Ein Gastbeitrag von Marcus Engert
Drei Stunden und 18 Minuten pro Tag: so viel hört jeder Deutsche im Schnitt Radio.¹ Mehr kann nur Fernsehen. Dafür, dass „wir“ das zweitwichtigste Medium sind, hat sich das Radio ziemlich lang zurückgehalten, in der Debatte um die Zukunft der Medien. Während ganze Verlagshäuser ins Wanken gerieten und das Fernsehen sich mit Mediatheken, HbbTV, SecondScreen und Co. auseinandersetzte, sendete das Radio gemütlich vor sich hin.
Gut, da war DAB, später DAB+. Doch das „Digitalradio“ kann es mit Glück noch auf den Status einer Brückentechnologie schaffen. Die Zukunft des Radios kann es nicht werden: weil es die Funktionsmechanismen des UKW-Marktes kopiert. Wer rein will, braucht viel Geld für die Frequenz, die dann in den meisten Fällen regional beschränkt ist. So entstehen keine Innovationen.
Radio gehört ins Netz
Schon heute hören immer mehr Menschen mit mobilen und vernetzten Geräten, Tendenz steigend. Noch ist das Netz unterwegs oft nicht stabil genug. Und noch ist das Auto der letzte weiße Fleck auf der Internet-Landkarte. Beides aber ändert sich gerade – und das sehr schnell.²
Was bedeutet das aber? Wenn wir z.B. beim Einsteigen ins Auto nicht mehr den Sender hören, der gerade am wenigsten nervt, sondern exakt den, auf den wir gerade Lust haben? Das bedeutet nichts weniger, als dass plötzlich ein Markt entsteht für inhaltsgetriebene Radios. Für ein Sportradio, ein Kino-Radio, ein Literatur-Radio, ein Popkultur-Radio etc. – ein Markt, in dem 4 von 5 der jetzigen Anbieter unnötig werden, weil sie sich zu wenig unterscheiden. Wer „immer online“ sein kann, kann auch immer alle Sender hören. Natürlich wird es auch dann noch Sender brauchen, die Tagesbegleiter sind, gute Laune machen, die beliebtesten Hits spielen. Doch es braucht dann nicht Dutzende davon. Es stellt sich spätestens hier die Frage: was ist der „USP“ von Radio in einer vernetzten Welt? Das kann Lokalkompetenz sein (wie beim „Heddesheim-Blog“ oder den „Prenzlauer Berg Nachrichten“), das können auch Nachrichten sein. Das kann auch Recherche sein (wie bei „readmatter.com“), gute Geschichten (wie bei „RadioLab“) oder ein getroffenes Lebensgefühl (manche nennen`s auch „Coolness“). Allein die Tatsache, dass man sendet, ist es nicht.
Radio muss findbar werden
Jeden Tag entstehen ungezählte Stunden kluger Fragen, spannender Antworten und tolles „Kino im Kopf“ – als Audio. Und wie kommt das zu den Menschen, auf ihre Ohren? Radiomacher sind noch zu sehr auf das Senden fixiert. Dabei ist der Content, wenn er gesendet wird, doch schon bezahlt. Ihn nun auch noch Online zu bringen, kostet kaum zusätzliches Geld. Denn Speicherkosten gehen gegen Null und die Tools für gute Web-Arbeit werden immer einfacher. Gut gepflegte Podcast-Feeds, schöne Webseiten, klug eingebettete Player, einfach bedienbare Apps, gepflegte Datenbanken für die WLan-Radios, sauber verschlagwortete Online-Artikel – und vor allem: Audio-Dateien unbegrenzt online lassen. All das gehört zum Radiomachen dazu. Warum? Weil die Währung von morgen nicht mehr andauerndes Wachstum, sondern Vernetzung sein wird. Vernetzen kann sich aber nur, was im Netz findbar ist und bleibt. Spätestens, wenn Suchmaschinen in der Lage sein werden, auch Audio-Dateien inhaltlich mit zu durchsuchen und in die Suchergebnisse einzubeziehen, wird der einen Vorsprung haben, der eben nicht nur ans Senden gedacht hat.³
Wir müssen überlegen, was unersetzbar ist
Die besten Hits bringt Radio? Streaming-Dienste aber auch. Nachrichten? Die gibt es im Netz beinahe an jeder Ecke. Wetter und Verkehr? Hier Smartphone viel genauer, wo ich gerade bin.
Wir dürfen uns keine Denkverbote auferlegen. Moderationen zu Musiktiteln, Wetter und ja, auch Hörfunk-Nachrichten, haben uns jahrzehntelang wertvoll gemacht. Sie sind aber auch hochgradig standardisiert. Schon bald wird sie ein Computer sprechen können. Die Frage wird damit nicht, „ob“ wir das machen wollen oder sollen, sondern „wie“. Wie müssen Hörfunk-Nachrichten gestaltet sein? Und Moderationen? Welche Musik liefern wir? Getestete Hits – oder wirklich neue, offensiv gefundene Perlen? Kurzum: Wie machen wir uns unersetzbar?
