Suchen wir im deutschen Radio nach Talkformaten oder Call-In-Shows findet sich tatsächlich eine beachtliche Breite an Sendungen mit unterschiedlichen Ansätzen. Seien dies ausgedehnte Gespräche mit bekannten Persönlichkeiten oder die facettenreichen Anlaufzeiten zu den Alltagsthemen der Hörerinnen und Hörer. Geredet wird bei Sendern oft – und intensiv.

Auch jenseits der Kernzeiten haben sich diese Formate bei der Hörerschaft echte Wertschätzung erarbeitet. Wie beispielsweise bei den einschlägigen Kultsendungen „SWR1 Leute“, die „Blaue Couch“ (BAYERN 1), „Sabrina trifft …“ (DONAU3FM) oder der „WDR 2 Talk mit Jörg Thadeusz“ – diese und zahlreiche andere erfreuen sich hoher Beliebtheit. Und stellen für die Sender willkommene Aushängeschilder dar. Die höchste Dichte für den Bedarf an Austausch menschlicher Sorgen und Nöte bieten jedoch (wenig überraschend) religiöse Programme wie ERF Plus, Domradio, Radio Paradiso oder Radio Horeb.

In der Regel sind Gesprächssendungen durch Musiktitel unterbrochen, um den Moderatoren und Hörern kurze „Atempause“ zu gönnen. Talk nonstop wie bei „Blue Moon“ (RBB FRITZ), dem „BB Radio Mitternachtstalk“ oder dem preisgekrönten Format „Domian“, früher bei 1LIVE zu hören, sind/waren seltener auf Sendung.
Die in den USA beliebten 24-Stunden-Talkradios sind in dieser Form bei uns noch nicht angekommen. Verständlicherweise, benötigt die Etablierung und Betreibung solcher Programme auch im Mutterland der Talkradios ein vergleichsweise kostenintensives Engagement.
Daniel Kaiser moderiert als Nachtfalke seit 14 Jahren das Gesprächsformat „RPR1. Nightlounge“, das gleichzeitig auch bei BigFM, Radio Regenbogen und ROCK FM ausgestrahlt wird – 5 Tage die Woche, nonstop von 0 bis 2 Uhr.

Im RADIOSZENE-Interview mit Michael Schmich spricht Daniel Kaiser über Themen, Publikum und Gesprächsführung in seiner mitternächtlichen Call-In-Show „RPR1. Nightlounge“.
„Während sich im Internet täglich hunderte Dinge verändern, läuft das im Radio etwas anders. Hier passiert Veränderung eher Schritt für Schritt – manchmal auch nur einmal im Jahr“
RADIOSZENE: Herr Kaiser, wie sind Sie zum Radio gekommen?
Daniel Kaiser: Ich habe damals, 2001, als ich 15 Jahre alt war, mein erstes Praktikum bei einem ehrenamtlichen Radiosender gemacht: Radio Klinikfunk in Wiesbaden. Ein Bekannter von mir hat dort eine Sendung moderiert und mich gefragt, ob ich mal ein Praktikum machen möchte. Da habe ich sofort Blut geleckt!

Es folgte – da war ich dann 16 – ein Praktikum bei Hit Radio FFH und planet radio. Viele Basics habe ich dort gelernt, und das habe ich nicht zuletzt Johannes Scherer zu verdanken. Er nahm sich damals die Zeit, mir vieles im Studio und im Aufbau einer Moderation zu erklären. Bis heute verbindet uns eine tiefe Freundschaft.
Ich glaube, in jedem Sender gibt es diese eine Person, die dafür bekannt ist, den Praktikanten etwas beizubringen. Doch das sollte nicht die Aufgabe einer einzelnen Person sein, sondern von uns allen. Damals hörte ich oft von Kollegen: „Das sind zu viele Namen, die sind doch sowieso in drei Monaten wieder weg.“ So darf man nicht denken! Praktikanten sind die Zukunft unserer Branche, und es liegt an uns, ihnen die besten Werkzeuge mitzugeben.
Viele meiner „Nightlounge“-Praktikanten sind heute selbst erfolgreiche Medienpersönlichkeiten, und darauf bin ich wirklich stolz. Es ist vor allem ein Geschenk, wenn sie nach ihrer Zeit in der „Nightlounge“ gefragt werden, positiv zurückblicken. Das zeigt mir, dass wir nicht nur Wissen vermitteln konnten, sondern auch einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben.
