Die Podcast-Reihe „Serial“ ist ein Erfolgsmodell und Beweis dafür, dass anspruchsvoller Radiojournalismus durchaus Massen begeistern kann. Deutschen Hörfunkern fällt es bislang allerdings schwer, das US-Vorbild für den heimischen Markt zu adaptieren.
Von Horst Müller
Seit Donnerstag steht die erste Folge der zweiten „Serial“-Staffel zum Download bereit. Diesmal beschäftigen sich die Radio-Journalistin Sarah Koenig und ihr Team mit dem Fall des US-Soldaten Bowe Bergdahl, der im Jahr 2009 ein US-Camp in Afghanistan verlassen hatte und anschließend in die Hände der Taliban gefallen war. Fast fünf Jahre später wurde Bergdahl im Mai 2014 gegen fünf Häftlinge aus Guantánamo ausgetauscht. Die Freilassung des US-Soldaten hatten die Taliban seinerzeit zu Propaganda-Zwecken im Video festgehalten und bei YouTube eingestellt, wo es noch heute nachzusehen ist.
Sarah Koenig hat diesmal also ein Thema von weitreichender politischer Dimension aufgegriffen und damit erneut breites Interesse geweckt. Wegen millionenfacher Zugriffe soll das Webportal von Serial am Veröffentlichungstag über Stunden zusammengebrochen sein, berichten Spiegel Online und andere. Bei Apples iTunes steht die Audio-Dokumentationsreihe ohnehin auf Platz 1 der Podcast-Charts – nicht nur weltweit, sondern auch bei den Deutschen Downloads. Bereits die 12 Folgen der ersten Staffel, die im vergangenen Jahr zwischen Anfang Oktober und Mitte Dezember wöchentlich ins Netz gestellt wurden, sollen mindestens 70 Millionen Mal abgerufen worden sein. Damit ist Serial mit großem Abstand der erfolgreichste Podcast aller Zeiten.
Im vergangenen Jahr hatte sich die Radio-Journalistin Sarah Koenig an die journalistische Aufarbeitung des Mordes an der in Südkorea geborenen Studentin Hae Min Lee begeben. Die Leiche der 18jährigen war im Februar 1999 in einem Park in Baltimore aufgefunden worden. Kurz darauf wurde ihr Ex-Freund Adnan Masud Syed festgenommen und im Jahr 2000 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Allerdings blieben erhebliche Zweifel an der Schuld des jungen Mannes, die durch Sarah Koenigs präzise geführte Recherchen weiter bestärkt wurden. Die Journalistin konnte zwar in ihrer Reihe die Wahrheit nicht ans Licht befördern, erreichte schließlich jedoch eine Wiederaufnahme – nicht nur polizeilicher Ermittlungen, sondern des Strafverfahrens vor Gericht.
Der Erfolg von Serial, einem Ableger der Radio-Dokumentationsreihe „This American Life“, führte inzwischen weltweit zu Nachahmungen – oder zumindest zu Versuchen, das Konzept von Sarah Koenig zu adaptieren. In Deutschland gab’s bislang drei Anläufe in öffentlich-rechtlichen Programmen, mit Hilfe des konzeptionellen Ansatzes von Serial Interesse für moderne Hörfunk-Dokumentationen zu wecken:
Mehr als ein Mord | Deutschlandradio Kultur: Der 20-jährige Asylbewerber Khaled Idris Bahray überlebt die Flucht aus Eritrea. Vier Monate nach seiner Ankunft wird er im Januar 2015 in Dresden ermordet. Der Fall hat die Journalistin Jenni Roth nicht losgelassen. Vor dem Hintergrund des Prozessbeginns am 31. August geht sie in acht Folgen in den Sendungen Breitband und Echtzeit auf Spurensuche (Originaltext Deutschlandradio Kultur). Zur Begleitung der Reihe gibt’s eine aufwendig produzierte Multimedia-Reportage, über die die im Radio ausgestrahlten Folgen auch weiterhin abrufbar sind.