Natürlich sind Fakes ein Problem. Sie belügen den Hörer, Zuschauer, Leser – und das unterscheidet den Journalisten vom PR-Mann: das er nicht lügt. Genau so schlimm aber ist, dass der Radiomarkt (und nicht nur der) sich und seine zahlenden Kunden, die Werbetreibenden, seit Jahren an ein Lügen gewöhnt hat. Er behauptete Reichweiten, die schlicht nicht real sind. Dieses jahrelange Aufblasen hat dazu geführt, dass neue Projekte es ungleich schwerer haben, sich im Markt zu behaupten – weil sie aus Sicht der Werbetreibenden und ihrer Agenturen zu lange „unter dem Radar“ fliegen.
Wir fangen doch gerade erst an
Journalismus, auch der im Radio, wird wieder kleinteiliger. Wir sehen immer mehr Experimente und Gehversuche (so wie ein interaktives Live-„Radiorollenspiel“, die „Rundshow“ im BR oder unser mit dem Deutschen Radiopreis 2012 ausgezeichnetes Format „vox:publica“) – und genau die brauchen wir auch. Auffällig hierbei ist aber schon, dass die wahren Innovationen sehr oft nicht im Zentrum der großen Player entstehen, sondern in der Peripherie. Kleine Teams machen einfach, statt sich in den Mühlen der großen Häuser zu lang ausbremsen zu lassen: Yahoo macht nun den „Postillon“ zu einem wöchentlichen Video-Format, Google sponsort „Jung & Naiv“, „Was mit Medien“ landet in DRadio Wissen. „Data-Journalism“ gilt als das nächste große Ding im Journalismus – doch kaum eines der vieldiskutierten Projekte wäre möglich gewesen ohne den „OpenDataCity e.V.“, einem gerade mal 7 Mann starken Spezialistenteam. Ohne „StrandgutMedia“ kein Bambule und kein neoParadise; ohne „VICE“ kein „Wild Germany“; ohne ulmen.tv kein „About:Kate“; ohne „Blinkenlichten“ kein „Elektrischer Reporter“. Das ließe sich fortsetzen. Der Befund ist auffällig: die wirklich spannenden Ansätze und Formate der letzten Jahre, ob man sie nun „gut“ findet oder nicht – entstanden sind sie meist bei externen Produzenten.
Genau das kann das Netz für Journalisten und Medien leisten: ausprobieren, was geht. Sich wieder mehr trauen. Resonanz erzeugen, ohne dafür Unmengen Geldes für Distribution ausgeben zu müssen. Die Frage, wo Qualitätsmedien und junger, mutiger Journalismus zu Hause sind, ist keine Frage von Technik. Es ist eine Frage des Wollens und der Ehrlichkeit: gegenüber uns selbst (wir haben eben nicht immer auf alles eine Antwort), gegenüber dem Markt (Größe ist nicht gleichbedeutend mit Wertigkeit), und unseren Nutzern (Ja, Qualität kostet Geld).
Zurückblicken ist immer einfacher; und hinterher ist man klüger. Darum haben es Kritiker auch einfacher als jene, die experimentieren wollen. Ihnen sollten wir, ohne Arroganz und in aller Bescheidenheit, selbstbewusst klar machen: gebt uns einfach ein bisschen Zeit. Wir fangen doch gerade erst an.
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¹ ma 2013 Radio II
² Nicht nur, dass BMW („Connected Drive“), Daimler („Comand Online“), VW („Discover Pro“), Ford („Sync“), Audi („Connect“), Toyota („Hotspot“), eigentlich alle relevanten Hersteller fertige Lösungen für „Internet im Auto“ anbieten. In der „Internet Media Device Alliance“ (IMDA) ist sogar der Weg beschritten, der sonst so oft nicht erreicht wird: international und branchenübergreifend einen gemeinsamen Standard entwickeln. Mit am Tisch sitzen dort Inhaltsproduzenten (u.a. BBC, ARD, CBS, npr), Forschung & Entwicklung (IRT, Fraunhofer IIS, vTuner) und Autobauer (Daimler) an einen Tisch bringt – eine äußerst vielversprechende Kombi.
³ Übrigens wird z.B. im „Hyperaudio“ Projekt der Mozilla Foundation oder im „K-Space-Projekt“ schon sehr konkret hieran gearbeitet.
Dieser Artikel ist erstmalig erschienen im MediumMagazin 12/2013.
Marcus Engert ist Mitgründer des deutschlandweiten Online-Radios detektor.fm, welches 2012 mit dem Deutschen Radiopreis („Beste Innovation“) ausgezeichnet wurde.
Chefredakteur Marcus Engert war am Leipziger Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft, beim BBC WorldService in London, als Autor für verschiedene ARD-Anstalten und bei der Nachrichtenagentur ddp tätig. Er ist Lehrbeauftragter im Studiengang „Online Radio Master“ der MLU und wurde vom „Medium Magazin“ in die „Top30 bis 30“-Journalisten des Jahres 2013 gewählt.
Er ist auch als Dozent für Zukunftsfragen rund um Radio und Journalismus tätig, bisher u.a. für die LfM Nordrhein-Westfalen, das MIZ Potsdam-Babelsberg (Medienanstalt Berlin-Brandenburg), die Evangelische Journalistenschule oder die ARD-ZDF-Medienakademie.