RADIOSZENE: Seit 2011 gestalten Sie die Talksendung „Nightlounge“, die über UKW terrestrisch im Südwesten zu hören ist. Über DAB+ zwischenzeitlich auch in weiten anderen Teilen Deutschlands. Schildern Sie uns doch das Konzept der Sendung. Wer war eigentlich der „Erfinder“ dieses Formats?
Daniel Kaiser: Die ursprüngliche Idee der „Nightlounge“ geht auf Claudia Wandrey zurück. Sie entwickelte das Format unter dem Namen „Claudis Nightlounge“ bei bigFM, wo die Talkshow erstmals im März 2006 nichts geändert: Es gibt ein Thema, und dazu können alle anrufen. Und dennoch ist die heutige „Nightlounge“ eine ganz andere als vor 19 Jahren. Das liegt vor allem daran, dass ich die Sendung zwar nicht verändern möchte, aber immer wieder versuche, sie neu zu erfinden.
Das habe ich durch neue Themen-Formate geschafft – hier eine kleine Auswahl: „Eine Frage, drei Antworten“. Ein Anrufer stellt eine Frage, die dann von drei anderen Anrufern beantwortet wird. Das können ernste oder lustige Fragen sein, wie: „Wie oft gehst du duschen?“ oder „Was muss ich tun, um meine Ex zurückzugewinnen?“ Und dann darf der oder die nächste eine Frage stellen.
„Ein Datum und deine Geschichte“: Jeder Anrufer nennt ein Datum und erzählt, was an diesem Tag passiert ist. Zum Beispiel: die Geburt des Kindes, der Verlust eines Freundes, eine Autopanne im Ausland oder der Kauf des ersten Hauses.
„Was bedeutet für dich …?“: Ich wähle ein Wort aus, über das wir dann zwei Stunden lang sprechen. Die einzige Regel: Kein Duden, kein Wikipedia, kein Googeln! Es geht darum, wie jeder das Wort für sich definiert. Ein Beispiel wäre „Geld“. Jeder kennt das Wort und weiß, was es bedeutet – oder? Trotzdem finde ich es faszinierend, dass manche es positiv sehen und andere negativ. Nach zwei Stunden Talk, gibt es 12 verschiedene Ansichten. Und dann frage ich mich: Wenn wir uns schon bei einem einzigen Wort nicht einig sind, wie soll das erst bei den wirklich großen Themen klappen?
„Crazy Friday“: Als ich bei RTL2 die Kindersendung „MyPokito“ moderiert habe, gab es freitags immer den Crazy Friday. An diesem Tag haben wir den Kindern verrückte Dinge erklärt – zum Beispiel: „Kann man 1000 Jahre alte Eier wirklich essen?“ Ich fand das Format klasse und habe es direkt in die „Nightlounge“ übernommen. Der Crazy Friday erlaubt mir, Themen zu besprechen, die keinen Sinn ergeben müssen. Es geht um Fantasie, Kreativität und einfach nur Spaß! Ein Beispiel: „In Japan wurden 2019 im Labor menschliche und tierische DNA gekreuzt. Mit welchem Tier würdest du dich kreuzen lassen?“
„Wir haben zu allem eine Meinung, aber diese basiert oft nur auf 1 bis zwei Sätzen. Wenn man dann genauer nachfragt, merkt man schnell, wie instabil diese Meinungen eigentlich sind“
RADIOSZENE: Andere Talkshows im deutschen Radio beinhalten Musik. Sie sprechen mit den Hörerinnen und Hörern 2 Stunden nonstop. Haben Sie die Form bewusst so gewählt?
Daniel Kaiser: Die Form war bereits so, und trotzdem war es natürlich eine große Herausforderung, vor allem am Anfang. Ich erinnere mich noch, dass es damals immer eine Hintergrundmusik gab, die ich nach einigen Jahren dann abgeschafft habe. Die Hintergrundmusik hatte den Vorteil, dass längere Denkpausen nicht zu einem Sendeausfall führten und man sich etwas sicherer fühlte. Jedoch haben sich auch einige beklagt, dass dieses Gedudel beim Nachdenken stört oder im Telefon viel zu laut ist. Ebenso schwächte die Hintergrundmusik die emotionale Tiefe bei einigen Gesprächen.
