Spotify kills the Radio Star? Ein Realitätscheck

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Mitte November wur­de mit viel Emphase die ers­te MA Audio ver­öf­fent­licht – die ers­te kon­ver­gen­te Darstellung, die sowohl die ter­res­tri­sche wie auch die Online-Radio-Hörer-Reichweite erfas­sen soll. Sozialwissenschaftlich ein pro­ble­ma­ti­sches Vorgehen, wer­den hier doch auf völ­lig unter­schied­li­che Weise erho­be­ne und dadurch nur bedingt ver­gleich­ba­re Informationen zusam­men aus­ge­wer­tet: einer­seits durch eine Telefonabfrage gewon­ne­ne, auf Erinnerung basie­ren­de Daten aus der Media-Analyse Radio (wei­test­ge­hend Terrestrik), ande­rer­seits tat­säch­lich gemes­se­ne Stream-Abrufe aus der Media-Analyse IP Audio (Online-Hören).

Kritik an der Methode und Zweifel an der abso­lu­ten Genauigkeit der Ergebnisse sind von daher sicher berech­tigt, zumal die ver­ant­wort­li­che Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse schon am Tag der Veröffentlichung ers­te Ergebniskorrekturen vor­neh­men muss­te. Dazu tra­gen auch der gegen­über der MA Radio wie­der ver­klei­ner­te Altersgruppen-Fokus (jetzt wie­der nur 14+ statt 10+) und das Fehlen von Stunden-Reichweiten bei.

Dennoch ist die MA Audio sicher ein deut­li­cher Fortschritt bei dem Versuch, das Radio-Hören in Deutschland bes­ser abzu­bil­den und auch die Relevanz der ein­zel­nen Verbreitungswege kor­rekt ein­zu­schät­zen. Wobei für vie­le Beobachter die Aussagekraft der Veröffentlichung (neben den metho­di­schen Mängeln) vor allem durch das Fehlen des mut­maß­lich stärks­ten Online-Players Spotify ein­ge­schränkt ist.

Das Spotify-Radio und ein nostalgisches Radio

Jetzt gibt es mit der gera­de ver­öf­fent­lich­ten MA IP Audio IV/2015 zum ers­ten Mal tat­säch­lich gemes­se­ne Werte nicht nur für eine Vielzahl von Online-Channels und Online-Kombis eta­blier­ter Radio-Programme, son­dern auch von Spotify. Und die Zahlen von Spotify sind auf den ers­ten Blick beein­dru­ckend: Im 3. Quartal 2015 kom­men alle wer­be­tra­gen­den Online-Audio-Angebote (Simulcast-Angebote ter­res­tri­scher Sender, Web-Channels, User gene­ra­ted Radio und Personal Radio) zusam­men auf knapp 150 Mio. Sessions im Monat, davon ent­fal­len allein auf Spotify fast 90 Mio.

Leider ist der Wert „Sessions im Monat“ mit kei­nem ande­ren Wert in den ver­öf­fent­lich­ten Radio-Reichweiten (Weitester Hörerkreis, Hörer pro Tag, Tagesreichweite, Stundenreichweite) ver­gleich­bar, sodass die Validität der schein­bar gro­ßen Zahl schwer ein­zu­schät­zen ist.

Jeder Versuch, aus den vor­lie­gen­den Daten mit der gän­gi­gen Radio-Währung ver­gleich­ba­re Werte zu errech­nen, wird berech­tig­ter­wei­se aus metho­di­scher Sicht noch weit­aus kri­ti­scher zu sehen sein als die MA Audio. Aber auch wenn die Ergebnisse sicher nicht Grundlage einer fun­dier­ten Werbeplanung sein kön­nen, kann eine sol­che Berechnung trotz­dem auf­schluss­rei­che Informationen lie­fern und Einschätzungen ermöglichen.

