Wenn am Mittwoch die neue Quote der Hörfunksender – die sogenannte ma 2014 radio I – erscheint, gibt es von allen Seiten wieder Lobeshymnen: In den Pressemitteilungen sehen sich alle beteiligten Radiosender als klare Gewinner oder sie lassen sich gekonnt in Szene setzen, wenn es ‚mal einen brutalen Absturz gibt. Bei letzterem Fall rollen zwar meist irgendwelche Köpfe, der Chefredakteur oder ein Ressortleiter darf sich verabschieden. Allerdings ist das wie mit dem Auswechseln von Fußball-Trainern: Statistisch gesehen bringen sie meist nichts, man befriedigt höchstens die Gemüter von Vorstand (Geschäftsführer) und Zuschauer (Gesellschafter).
Egal, die Hauptsache ist, dass die Außenwahrnehmung bei so einer Pressemitteilung stimmt. Und vom Führungswechsel kriegt der Hörer ja kaum was mit. Allenfalls, wenn ein bekannter Moderator gehen muss, gibt es für ein paar Wochen Unruhe. Bei solchen Pressemitteilungen stelle ich mir zwei Fragen: Wer liest sie und welches Medium würde sie 1 zu 1 übernehmen? Wenn es eine Randnotiz in der Zeitung gibt, dann sind die Zahlen neutral. Wäre es nicht ehrlicher zu sagen: „Ja, okay, wir haben x tausend Hörer verloren, das ist schade, aber wir stehen zu unserem Programm, wir stehen zu unserer Qualität – und bleiben dabei“? Die Realität sieht anders aus, denn Radiosender messen ihre Qualität an der Quote. Das ist fatal. Das ist nicht neu.
4 Stunden Radio hören die Deutschland jeden Tag
Vorab hat die Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse e.V. (agma) bereits durchblicken lassen, dass die Radionutzung wieder leicht angestiegen ist: Angeblich wird täglich im Schnitt 4 Stunden lang Radio gehört. Die Hördauer beträgt exakt 199 Minuten, die Verweildauer 249 Minuten (über die Unterschiede). Aha. Wenn ich nicht-repräsentativ in meinen aufgeweckten Freundes-, Verwandten- und Kollegenkreis blicke und ich mich mit ihnen unterhalte, gehört meine wissenschaftlich als Anekdote gesehene Meute wohl eher zu denen, die deutlich unter diesem Stundensatz liegt. Da es sich hier um eine Durchschnittszahl handelt, muss es schlussfolgernd wohl auch einen Anteil geben, der etwa 30 Stunden täglich Radio hört. Oder etwas darunter.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann die Verweildauer je gefallen war. Scherzhaft sagen nicht wenige Radiokollegen nach jeder ma: Irgendwann gibt es mehr Hörer als Deutschland Einwohner hat. Laut neuester ma 2014 radio I liegt der Weiteste Hörerkreis (WHK) bei 94 Prozent in Bezug zur deutschsprachigen Gesamtbevölkerung ab 10 Jahren. Sage und schreibe 99,4 Prozent und damit fast 73 Mio Hörer haben einen Radiosender „schon gehört“. Da muss sich die agma mal was einfallen lassen. So geht das doch nicht weiter; besonders nüchtern, fernab polemischer Sichtweisen betrachtet.
Mit 101 Radiosendern werden zwar viele, aber bei Weitem nicht alle Hörfunkstationen in Deutschland aufgeführt. Streng genommen entsprechen sie noch nicht mal ein Drittel aller terrestrischen Radios; von den mehr als 1.200 lizenzierten Webradios ganz abgesehen. Manche Gebiete fallen zudem völlig raus: In Nordrhein-Westfalen werden die eigentlich unabhängigen 45 privaten Lokalsender von der agma nicht berechnet, es gibt nur gigantische Hörerzahlen für das Mantelprogramm von Radio NRW (zuletzt 1,6 Mio in der Durchschnittsstunde) – für einen Sender, den es nicht gibt. Zwar existieren auch Quoten für die einzelnen NRW-Privatradios, die von der E.M.A. NRW und damit unabhängig von der bundesweiten ma radio analysiert werden; diese sind jedoch nicht öffentlich.