RADIOSZENE: Welche Breite an Themen werden in der Sendung behandelt? Gibt es pro Anrufer ein zeitliches Limit oder entscheiden Sie intuitiv je nach Gesprächsverlauf?
Daniel Kaiser: Nein, es gibt kein festes Zeitlimit. Je nach Thema kann ein Gespräch mal länger oder kürzer sein. Im Durchschnitt dauert es etwa 8 Minuten. Mir ist wichtig, nicht nur eine Meinung zu hören, sondern auch eine Geschichte – und dafür braucht es einfach mehr Zeit. Genau deswegen habe ich mir früh ein System überlegt, um den Hörern eine möglichst vielfältige Themenmischung zu bieten.
Ich arbeite mit einem Farbsystem: Rot steht zum Beispiel für Liebe und Leidenschaft, Grün für Familie und Freunde. Je bunter die Woche, desto abwechslungsreicher die Themen. Leider habe ich im Laufe der Jahre festgestellt, dass wir immer weniger im echten Leben erleben. Die älteren Anrufer haben noch spannende Geschichten zu erzählen, während es bei vielen anderen nur noch um Meinungen geht. Wir haben zu allem eine Meinung, aber diese basiert oft nur auf 1 bis zwei Sätzen. Wenn man dann genauer nachfragt, merkt man schnell, wie instabil diese Meinungen eigentlich sind. Ein Beispiel: Thema Wandern. Einer ruft an und erzählt begeistert, wie er von Berlin nach Barcelona gewandert ist. Zehn andere rufen an und teilen einfach nur ihre Meinung zum Wandern – ohne eigene Erfahrung dahinter.
RADIOSZENE: Sprechen Sie ausschließlich mit Hörerinnen und Hörern oder werden gelegentlich auch „prominente“ Gesprächspartner in die Sendung eingebunden?
Daniel Kaiser: Ich spreche ausschließlich mit unseren Radiohörern, aber es gab auch Zeiten, in denen wir die Sendung live im Regionalfernsehen (gutenberg.tv) übertragen haben oder im Internet (YouNow Live, Facebook Live, Instagram Live). Dadurch habe ich natürlich auch noch andere Zielgruppen erreicht. Ich habe jede neue Technik und Innovation sofort mit der Show verknüpft und ausprobiert. Das verdanke ich auch meinem damaligen Programmchef Karsten Kröger, der mir damals gesagt hat: „Nicht fragen, einfach machen“. Wo gibt es heute so etwas noch?
Letztes Jahr hatte ich das große Glück, mir nach zehn Jahren Überredungskunst endlich einen kleinen Traum zu erfüllen und die „Nightlounge“ auf Reisen mitzunehmen. Seit zwei Jahren hatte ich nicht mehr die Gelegenheit, das Grab meiner Großmutter zu besuchen. Deshalb bat ich erneut darum, meine Sendung aus dem Ausland moderieren zu dürfen. Es ging mir dabei nicht um Urlaub, sondern darum, das, was ich liebe – meine Sendung und meine Hörer – mit auf diese besondere Reise zu nehmen. Denn Radio entsteht schließlich im Kopf.
An dieser Stelle möchte ich mich von Herzen bei Andreas Holz (Programmchef RPR1.) und dem gesamten Technik-Team bedanken, die dieses Vorhaben erst möglich gemacht haben. So konnte die erste „Nightlounge“-Live-Sendung aus Prag entstehen – die erste Call In Talksendung aus dem Ausland überhaupt – und das Feedback der Hörer war überwältigend!
Vor lauter Aufregung und Freude habe ich jedoch in den ersten Minuten der Show vergessen, auf „On Air“ zu klicken, was leider zu einem Sendeausfall auf allen vier Stationen führte. Auch wenn ich dadurch bisher keine weitere Möglichkeit hatte, die Sendung aus dem Ausland zu moderieren, bin ich unendlich dankbar für diese einzigartige Erfahrung und die Unterstützung, die mir dabei zuteil wurde.
