In Deutschland wird’s in absehbarer Zeit kein national verbreitetes Radioprogramm geben, in dem – ähnlich FM4 in Österreich – vor allem neue und alternative Musik gespielt wird. Das ist die wichtigste Erkenntnis aus einer Podiumsdiskussion beim Reeperbahn Festival in Hamburg, in der es am Freitag um die mangelnde musikalische Vielfalt im Radio ging. (Titelbild: Nina-Zimmermann)
Donnerstagnacht im „Docks“ am Spielbudenplatz im Hamburger Stadtteil St. Pauli: Rund 1.500 begeisterte Musikfans jubeln der Indie-Rockband Wanda zu. Das von NDR 2 präsentierte Konzert gilt als einer der Höhepunkte während des diesjährigen Reeperbahn Festivals bei dem insgesamt immerhin rund 400 Live Bands, Duos und Solisten auf den Bühnen der Musikkneipen und Clubs stehen. Der charismatische Sänger Marco Michael Wanda hat mit seiner Band den Durchbruch geschafft – nicht nur auf Festivals, sondern auch in deutschen Radiosendern. „Bussi Baby“ aus dem im August veröffentlichten zweiten Album „Bussi“ steht inzwischen auf den Playlists mehrerer populär ausgerichteter Popwellen.
Zufall – oder nicht? Seit Wanda bei Vertigo Records unter Vertrag ist, wird die Band auch von deutschen Musikredakteuren zur Kenntnis genommen. Vertigo gehört zu Universal Music, neben Sony und Warner eines der drei so genannten Major Labels, deren Produktionen von deutschen Radiostationen in unangemessener Weise bevorzugt eingesetzt werden. Davon ist zumindest Christof Ellinghaus überzeugt. Der ist Inhaber des Berliner Labels City Slang und Vorstandsvorsitzender des Verbands unabhängiger Musikunternehmen (VUT). Auf der Podiumsdiskussion über die „fehlende Vielfalt im Radio“ während des Reeperbahn Festivals versucht der „deutsche Pate des Indierock“ (ZEIT Online) diese Annahme auch statistisch zu belegen: Es könne doch nicht sein, dass in Streamingdiensten wie „Spotify“ 40 Prozent der abgerufenen Musiktitel von Independent Labels stammten, der Anteil in deutschen Radioprogrammen dagegen bei nur drei Prozent läge.
Diesen niedrigen Wert mochte Torsten Engel zwar nicht bestätigen. Allerdings räumte der Programmchef von NDR 2 ein, dass unbekannte Künstler von unabhängigen Labels zwar in Spezialsendungen am Abend eingesetzt würden, allerdings nur selten in den Haupthörzeiten zwischen 06.00 und 18.00 Uhr. Da sei auch ein öffentlich-rechtliches Programm wie NDR 2 der breiten Mehrheit der Zuhörer verpflichtet. Dabei – so Torsten Engel – spiele das Label bei der Titelauswahl überhaupt keine Rolle – zumindest nicht in dem von ihm verantworteten Programm.
Und – wie könnte dann neue Musik, die vorwiegend von unabhängigen Musikunternehmern angeboten wird, in Tagesprogrammen landen? „Eher zufällig“, wie NDR 2-Chef Torsten Engel freimütig einräumt – oder doch gezielt, so wie beim österreichischen FM4. Das „jüngste Radioprogramm des Österreichischen Rundfunks“ setzt nach Erhebungen von Senderchefin Monika Eigensperger etwa 60 Prozent aller Musiktitel von Independent Labels ein. Als Beispiel führt sie die Gruppe Wanda an, die bei FM4 schon gespielt worden sei, als sie noch völlig unbekannt war und beim österreichischen Independent-Label Problembär-Records unter Vertrag stand. Und – so Monika Eigensperger weiter – das Konzept ihres Senders sei „unglaublich erfolgreich“. Was sie nun genau mit Erfolg meint, ließ die taff auftretende Programmchefin in der Diskussion allerdings offen. Fest steht indes, dass FM4 keinesfalls das österreichische Radiopublikum in Massen anlockt: Im ersten Halbjahr 2015 kam der Jugendkultursender auf einen Marktanteil von gerade mal 2 Prozent aller Radiohörer ab 10 Jahren, bei den 14-49jährigen auf 4 Prozent.
Die überschaubaren Reichweiten von FM4 mögen auch ein Grund dafür sein, dass sich deutsche Programmverantwortliche mit der Einführung „echter“ Jugendkulturwellen mit alternativen Musikangeboten und anspruchsvollen Wortbeiträgen deutlich zurückhalten, auch im beitragsfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Der Mitteldeutsche Rundfunk hat sein mutig gestartetes Experiment mit SPUTNIK schon vor Jahren wieder aufgegeben. Inzwischen ist das Programm zu einem weitgehenden Hitradio mutiert, ähnlich der vermeintlichen Jugendwellen N-JOY (NDR) und 1LIVE (WDR). Tatsächlich erreichen solche Programme jedoch kaum die anvisierte junge Zielgruppe: Das Durchschnittsalter der N-Joy-Hörer liegt laut Media Analyse bei 32 Jahren, bei 1Live sogar noch zwei Jahre darüber. Selbst Fritz vom RBB, häufig als vorbildliches Jugendprogramm gepriesen, erreicht bei einem Durchschnittsalter von knapp 35 Jahren ein Publikum, das überwiegend die Teenagerzeit schon lange hinter sich gebracht hat.
Die Chancen auf Einführung eines bundesweit verbreiteten Jugendprogramms – so wie es der Indenpendent Label-Chef Eillinghaus während der Diskussion forderte – stehen aus Sicht des stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel denkbar schlecht. Die Erfahrungen, die er als Medienpolitiker und Mitglied des Rundfunkrats des Hessischen Rundfunks im Zusammenhang mit dem ursprünglich geplanten Jugendkanal von ARD und ZDF gemacht hätte, waren wohl so verheerend, dass ein ähnliches Projekt für das Radio nicht zur Diskussion stünde.
Freitagnacht trat dann im Rahmen des Reeperbahn Festivals die belgische Indie-Rockband Balthazar im Musikclub Gruenspan auf der Großen Freiheit in St. Pauli auf. Die Besucher waren ähnlich begeistert wie in der Nacht zuvor von Wanda aus Wien. Nur – im Mainstream-Radio sind Balthazar bislang nicht zu hören. Womöglich deswegen, weil sie beim unabhängigen belgischen Label „Play It Again Sam“ unter Vertrag sind – und nicht bei einem der Major Label, die in deutschen Radioprogrammen den Ton angeben.
Weiterführende Informationen:
Reeperbahn Festival 2015