Von einem, der auf dem OMR war und plötzlich fror.
Es war ein berauschendes Spektakel: Hamburg 2025, die OMR – das Who-is-Who des digitalen Marketings, ein digitaler Jahrmarkt. Grell, laut, überdreht. Zwischen Screens und Spotlights verlieren sich Ego und Echo in Dauerschleife. Der „Beste Mix“ aus Applaus und algorithmischer Euphorie, aus langen Hälsen, breiten Podien und viel zu lauter Musik. Eine Messe wie ein überdrehtes Werbevideo: Lichtblitze, Beifall und digitaler Optimismus auf Anschlag, Netflix-Gewinnspiele aufm Hof, Underberg-Stars am Hallenrand und Gratis-Äpfel neben dem Cocktail-Wagen. Was für ein wunderbares Theater. Deshalb gelten diese Zeilen nicht dem Event, nicht dem Veranstalter, nicht der Branche oder gar dem Sujet. Sondern den digitalen Helden vor Ort und deren Publikum.

Da stehen sie auf den Bühnen, tatsächlich wie Rockstars oder Staatsmänner und -frauen, aber es sind Influencer, Content Creators, Creatives. Ein Heer von sich selbst Darstellenden, deren Einfluss sich nach Followerzahlen bemisst, deren Währung Likes, deren Maßstab Reichweite ist. Spannend und verrückt.
Und während tausende junger Menschen mit leuchtenden Augen zu ihnen aufblicken, ist mir, als säße ich in einem Kühlhaus der Illusionen. Denn was wir dort erleben, ist eine kollektive Verblendung für all jene, die nicht verstehen, was das dort wirklich ist und aus welchen (sinnvollen und unternehmerisch notwendigen) Gründen es das alles gibt. – Oohh, wie kann er nur so was sagen? Abwarten, ich ordne gleich ein.
Und verstehen Sie mich nicht falsch: Ich verehre die Kraft des Digitalen. Sehr sogar. Ich sehe, wie Automatisierung, KI, Plattformen und Kommunikation unser Leben vereinfachen, Werte erschaffen, unsere Wirtschaft transformieren und auch demokratisieren können. Gerade als Medienmacher und Radio-Mensch mit Faible für Digital Audio oder Programmatic Advertising. Noch nie war es leichter, eine Stimme zu haben, Reichweite zu erlangen, sich zu verwirklichen. Das ist großartig – aber nicht ungefährlich.
Denn was auf den Bühnen Hamburgs gefeiert wird, ist nicht bloß Fortschritt. Es ist die Vergötterung der eigenen Sichtbarkeit, als ob das eigene Sein erst dann zählt, wenn es im Schein des Displays aufleuchtet. Es ist der narzisstische Kult des Ichs – mit Ringlicht und Reichweite. Selbstinszenierung als Lebensziel. Statt innerem Wachstum zählt nur äußere Wirkung: gut ausgeleuchtet und mit perfektem Algorithmus-Boost.
Es entsteht eine Vorstellung, dass der Wert eines Menschen direkt proportional zur Anzahl seiner Posts, Likes und Shares sei. Als wäre Leben nur dann lebenswert, wenn es beobachtet wird. Du musst nur sichtbar sein, nicht verlässlich, nicht fleißig, nicht hilfsbereit, klug, gebildet oder handwerklich geschickt, sondern einfach nur online.
Manchmal bekomme ich das Gefühl, jungen Menschen wird eingeredet: Du bist nur so viel wert, wie dein letzter Post performt hat. Als wäre das echte Leben bloß Rohmaterial für deine Reels.
Was für ein Trugbild! Denn hinter der Fassade, hinter den gefilterten Clips, den glattgebügelten Storys und dem Dauerlächeln lauert eine Realität, die wir nicht sehen wollen: Einsamkeit, Druck, Selbstoptimierungswahn, unfassbare Konkurrenz, brutal viel Arbeit, Egozentrik, Burnout. Und das mit Anfang zwanzig. Der Preis für den Applaus der Masse ist oft der Rückzug aus echtem sozialem Kontakt, der Verlust echter Beziehungen und eine Identität, die immer abhängig ist vom nächsten Algorithmus-Update.
Ich weiß aus meiner eigenen Morningshowzeit, wie zerstörerisch es ist, jede Sekunde des Erlebens auf Moderationstauglichkeit überprüfen zu wollen. Eine schreckliche Sucht. Wie schwer muss diese sich heute anfühlen, wenn alles gefilmt, kommentiert, „vercontentet“ werden kann und muss?
Alle reden von Selbstverwirklichung, aber es ist oft Selbstverzweckung. Ein Leben für die Kamera. Ein Alltag im Dauerloop. Gedacht fürs Display, aber gelebt wie ein Trailer ohne Film. Und während wir Millionen von Klicks feiern, verlernen wir womöglich, die wahren Themen und Stützen unserer Gesellschaft zu sehen, geschweige denn, ihnen nachzueifern.