Ich finde, Radio muss mutiger werden, neue Dinge auszuprobieren und weniger Angst davor haben, dass die Leute abschalten. Nichts zu verändern ist die viel größere Gefahr – so schaltet man irgendwann selbst ab. Während sich im Internet täglich hunderte Dinge verändern, läuft das im Radio etwas anders. Hier passiert Veränderung eher Schritt für Schritt – manchmal auch nur einmal im Jahr. Die Mühlen drehen sich nunmal langsam.
Eingeladene Gäste oder Prominente gab es natürlich auch, jedoch schreckt die meisten Künstler die Uhrzeit ab. Besonders gefreut hat mich der Anruf von Jens Knossalla alias Knossi. Als er mich kurze Zeit später beim SWR Podcast-Festival in Mannheim auf der Bühne erwähnte und gefragt wurde, ob er Radio hört: „Nein, ich höre kein Radio – außer nachts diesen Daniel Kaiser“, hat mich das natürlich besonders gefreut.
Gespräche vorab aufzuzeichnen kommt für mich nicht in Frage, weil die Sendung eine Live-Show ist und auch bleiben soll. Aus der Konserve kann jeder – und das machen auch fast alle. Wenn ich Studiogäste habe, dann möchte ich nicht, dass ihre Bekanntheit im Fokus steht, sondern die Hörer und das Thema des Abends. Das macht den Künstler oder Gast viel nahbarer. Ich habe mit Senna Gammour über Liebeskummer gesprochen, und sie hat sich zwei Stunden lang die Geschichten der Hörer angehört und ihre Gedanken dazu geteilt. Irgendwann hat sie dann selbst von sich erzählt. Das ist echt, das berührt – und das kommt an kein Interview heran.
„Generell stehen Beziehungsthemen ganz weit oben, aber auch spirituelle und übernatürliche Themen sind sehr beliebt“
RADIOSZENE: Gibt es Themenbereiche, die bei der Hörerschaft besonders beliebt sind?
Daniel Kaiser: Generell stehen Beziehungsthemen ganz weit oben, aber auch spirituelle und übernatürliche Themen sind sehr beliebt. Die populärste Sendung ist die „Mystery „Nightlounge“. Wie der Name schon sagt, geht es dabei um mysteriöse Geschichten, Begegnungen mit Geistern oder Nahtoderfahrungen. Dazu habe ich einmal die Ghost Hunter Germany eingeladen. Sie glauben zwar nicht an Geister, untersuchen jedoch mit moderner Technik Orte, an denen es angeblich spukt. Solche Themen finden die Hörer natürlich extrem spannend. Wenn man sich dann beispielsweise eine verkratzte Tonaufnahme aus einer verlassenen Villa anhört, auf der man ein kleines Kind sprechen hört, bekommt man Gänsehaut.
RADIOSZENE: Umgekehrt gefragt: welche Themen fassen Sie nicht (mehr) an?
Daniel Kaiser: Es gibt keine Tabuthemen. Ich spreche über alles. Allerdings betone ich bei Themen, die mir nicht besonders liegen – sei es, weil sie mich persönlich nicht betreffen (ich kann ja nicht nur über Dinge sprechen, die mich interessieren), oder weil ich mich damit zu wenig auskenne -, dass ich nur der Moderator bin, der hier den Austausch von Geschichten und Meinungen zwischen den Hörern ermöglichen möchte.
Wenn ich merke, dass die Aussagen der Hörer in der Show nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfbar sind, weise ich darauf hin, dass es sich lediglich um eine Äußerung beziehungsweise Meinung handelt, die bitte jeder für sich prüfen sollte. Und ich fordere die anderen Anrufer auf, Stellung zu beziehen oder Gegenargumente zu liefern.

Früher vertrat ich den Gedanken, dass ich zu jedem Thema eine Meinung beziehen und meine Stellung klarmachen muss. Heute sehe ich das wesentlich entspannter und habe kein Problem damit zuzugeben, wenn ich ein Thema zwar durchaus interessant finde, mich dennoch dazu nicht äußern möchte. Ich kann nicht auf der einen Seite dazu auffordern, dass die Leute mir ihr schlimmstes Verbrechen gestehen, und sie im nächsten Moment an den Pranger stellen. Ich bin kein Richter – ich bin nur ein Zuhörer und Fragesteller. Und manchmal genügt es, den Anrufer oder Geschichtenerzähler durch gezielte Fragestellungen dazu anzuregen, sich kritisch und selbstreflektiert mit seinen Aussagen auseinanderzusetzen.