Ziel der Berechnung ist die Annäherung an die Stundenreichweite als den zen­tra­len Wert der bis­he­ri­gen Radio-Reichweiten-Währung, wobei sich (anders als bis­her bei dem Wert „Hörer pro durch­schnitt­li­che Werbestunde 6 – 18 Uhr“) nur ein Durchschnittswert über 24 Stunden ermit­teln lässt.

Wie sieht nun die Rechenoperation aus? Basis sind einer­seits die Zahl der gemes­se­nen Sessions im Monat für einen bestimm­ten Radio-Stream, ande­rer­seits die gemes­se­ne durch­schnitt­li­che Dauer der Sessions für alle Streams (Einzelwerte lie­gen mir nicht vor), sie beträgt für alle wer­be­tra­gen­den Radio-Streams 40 Minuten 29 Sekunden.

Ich mul­ti­pli­zie­re zunächst die Zahl der Sessions mit der durch­schnitt­li­chen Session-Dauer (Ergebnis: Alle in 1 Monat gehör­ten Stream-Minuten), tei­le die­sen Wert zunächst durch 30 (Ergebnis: Stream-Minuten pro Tag), dann durch 24 (Ergebnis: In einer Stunde gehör­te Stream-Minuten) und schließ­lich durch 60 (Ergebnis: Zahl der Stream-Hörer, die 60 Minuten = 1 Stunde hören).

Um die Berechnung zu demons­trie­ren, neh­me ich die Werte für den Simulcast-Betrieb von Antenne Bayern. 4.769.408 Sessions mul­ti­pli­ziert mit 40 Minuten ergibt 190.776.320 gehör­te Stream-Minuten im Monat; divi­diert durch 30 = 6.359.210 Stream-Minuten in der Stunde; divi­diert durch 24 = 264.967 Stream-Minuten in der Stunde; divi­diert durch 60 = 4.416 Stream-Hörer in der Stunde. Ist die­se Berechnung (trotz aller ange­spro­che­nen Einschränkungen) plau­si­bel? Dazu mul­ti­pli­zie­re ich die Zahl der Stream-Hörer in der Stunde mit 24, um eine Tagesreichweite zu errech­nen. Ergebnis: eine Tagesreichweite von 105.986, dies ent­spricht dem Ergebnis des Antenne Bayern-Simulcast in der MA Audio (105.000).

Was bedeu­tet das nun für die Relevanz von Spotify im aktu­el­len Radio-Markt? Lassen wir noch mal die Zahlen spre­chen: 87.607.074 Sessions im Monat x 40 Minuten = 3.504.282.960 Stream-Minuten/Monat : 30 = 116.809.432 Stream-Minuten/Tag : 24 = 4.867.059 Stream-Minuten/Stunde : 60 = 81.117 Stream-Hörer in der Stunde (Der ent­spre­chen­de Wert für alle ande­ren wer­be­tra­gen­den Online-Audio-Angebote beträgt 56.802 Stream-Hörer in der Stunde).

Unterstellt man die aus dem Antenne Bayern-Test ermit­tel­te Ratio als zutref­fend, ergibt sich dar­aus eine ver­mut­li­che Spotify-Tagesreichweite von knapp 1,95 Mio. Was einem Anteil von 3,69 % bei allen wer­be­tra­gen­den Audio-Angeboten entspräche.

Mir sind alle Einwände, die man gegen die­ses Vorgehen und die­se Berechnungen vor­brin­gen, durch­aus bewusst, es han­delt sich sicher nicht um eine vali­de Forschungsmethode, aber aus mei­ner Sicht sehr wohl um eine auf­schluss­rei­che Zustands- und Trendbeschreibung. Spotify kills the radio­star? Ist das nicht ein biss­chen viel Hype um ein zumin­dest der­zeit noch über­schau­ba­res Phänomen?

 

Ulrich Bunsmann, seit 25 Jahren Radio-Profi, schreibt regel­mä­ßig für RADIOSZENE sei­ne Gedanken zum Radio aus der deut­schen Medienhauptstadt Hamburg.

E-Mail: bunsmann@radioszene.de