Zu viel Pathos? Ich glaube nicht. Wer will denn heute noch Bäcker sein? Pflegerin? Landwirtin? Schweißer? Busfahrerin? Ingenieur, Kassiererin oder Buchhalter. Selbst Radio scheint lahm und uncool geworden. Wer möchte mit seinen Händen und seiner Klugheit etwas schaffen, wenn man doch mit seinem Lächeln Tausende erreichen kann? Ein Land, das sich nur noch um Likes statt Leistung dreht, verliert möglicherweise den festen Boden unter den Füßen, egal wie stabil die Internetverbindung dann noch ist. Ohne Handwerk keine Häuser, ohne Pflege keine Würde, ohne Landwirtschaft keine Nahrung, ohne Industrie keine Kraft.
Puhhh, was für eine GenX-Theatralik, oder? Allein für diese Sätze hätte mich die gackernde Influenzerschar aus jungen Schweizerinnen in der U3 auf dem Weg zur Messe wohl ebenso verlacht, wie sie augenrollend die Hamburger U-Bahn-Fahrgäste auf dem Weg zur Arbeit belächelt hat. Unartig, respektlos, unnötig.
Unsere digitale Welt mag schillernd sein, aber sie ruht auf Schultern, die niemand mehr bewundert. Es ist Zeit, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Zeit für eine Besinnung. Für eine neue Ehrlichkeit. Für eine junge Generation, der man sagt: Ja, träumt! Ja, nutzt die Möglichkeiten des Netzes! Aber glaubt nicht, dass Glück sich nach Klicks bemisst. Verwechselt Sichtbarkeit nicht mit Sinn. Und vergesst nicht, dass Würde, Respekt und Tiefe oft dort entstehen, wo man am wenigsten Applaus bekommt, aber am meisten gebraucht wird. Wir brauchen eine Gesellschaft, die Arbeit weiter oder wieder ehrt, auch und gerade die unsichtbare. Geiz ist ebenso wenig geil wie der um sich greifende Bequemlichkeitsanspruch.
Uns allen stünde eine Kultur gut zu Gesicht, in der nicht nur der Lauteste oder Lustigste gewinnt, sondern auch mal der Verlässlichste. Nicht immer nur denen zuzuhören, die am lautesten lachen, sondern denen, auf die man sich verlassen kann, wenn’s still wird. Und eine Jugend, der man wieder sagt: Nicht jeder kann und muss Influencer werden! Aber jeder kann etwas Bedeutendes beitragen. Also macht den Screen einfach mal aus, geht mal raus. Draußen ist es auch schön. Krasse Farben. Und alles in 3D!
Etwas Versöhnliches zum Schluss? – Etwas, das mir den alten Grisgram wieder aus dem Hemd bügelt? Na gut.
Das OMR-Festival mag laut, überdreht und manchmal wie ein überdimensionales Klassentreffen wirken, aber gerade darin liegt auch sein Wert. Es schafft einen Raum, in dem Marken, Macher und Visionäre nicht nur Technologien präsentieren und das Digitale nicht nur hypen, sondern mit Haltung füllen.
Ich selbst hab tolle Gespräche geführt. Mit mutigen, klugen, schnellen Denkern, kaum halb so alt wie ich. Hammer! Für die junge Gründergeneration ist OMR ein geniales Spielfeld, auf dem Netzwerke wachsen und Ideen Gestalt annehmen und laufen lernen. Wo sonst ließe sich der digitale Wandel so greifbar erleben wie zwischen Panels, Foodtrucks und Tech-Demos. Trotz aller Überdosis Buzzwords also: OMR ist auch ein Ort für echte Begegnungen. Das hat mich mal wieder überrascht und versöhnt.
Und den beiden Herren, die im Hotel beim Frühstück neben mir lauthals die sinkende Qualität der Master Classes bedauert haben und dass alles nur noch eine Werbeveranstaltung für die Unternehmen und Produkte der Speaker sei, denen möchte ich noch rasch zurufen: Wer hat eure OMR-Tickets und das Hotel gleich nochmal bezahlt? Euer Chef? Ein Unternehmer? Hm. Merkt ihr selber, oder?
Danke.
Wir lesen uns.

Ulrich Müller ist Radiomanager, Medienunternehmer und Strategieexperte. Er war u.a. Programmchef von RADIO PSR, Geschäftsführer von Sendern wie Sportradio Deutschland, DRIVERS RADIO oder FEMOTION RADIO sowie Managing Partner bei Agenturen wie WOLFFBERG und der zebra group und ist u.a. Geschäftsführer der STRATICS GmbH.
Er entwickelt heute bundesweite Audio- und Industriemarken, leitet Programminnovationen und berät Unternehmen in Strategie, Content, Distribution und AdTech. Ulrich lebt bei Leipzig.