RADIOSZENE: Nun sind Fälle aus Talkshows bekannt, in denen Livegespräche aus verschiedenen Gründen aus dem Ruder liefen. Wie reagieren Sie?
Daniel Kaiser: Das passiert wirklich nur in den seltensten Fällen. Da ich die Anrufe seit acht Jahren persönlich entgegennehme, besteht keine Möglichkeit, sie vorher zu überprüfen. Aber auch ein Hörerservice kann einen Spaßanruf nicht verhindern. Aktuell würde ich sagen, es kommt etwa einmal pro Woche vor. Das Gespräch ist dann meistens genauso schnell vorbei, wie es anfängt und die Nummer wird geblockt. Man entwickelt ein Gespür dafür, und manchmal reicht schon das erste Wort zur Begrüßung. Und sollte es wirklich mal aus dem Ruder laufen, bedanke ich mich für den Beitrag und weise darauf hin, dass das Gespräch an dieser Stelle beendet wird. Ich gebe den Menschen aber auch die Möglichkeit, nach der Sendung mit mir zu telefonieren. Manchmal sitze ich dann noch eine Stunde am Telefon und rede mit ihnen über Probleme oder Situationen aus der Sendung. Ich denke, das ist für mich einer der Unterschiede und Erfolge der Sendung: Sie endet nicht mit der On- Air-Zeit, sondern erst dann, wenn jeder das, was ihn beschäftigt, auch loswerden konnte.
RADIOSZENE: Welche Motive treiben die Anrufer und Anruferinnen zur Teilnahme an einer Talkshow?
Daniel Kaiser: Wenn meine Hörer die Sendung einschalten, bin ich augenblicklich bei ihnen zu Gast – ob als Beifahrer im Auto, Besucher auf der Arbeit oder im Wohnzimmer auf der Couch. Ein guter Gast, der sich zu benehmen weiß, wird immer wieder gerne eingeladen. Ich glaube, Thomas Gottschalk hat einmal etwas Ähnliches in Bezug auf das Fernsehen gesagt.
Wir leben in einer unglaublich tollen Zeit. Kommunikation war noch nie so einfach und so günstig wie heute. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir noch nie so wenig miteinander gesprochen haben wie heute. Diese Sendung bietet den Menschen die Möglichkeit, sich mitzuteilen – über ihre Sorgen, Ängste, aber auch über ihre Erfolge und Freuden zu sprechen. Es ist echt: Hinter jedem Anrufer steckt ein echter Mensch. Unabhängig davon, ob der Name und die Angabe des Wohnorts stimmen, ist es dennoch ein Mensch – etwas, das durch Chatbots und KI immer schwieriger zu erkennen ist. Natürlich könnte man jetzt sagen, dass ein solches Gespräch auch im Internet stattfinden kann. Aber im Internet können auch Mobbing und Diskriminierung stattfinden – und das gibt es in dieser Sendung nicht. Wer sich nicht benimmt, fliegt raus.
„Kommunikation war noch nie so einfach und so günstig wie heute. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir noch nie so wenig miteinander gesprochen haben wie heute“
RADIOSZENE: Gibt es Gespräche, die Ihnen ganz besonders in Erinnerung geblieben sind? Wo wurden Sie emotional besonders angefasst?
Daniel Kaiser: Es gibt so viele Gespräche, die mir in Erinnerung geblieben sind. Ein Beispiel ist das Thema „Ein Satz, den ich nie vergessen werde“. Eine ältere Dame erzählte mir damals, dass ihre Mutter an einem Tag im Jahr 1945 auf sie zugerannt kam. Sie war damals fünf Jahre alt, und ihre Mutter sagte unter Tränen: „Papa kommt nach Hause, der Krieg ist vorbei.“ Dieser Moment hat sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt. Eine andere Frau erzählte mir, dass sie in den Achtzigern mehrfach versucht hatte, mit ihrer Familie aus der DDR auszureisen. Eines Abends – es war Heiligabend – klingelte es plötzlich an der Tür. Vor ihr standen eine Frau und zwei Polizisten, die ihr mitteilten: „Ihre Ausreise wurde genehmigt. Sie haben zwei Stunden Zeit, das Land zu verlassen.“ Die Koffer waren schon seit Monaten gepackt, also nahmen sie diese und verließen sofort ihre Wohnung. Die Möbel, der Trabi und alles, was nicht in die Koffer passte, durften die Nachbarn behalten. Heute kaum vorstellbar, oder?