Wer hat Burak erschossen? | RBB radioeins: Im April 2012 ist Burak Bektas mit Freunden in Berlin-Neukölln unterwegs, als er auf offener Straße erschossen wird. Der Täter bleibt unerkannt, die Hintergründe bis heute rätselhaft, die polizeilichen Ermittlungen ohne Ergebnis…(Originaltext radioeins). Die neun Folgen der Serie liefen zwischen dem 15. Oktober und 10. Dezember dieses Jahres im Radio und können über das Webportal des RBB nachgehört werden.
NDR 2 – Täter unbekannt. Ungeklärte Verbrechen im Norden: Am 10. August 2000 verschwindet Inka Köntges. Die 29-jährige Frau will mit dem Fahrrad durch die Eilenriede, den Stadtwald von Hannover, zu ihrer Arbeitsstelle an der Medizinischen Hochschule fahren. Seitdem fehlt von ihr jede Spur (Originaltext NDR). Neben ausführlichen Hinweisen auf dem eigenen Webportal, wurde ergänzend auch eine Multimedia-Doku ins Netz gestellt. Die acht – zwischen dem 29. September und 24. November bei NDR 2 ausgestrahlten – Folgen stehen zum Nachhören und als Podcast zum Download zur Verfügung.
Das NDR-Projekt „Täter unbekannt“ weist dabei die größten Ähnlichkeiten mit dem amerikanischen Vorbild Serial auf. Redakteurin Anouk Schollähn, die gemeinsam mit ihrem Kollegen Thomas Ziegler monatelang für die Reihe recherchiert hatte, bemüht sich dabei, die Texte im Stil von Sarah Koenig einzusprechen. Wie auch die Serial-Produzenten kommen die NDR-Redakteure ohne Soundeffekte sowie mit sparsam eingesetzter Musik aus. Am Ende gelang es sogar den beiden NDR-Redakteuren, die Polizei Hannover davon zu überzeugen, die Ermittlungen in dem längst abgeschlossen Fall der verschollenen Inka Köntges wieder aufzunehmen.
Trotz dieses kleinen Achtungs-Erfolges konnten die deutschen Serial-Nachahmer bislang nicht einmal entfernt an den Erfolg des amerikanischen Vorbilds anknüpfen. Dafür gibt es sicherlich mehrere Gründe: Die deutschen Radiomacher wussten offensichtlich nicht so recht, wie sie mit ihren vermeintlichen Experimenten umgehen sollten. Bei NDR 2 beispielsweise, dem massenpopulären Programm für gleich vier Bundesländer im Norden, wurde „Täter unbekannt“ erst nach den 19-Uhr-Nachrichten eingesetzt, demnach in einer Radio-Randzeit. Insbesondere gelang es den Social Media-Redakteuren der öffentlich-rechtlichen Sender nicht, die journalistische Aufarbeitung der Fälle von Inka Köntgens, Burak Bektas und Idris Bahray als Themen bei Facebook, Twitter oder anderswo im Netz zu platzieren. Auch in anderen Medien wurde von den Ermittlungen der Radioredakteure kaum Notiz genommen.
Der bislang ausgebliebene Erfolg der deutschen Serial-Adaptionen ist aber auch ein deutlicher Hinweis darauf, dass Radio-Journalismus in der öffentlichen Diskussion hierzulande kaum noch ernst genommen wird. Die Frage ist berechtigt: Wann hat es denn zum letzten Mal eine „Radio-Geschichte“ in die Schlagzeilen anderer Medien geschafft? In den USA gelingt das gerade wieder einmal Sarah Koenig allein mit der Ankündigung für die zweite Episode der aktuellen Serial-Staffel. Gegen Ende der ersten Folge spielt sie einen kurzen Ausschnitt aus einem krächzenden Telefongespräch ein und erklärt dazu: „That’s me calling the Taliban“.
Dieser Artikel von Horst Müller erschien zuerst auf blogmedien.