Die Radioquote: Kein Schätzen, eher ein Vermuten
Die Radioquote ist ein zweimal jährlich stattfindendes Trauerspiel, das Hörer und Werbekunden echte, zumindest verlässliche Zahlen vorgaukeln soll. Die agma macht das durchaus geschickt und hochprofessionell. Kurios: Anders als bei Wahlumfragen vor einer Bundestagswahl ist bei der ma radio nicht herauszufinden, ob die durch Telefonumfragen erstellte Prognose auch tatsächlich stimmt. Nach einer Wahl sieht man hingegen das amtliche Ergebnis, alle Stimmen wurden (aus)gezählt. Bei der Radioquote kann man allenfalls schätzen, aber selbst das Schätzen ist eher ein Vermuten. Die Radiowelt schätzt, dass die Vermutung der agma stimmt. Großartig! Da verhält es sich ähnlich wie mit der TV-Einschaltquote, bei der die GfK aus lächerlichen 5.000 Messboxen ein vermeintliches Millionenpublikum hochrechnet. Immerhin ein dezenter Nachweis, am Telefon kann viel erzählt werden. Man muss allerdings auch sagen, dass eine vollständige Berechnung technisch nicht möglich ist.
Fernseh- und Radiogeräte sind bekanntlich Empfangsgeräte und haben nur selten einen Rückkanal. Beim Fernsehen hat sich dies gewiss deutlich gewandelt in den letzten Jahren: Rund die Hälfte der Zuschauer nutzt mittlerweile Kabel als Fernsehempfangsmöglichkeit, die meisten von ihnen DVB-C mit der Fähigkeit eines Rückkanals. Damit kann der Kabelanbieter Zuschauerzahlen erfassen – und wird es intern vermutlich auch. Zwar gibt es mit Satellit und DVB-T noch TV-Verbreitungen, die eine Messung nicht zulassen und ebenfalls rund die Hälfte ausmachen. Aber immerhin die Hälfte! 50 Prozent aller Deutschen könnte man so technisch nachweisen und die wären repräsentativer als die wenigen Tausend Messstationen – das tut absurderweise nur keiner. Man hält krampfhaft am alten System fest.
Beim Blick auf die Radiogeräte sieht es noch schlechter aus: Die meisten empfangen Radio per UKW und entsprechend ohne Rückkanal. Messbar wären hingegen Livestreams über das Internet und dieses Thema betrifft beide: sowohl TV als auch Radio. Doch bleiben wir beim Hörfunk: Wieso fließen die Zahlen der Sender, die ihren Stream über die Website, per App oder sonstigem Player zur Verfügung stellen, nicht in die Radioquote mit ein? Missbrauch gibt es theoretisch überall, doch mit Hilfe von Techniken, die die IVW auch für Internetseiten verwendet, könnte eine einigermaßen verlässliche Radioquote erstellt werden. Auch Publisher wie Radio.de oder Phonostar.de, die gesammelt die Radio-Livestreams anbieten, präsentieren eigene Charts und (teils) Gesamthörerzahlen. Angeblich 20 Mio Webradio-Hörer soll es in Deutschland geben, schrieb jüngst die Deutsche Welle. Aber keine Sorge, liebe Kollegen, ihr werdet nicht überrannt mit reinen Webradios: Die Charts führen allesamt die etablierten UKW-Sender an.
Nächster Halt: Internet – Willkommen im Jahr 2014!
Immerhin ist die agma endlich mal auf den Trichter gekommen, die Webradios zu messen. Hinter der etwas kryptischen Bezeichnung der „logfile-basierten Webradio-Messung“ steckt die ma 2014 IP Audio I, deren erste Ergebnisse am 26. März veröffentlicht werden sollen. An dem Projekt nehmen 25 Publisher und 160 Radiokanäle teil. Viel mehr ist derzeit nicht bekannt. Längerfristiges Zeil sei nach Angaben der agma, die Webradios und die Radioquote zu einer „Konvergenzdatei zu verknüpfen“. Das klingt zwar erstmal ganz hübsch, doch alles noch sehr nach Zukunftsmusik. Inhaltlich und technisch muss sich das System noch beweisen. Bei 20 Mio Livestream-Hörern dürfte das den Markt aber durchaus wieder aufmischen. Kurioserweise könnte diese neue Messung sogar mehr Gewichtung bekommen als die herkömmliche Radioquote.