Dann gibt es diese Geschichte von einer jungen Mutter Mitte 30. Sie erzählte mir, dass sie schwer krank ist und die Ärzte ihr nur noch wenige Monate zu leben geben. Ihre Tochter war noch klein – vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Jeden Tag versucht sie, so viel Zeit wie möglich mit ihr zu verbringen. Wenn es ihr die Krankheit erlaubt und sie sich nicht zu schwach fühlt, nimmt sie ihre Tochter auf den Schoß und schnappt sich die Kamera. Sie erzählt ihr von ihrem Leben, ihren Hobbys und Interessen und davon, wie sehr sie sie liebt. Sie macht das alles, weil ihre Tochter noch zu jung ist, um sich später an alles erinnern zu können. Sie möchte, dass ihre Tochter eines Tages weiß, wer ihre Mutter war – wie sie geredet hat, wie sie gelacht hat und wie sie gedacht hat. Ich habe heute noch einen Kloß im Hals, wenn ich an dieses Gespräch denke. Auf so etwas kann dich niemand vorbereiten. Welche Fragen stellst du einer Frau – einer Mutter -, die bald nicht mehr da sein wird? Hast du die richtigen Worte gefunden? Kannst du überhaupt irgendwie helfen? Es geht einem so vieles durch den Kopf. Und irgendwann ist das Gespräch vorbei, und du fragst dich: Werde ich jemals wieder mit ihr sprechen können?
An einem anderen Abend rief mich ein junger Mann an. Er erzählte mir, dass sein Vater jeden Abend meine Sendung gehört hat und ihm oft davon berichtete. Sein Vater hatte ihm immer wieder gesagt: „Du solltest auch mal reinhören.“ Doch dann erzählte er mir, dass sein Vater vor wenigen Tagen von einem Bus erfasst wurde und gestorben ist. Er bedankte sich bei mir dafür, dass ich seinem Vater so viel Freude bereitet habe – er habe gemerkt, wie gut ihm die Sendung tat. Während des Gesprächs stellte sich heraus, dass sein Vater einige Monate zuvor bei mir angerufen hatte. Damals erzählte er mir davon, wie er die Liebe seines Lebens kennengelernt und geheiratet hat. Ich fragte den Sohn daraufhin: „Kennst du diese Geschichte von deinen Eltern?“ Er verneinte. Also bot ich ihm an, diese Sendung nach der Live-Ausstrahlung als Wiederholung zu senden. Er war unglaublich dankbar dafür. Auf dem Nachhauseweg blieb ich im Auto sitzen und hörte die Sendung selbst noch einmal an. Ich bekam Gänsehaut während des Gesprächs – und am Ende brach ich in Tränen aus. Wie sehr habe ich mich geärgert! Geärgert darüber, ihm damals nicht mehr Fragen gestellt zu haben. Geärgert darüber, wie kurz unser Gespräch war. Geärgert darüber, nicht noch herzlicher gewesen zu sein. Ich kann das nicht mehr ändern – aber seitdem führe ich meine Gespräche viel bewusster.
„Welche Fragen stellst du einer Frau – einer Mutter -, die bald nicht mehr da sein wird?“
RADIOSZENE: Die Rolle des Moderators ist bei diesem Konzept ja von entscheidender Bedeutung. Eine Art Vertrauensverhältnis zwischen dem Menschen am Mikrofon und dem Anrufer scheint unabdingbar. In welcher Rolle sehen Sie sich: Kumpel? Beichtvater? Berater? Psychologe?
Daniel Kaiser: Ich betone oft, dass ich weder Berater noch Psychologe bin. Ich bin einfach der Moderator einer Unterhaltungssendung. Es freut mich, wenn meine Hörer das Gefühl haben, dass wir uns nah sind. Genau deshalb höre ich nicht nur ihre Geschichten, sondern teile auch meine eigenen mit ihnen. Denn ich finde: Wer etwas nimmt, sollte auch etwas geben. Im Dezember letzten Jahres hat mir eine Anruferin erzählt, dass sie Radio über ihren Fernseher hört. Das Problem war, dass die Bildröhre kaputt war und sie sich blind durch das Menü navigieren musste. Nach dem Gespräch habe ich in die Runde gefragt, ob vielleicht jemand einen Fernseher übrig hat. Tatsächlich hat sich jemand gemeldet, und ich habe das Gerät persönlich abgeholt und der Hörerin gegeben. Die „Nightlounge“- Community ist einfach klasse!
