Tagelang haben sich deutsche Medien über eine angeblich offizielle Warnung Kanadas vor Reisen nach Ostdeutschland ausgelassen. Statt die Falschmeldung von einander abzuschreiben, hätten Spiegel, Stern, Focus und andere mit einer einfachen Nachfrage bei der kanadischen Botschaft für Klarheit sorgen können – so wie Redakteure des von Studenten betriebenen Lokalsenders „99drei“ im sächsischen Mittweida.
Als Moderator André Glatzel und Nachrichtenredakteur Marc Herman am Abend des 1. Oktober die Morgensendung von 99drei Radio Mittweida für den nächsten Tag vorbereiteten, stutzten die beiden Medienstudenten über Berichte in Newsportalen, wonach Kanada eine Warnung vor Reisen nach Ostdeutschland herausgegeben habe: „Darin ist die Rede von extremistischen Jugendbanden, die in Teilen Ostdeutschlands eine Bedrohung darstellten“, war beispielsweise im Onlineportal des Handelsblatts zu lesen. Die Redakteure von Spiegel Online fabulierten, dass „die Übergriffe auf Flüchtlingsheime und die Pegida-Demonstrationen“ Gründe für die Vorsichtsmaßnahmen der an sich nicht als überaus ängstlich bekannten Kanadier gewesen sein könnten. Ähnliche Meldungen wurden nach Erkenntnissen von BILDblog auch von Stern.de, tz Online, der Huffington Post und „vielen, vielen anderen“verbreitet.
Die beiden Nachwuchs-Radiomacher und „Wessis“, die in Mittweida seit geraumer Zeit Medien studieren, mochten sich dem „Reisewarnungs-Hype“ aufgrund eigener Erfahrungen nicht ohne weiteres anschließen. Also taten sie das, was man eigentlich von Spiegel-, Stern- oder Focus-Redakteuren erwarten sollte: Sie fragten einfach bei der kanadischen Botschaft in Berlin nach. Pressereferentin Jennifer Broadbridge erteilte ohne Umschweife die Auskunft, dass Kanada definitiv keine Warnung vor Reisen nach Ostdeutschland ausgesprochen habe. Als Grund für die mediale Aufregung vermutete sie einen Sicherheitshinweis, der allerdings schon seit dem Jahr 2005 auf dem offiziellen Webportal der kanadischen Regierung zu finden ist. Zwar war die Botschaftsmitarbeiterin nicht zu bewegen, diese Auskunft auch im O-Ton aufzeichnen zu lassen. Dennoch konnten André Glatzel und Marc Herman schon in der Morgensendung „99drei Frühflieger“ am 2. Oktober Entwarnung in Sachen Reisewarnung geben, während viele andere Medien den Blödsinn weiter verbreiteten.
In den Sicherheitshinweisen der kanadischen Regierung wird übrigens empfohlen, dass Reisende in Deutschland „die lokalen Medien verfolgen“ sollten. Möglicherweise haben die Mittweidaer Medienstudenten, die den Lokalsender 99drei weitgehend in eigener Regie betreiben, demnächst auch einige kanadische Hörer, die in Mittelsachsen unterwegs sind.
Dieser Artikel von Inge Seibel wurde hier zuerst veröffentlicht.