Denn für die aktuelle Radioquote wurden gerade mal 68.584 CATI-Interviews, also telefonische Befragungen durchgeführt. Wie und wer analysiert wird, kann hier nachgelesen werden. Die Zahl wirkt erst mal viel; auch im direkten Vergleich zu den wenigen TV-Boxen. In Relation zu den 73,4 Mio Bundesbürgern, die als Basis dienen, allerdings auch putzig wenig, schließlich spräche jeder einzelne Befragte für mehr als 1.000 Hörer. Um das ‚mal auf die reale Radiowelt herunterzubrechen: Gerade mal 10 Befragte können über den Verlust eines Arbeitsplatzes im Sender oder über eine essenzielle Programmänderung entscheiden. Lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen! Und selbst wenn es 50 Interviews sind, sie stehen für im Schnitt 50.000 Hörer. Das sind Zahlen, die Existenzen ruinieren können. Dramatischer ist es sogar in dünn besiedelten Regionen oder in einwohnerschwächeren Bundesländern, da dort die Proportionen noch schlechter aussehen und ein einzelner Befragter für deutlich mehr Hörer steht. Oder anders ausgedrückt: Eine Handvoll kann über Fortsetzung oder Bankrott eines kleinen Senders entscheiden. Bei einer tatsächlichen Reichweite von 50.000 Hörern pro Durchschnittsstunde ist „auch ein Wert von 20.000 oder 65.000 korrekt“, wurde ‚mal ein MA-Vertreter zitiert. Absurd!
Fraglich sind auch weitere Aspekte: Nichtdeutschsprachige (Ausländer) fallen grundsätzlich aus der Stichprobe. Damit sind sowohl hier lebende und arbeitende Bürger als auch ausländische Touristen gemeint. Viele Millionen Menschen tauchen so in der Statistik nicht auf. Das Analysebild von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist ebenfalls verzerrt, da viele gar keinen Festnetzanschluss besitzen, sondern nur ein Handy: Zweidrittel der 14-29-Jährigen nutzen ein Smartphone, 90 Prozent sind mobil per Handy, aber nur die Wenigsten bis zum 30. Lebensjahr mit einem (eigenen) Festnetzanschluss erreichbar. Sender mit dieser besonderen Zielgruppe haben das große Nachsehen. Zudem fällt ungeachtet dessen grundsätzlich etwa jeder 8. Haushalt in Deutschland raus, da dieser ausschließlich per Handy und nicht mehr per Festnetz erreichbar ist. Trotzdem findet die Befragung bislang nur per Festnetz statt; wegen der „regionalen Verortung“ und den „soziodemografischen Angaben“, argumentiert die agma und verkommt damit zu einem Stand aus dem letzten Jahrtausend. Immerhin wird die ma radio nicht per Fax verschickt. Wobei, da bin ich mir gar nicht so sicher.
Fazit
Die Methodik, mit der die Radioquote erstellt wird, geht an der Wirklichkeit vorbei und ist noch immer höchst fragwürdig, doch kaum jemand traut sich, sie ernsthaft und vor allem öffentlich infrage zu stellen: ein Stockholm-Syndrom at its best. Besitzstandswahrung im Jahr 2014 auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Gewiss: DIE perfekte Lösung für eine neue Radiowährung gibt es nicht. Ansätze zur Verbesserung sind aber vorhanden: Vor allem eine Aufnahme der Livestreams in die Reichweiten und eine realitätsnahe Befragung der jungen Zielgruppe wären erste wichtige Schritte. Die Radioquote ist die einzige Währung, die zählt, um Geld zu drucken. Dass es eine Währung für Werbegelder geben muss, steht völlig außer Frage. Doch bitte anders!
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Sebastian Pertsch ist Radiojournalist aus Berlin und arbeitet vor allem als Nachrichtenredakteur und -sprecher im Hörfunk. Nebenbei ist er Dozent für Journalismus und Social Media, spricht und produziert die wöchentliche Nachrichtensendung von Eine-Zeitung.net, analysiert mit TRAXY.de die deutschsprachigen Medien in den Sozialen Netzwerken und berichtet hin und wieder auch für die RADIOSZENE (z.B. vom Deutschen Radiopreis). Beruflich führte es Pertsch nach Afghanistan und Frankreich sowie Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz.
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