Trotzdem achte ich darauf, meine Privatsphäre zu schützen. Ich rede über vieles, aber nicht über alles. Ich gebe keine direkten Ratschläge, sondern versuche, durch gezielte Fragen neue Perspektiven aufzuzeigen und herauszufinden, in welche Richtung jemand denkt. Rollenspiele sind hierbei auch sehr nützlich. Oft hilft das dabei, ein Problem besser zu verstehen und eine Lösung zu finden. Ich glaube fest daran, dass wir die Antwort auf unsere Probleme meistens schon kennen – auch wenn wir uns manchmal wünschen, dass uns jemand eine bequemere Alternative anbietet.
RADIOSZENE: Sie sind seit vielen Jahren fünf Tage pro Woche im Einsatz. Eine „normale“ Livesendung im Radio bietet mit Musikinseln die Möglichkeit zum Durchatmen. Sie haben zwei Stunden dauerhaften Hörerkontakt. Einmal abgesehen von der späten Stunde, wie stressig ist für Sie die Gestaltung einer Talkshow?
Daniel Kaiser: Um eine Talksendung gut führen zu können, muss man vor allem nüchtern und ausgeschlafen sein. Ich trinke keinen Alkohol, aber Schlaf ist für mich heilig. Mein Tagesrhythmus ist dadurch etwa um fünf Stunden nach hinten verschoben, verglichen mit einem normalen Alltag. Mein Tag beginnt meistens gegen 12:00 Uhr mittags und endet um 5:00 Uhr morgens.
Für die Vorbereitung eines Themas nehme ich mir etwa eine Stunde Zeit. Dabei schaue ich, ob es etwas Aktuelles gibt oder ob sich ein zeitloses Thema anbietet. Nach der Sendung schreibe ich ein Protokoll für die Redaktion, schneide einen BAX, damit die Show am nächsten Tag wiederholt werden kann, und lade sie anschließend auf meinen Podcast-Kanal hoch. Im Durchschnitt erreiche ich damit eine Million Podcast-Streams pro Jahr – und ich freue mich riesig darüber, dass die Sendung so gut bei den Hörern ankommt.
Nach der Arbeit gehe ich für ungefähr eine Stunde ins Fitnessstudio, wo ich entweder Cardio mache oder Krafttraining. Danach fahre ich nach Hause, bereite mir mein Abendessen zu, schaue noch eine Dokumentation oder Talksendung auf YouTube und gehe dann schlafen.
„Ich gebe keine direkten Ratschläge, sondern versuche, durch gezielte Fragen neue Perspektiven aufzuzeigen und herauszufinden, in welche Richtung jemand denkt“
RADIOSZENE: Die „Nightlounge“ wird zu nachtschlafender Zeit ausgestrahlt, ist also nicht von der ma erfasst. Gibt es Auswertungen über die Zahl der Hörerinnen und Hörer? Wie hoch schätzen Sie den Anteil der Stammgäste und Daueranrufer?
Daniel Kaiser: Da wir in über sechs Bundesländern und auf vier Radiostationen senden, schätze ich, dass wir gemeinsam eine sechsstellige Reichweite haben. Meine Stammgäste wechseln oft. Seit der ersten Stunde sind aktuell zwei Leute dabei, der Rest ist im Laufe der Jahre gekommen und gegangen. Es überrascht mich manchmal, wenn mir jemand schreibt, dass er meine Sendung schon als Jugendlicher gehört hat – damals gerade mal 15 Jahre alt, also eigentlich noch viel zu jung, um anzurufen. Und heute sind diese Hörer einfach 29 – das ist echt unglaublich. Ebenso beeindruckt es mich, wenn mir jemand erzählt, dass er mich seit acht Jahren jede Nacht hört, zum Beispiel während der Autofahrt, aber noch nie angerufen hat. Ich glaube, wir machen uns oft gar nicht bewusst, wie viele Menschen uns einfach nur zuhören möchten, ohne sich aktiv zu beteiligen. Und das ist absolut in Ordnung.
