten? Das Smartphone liefert sofort alle Temperaturen, Vorhersagen, Unwetterwarnungen – für meinen Wohnort und für jeden beliebigen anderen Ort auf der Welt. Noch verrückter: der Verkehrsservice. Vielleicht sitze ich gar nicht im Auto. Warum also minutenlang Autobahnnamen und Horror-Staulängen anhören, die mich momentan nicht interessieren? Anders bei Warnmeldungen für meine Strecke: die will ich sofort, und nicht erst, wenn jemand dafür das Programm unterbricht.

Auch hier gilt: das Smartphone oder (bald) der Bordcomputer im Auto liefern sofort per Google Maps, Waze, Navigon oder ADAC – eventuell mit Ausweichtipps oder Infos, wo ich statt Stau was Essen, Sehen oder Erleben kann.

(Bild: Sandra Müller, www.radio-machen.de)
(Bild: Sandra Müller, www.radio-machen.de)

 

4. Regionalität ist relativ, Platzmangel gibt’s nicht mehr

UKW und auch der digitale Stiefbruder DAB+ schaffen regionale Audio-Inseln. Vorteil: Sender können bestimmte Informationen wie Wetter, Nachrichten oder Werbung regionalisieren. Nachteil: Wer mit dem Auto quer durchs Land fährt, muss in regelmäßigen Abständen den Sender wechseln (lassen).

Aber was ist eigentlich regional? Viele regionale öffentlich-rechtliche Sender sind eher geografische Konstrukte – Berlin-Mitte gehört ebenso zum RBB wie Cottbus, Flensburg genau wie Anklam zum NDR, Konstanz wie Trier zum SWR. Große Gebiete! Deshalb regionalisieren die Sender noch kleinteiliger, ebenso wie z.B. „Radio NRW“. Als Radiohörer kann ich die Regionalität über UKW und DAB+ aber nicht mitnehmen, um im Süden den NDR oder im Norden Antenne Bayern zu hören. Der Grund war jahrzehntelang: Knappe, teure Frequenzen.

Im Internet gibt’s diesen Platzmangel nicht mehr. Radios können dort ihre regionalisierten Programme zu relativ geringen Kosten als Stream anbieten – und Hörer können sie überall da hören, wo es Internet gibt. Internet ist übrigens auch der Ort, an dem Sender andere Musikrichtungen als Streams oder Channels anbieten. Da jedes Smartphone Internet kann und demnächst 80 Prozent der Neuwagen einen Internetanschluss haben werden, sollten Radiosender viel mehr Werbung für diesen Übertragungsweg machen. Das Internet gewinnt sowieso.

5. Die Innovation fehlt

Das Fernsehen ist in den vergangenen Jahren digital und hochauflösend geworden. Die gedruckte Zeitung ist inzwischen bunt, musste einen inhaltlichen Umbruch von der Aktualität hin zum Hintergründigen machen. Außerdem gibt es Apps, die die Inhalte schon am Vorabend der Papier-Zeitung auf Smartphones und Tablets bringen. – Alles nicht so doll? Stimmt! Aber was fällt einem auf die Schnelle zum Radio ein? (Wer jetzt sofort an „Serial“ denkt: das ist ein Podcast, der seine Reichweite komplett außerhalb von Radio-Sendestrukturen entfaltet hat, und zwar übers Netz!)

Medien insgesamt und das Radio im Besonderen haben ein Innovationsproblem. Denn wovon reden wir eigentlich, wenn wir von Innovation sprechen? Im Prinzip heißt das momentan, sich den technischen Möglichkeit anzupassen, die es schon gibt – oft mit jahrelanger Verspätung (mehr dazu hier). Deshalb sprechen viele Sender noch immer von „Neuen Medien“, wenn sie das Internet, Apps und Podcasts meinen. Wo gibt es in großem Stil Experimente? Wo sind Labs oder Abteilungen, die sich mit dem Radio der Zukunft beschäftigen, vor allem also dem Radio im vernetzten Auto?

 

Fazit

Die Technik wird das Radio noch eine gewisse Zeit schützen. So lange das mobile Internet an den Autobahnen hakt, man sich mit Edge durch die Lande quält und nach zwei Wochen das Monats-Datenpaket aufgebraucht ist, gibt’s noch eine Schonzeit. Radiosender müssen sich aber schon jetzt auf die Ära der echten 5G-Flatrates vorbereiten. Nur dann haben sie die Chance, auch die zu erreichen, die mit YouTube und Musik-Streaming statt Radio aufgewachsen sind.

Das heißt aber auch: Es braucht im Radio völlig neue Arbeits- und Veröffentlichungsweisen. Inhalte müssen sofort ins Netz und dort auf so vielen Kanälen wie möglich (und sinnvoll) verbreitet werden – auch als Text. Ein Warten auf den Sendetermin und ein automatisierter, liebloser Podcast-Feed werden nicht reichen. Apps, die nicht mehr können als einen einzigen Radiosender abzuspielen, braucht kein Mensch mehr.Stattdessen sollten Apps Portale werden, hinter denen sich (auf dem Smartphone und im Auto) viele Inhalte versammeln – und die Nutzern das bieten, was jetzt „Serendipity“ heißt und früher „Überraschung“.

Radiosender müssen innovativ und kreativ werden, ihre Marke ausbauen zu einem Anbieter von vielfältiger Musik und gutem Wort – egal wo. Sie müssen ihre Inhalte aber auch neu aufbereiten, mixen und Formen der Zusammenarbeit mit anderen Sendern und Plattformen finden. Denn Charts, Wetter, Verkehr und ein paar News-Häppchen werden künftig nicht mehr reichen.

 

Teaserbild oben: ©DENYS Rudyi/123rf.com

Marc Krüger
Marc Krüger

Marc Krüger ist freier Radiojournalist und twittert unter @kollege. Sein Blog heißt: Rundfunkfritze.

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