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Schröder und Kretschmann

Bitter Lemmer Logo 2010Da sage einer, früher sei alles besser gewesen. Nein, manches war schlechter, jedenfalls auf den ersten Blick. Am 11. März 1999 erlaubte sich 104.6 RTL einen Telefonstreich mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Ein Stimmenimitator gab sich als Bundespräsident Roman Herzog aus (siehe auch hier) und verhörte den Kanzler zum plötzlichen Rücktritt seines Finanzministers Oskar Lafontaine. In der Folge ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen die Macher (ich gehörte dazu) und Geschäftsführer Bernt von zur Mühlen wurde gefeuert. Heute geht das geschmeidiger. Derselbe Sender lässt seine Merkel-Stimmenimitatorin beim frisch gebackenen grünen Wahlsieger Winfried Kretschmann anrufen und ihn hochnehmen. Spiegel online amüsiert sich darüber und alles ist gut. Wie das?

Die Radiomacher vom Kudamm haben fast alles sogar in den Details exakt genauso gemacht wie damals. Handy-Nummer besorgt, ein angebliches Vorzimmer vorgeschickt, das den prominenten Gesprächspartner avisierte und dann den Ahnungslosen hochgenommen.

Zwei Unterschiede gab es allerdings.

Anders als damals bei Gerhard Schröder hat 104.6 RTL, so ist es in der Anmoderation zu hören, eine Sendeerlaubnis bei den Grünen angefragt und bekommen. Das Kretschmann-Telefon lief also mit offizieller Erlaubnis des Geneppten. Schröder wurde damals nicht gefragt und konnte folglich keine Einwilligung erteilen. Der Sender hat sich damit nach zwölf Jahren freilich an Gepflogenheiten angepasst, die zu einer freien Medienwelt nicht recht passen wollen, in der Praxis aber ziemlich normal geworden sind. Dass Politiker um ihr Einverständnis für solche Aktionen gebeten werden, ist eine Form vorauseilenden Gehorsams. Das kann man als Folge der zunehmend restriktiven Zensurpraxis einiger Gerichte sehen, die 1999 noch nicht die Auswüchse erreicht hatten wie heute.

Rechtlich war das Schröder-Telefon nicht zu beanstanden, und es gab ja den Versuch, die Verantwortlichen zu belangen. Die Berliner Staatsanwaltschaft prüfte alle möglichen Paragraphen, bis hin zu der absurden Vorschrift, der die Verunglimpfung des Bundespräsidenten unter Strafe stellt. Erst nach Wochen, als sich partout nichts fand, stellten die Ermittler das Verfahren ein. Heute wäre da zivilrechtlich möglicherweise mehr zu erreichen, vorausgesetzt, das richtige Gericht wird angerufen, meist Berlin oder Hamburg.

Zum zweiten besaß das Schröder-Telefon eine Brisanz, die das Kretschmann-Telefon nicht hatte. Einen Wahlsieger für seinen Wahlsieg zu veräppeln ist harmloser als einen Regierungschef hochzunehmen, der gerade eine akute Krise zu verarbeiten hat. Freilich gilt: Je brisanter desto spannender und interessanter. Nur, wer sich als Medienschaffender als 4. staatliche Gewalt fühlt, kann das anders sehen. Wer dagegen distanziert zu Werke geht, sieht Brisanz als Anreiz. Distanz zur Staatsmacht ist ziemlich identisch mit Loyalität zum Publikum, das einer brisanten Vorstellung gebannter lauscht als einer staatstragenden.

So gesehen ist auf den zweiten Blick nicht alles besser als damals. Dass die RTL-Kollegen einige Tage auf die Sendeerlaubnis gewartet haben und ihrem Scoup damit Aktualität nahmen, kann man ihnen nicht ankreiden, dafür sind sie zu sehr gebrannte Kinder. Aber dass so etwas wie eine Sendeerlaubnis überhaupt ins Kalkül rücken kann lässt unsere Medienfreiheit ziemlich gerupft aussehen. Dazu will auch nicht passen, dass Politik und Medien erst vor kurzem heftig auf die neue Mediengesetzgebung in Ungarn eingeschlagen haben – die freilich immer noch freier ist als die Praxis hierzulande.

Lemmer
Christoph Lemmer arbeitet als freier Journalist in Berlin.

E-Mail: christoph@radioszene.de

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