Was ich auch besonders schön finde: Es gibt Stammhörer, die zwar nie anrufen, sich aber trotzdem aktiv an der Sendung beteiligen – sei es über Instagram oder per E-Mail. Und dann gibt es da noch die treuen Hörer aus aller Welt, vor allem Auswanderer aus China, Australien und den USA.
RADIOSZENE: Das Format der Sendung besteht nun seit fast 20 Jahren. Haben Sie keine Angst, dass Ihnen irgendwann die Themen ausgehen?
Daniel Kaiser: Ich mache das jetzt seit 14 Jahren, und selbst für mich ist es erstaunlich, dass mir nach so langer Zeit immer wieder neue Themen einfallen. Aber es funktioniert. Zum Glück habe ich direkt nach meiner ersten Sendung angefangen, eine Excel-Tabelle mit allen bisherigen Themen zu führen. So kann ich vermeiden, dass sich Themen zu oft wiederholen. Es gibt aber auch Themen, die man einfach nicht nur einmal besprechen kann – wie zum Beispiel Liebe oder Süchte. Ich glaube, die größere Herausforderung nach so vielen Jahren ist es, nicht in die Haltung zu verfallen: „Das habe ich doch alles schon mal gesagt oder gehört.“ Stattdessen versuche ich, neugierig zu bleiben und zuzuhören.
RADIOSZENE: Welche Zwischenbilanz ziehen Sie persönlich nach 14 Jahren Radiotalk?
Daniel Kaiser: Wir dürfen niemals aufhören, miteinander zu reden – auch dann nicht, wenn es um unangenehme Themen geht. Es ist okay, nicht immer einer Meinung zu sein. Ich wünschte, wir könnten uns öfters darauf einigen, dass wir uns nicht einig sind, anstatt uns gegenseitig zu streiten, zu beleidigen oder zu verletzen. In Deutschland leben fast 84 Millionen Menschen, und nur ein kleiner Teil davon hört diese Sendung oder nimmt aktiv daran teil. Jede einzelne Stimme ist wichtig, aber sie steht nicht für das ganze Land.
Als ich 16 Jahre alt war, sagte man mir, dass ich niemals Moderator werde. Heute bin ich unglaublich dankbar und glücklich, dass ich diesen Traum trotzdem verwirklichen konnte und nun seit 14 Jahren Radio mache. Ich habe das Privileg, eine Sendung zu moderieren, die im deutschen Privatradio einzigartig ist. Das Vertrauen und die Anerkennung meiner Programmchefs – Andreas Holz (RPR1.), Mike Doetzkies (RockFM), Daniel Stupp (Radio Regenbogen) und Till Simoleit (bigFM) – bedeuten mir sehr viel. Und auch wenn ich mich jedes Jahr erneut frage, wie lange ich diese Sendung noch moderieren darf, bin ich einfach nur dankbar und froh, dass man mich weiterhin gerne hören möchte.
„Ich glaube, dass sich viele Menschen durch die zunehmende Präsenz von KI wieder mehr nach echtem menschlichem Austausch sehnen werden“
RADIOSZENE: Sind Talksendungen wie die „Nightlounge“ nicht ideale Programmangebote, mit denen sich das Radio auf lange Strecke gegenüber der wachsenden medialen Konkurrenz positionieren kann – namentlich vor dem Hintergrund von KI?
Daniel Kaiser: Ich bin total begeistert von Technik und feiere jeden Fortschritt. Wir sollten keine Angst vor KI haben, sondern sie als Inspiration und Werkzeug sehen, um damit noch bessere Inhalte zu schaffen. Ich nutze KI zum Beispiel, um Instagram-Posts zu erstellen – sei es das Foto für den Feed oder den Infotext zum Thema.
Letztes Jahr habe ich meine Stimme geklont und die Sendung von dieser KI-Stimme anmoderieren lassen. Was mich dabei besonders überrascht hat, ist, dass einige Stammhörer den Unterschied nicht bemerkt haben.
KI ist ein mächtiges Werkzeug, das jedoch nicht selbstständig arbeitet. Es wird von mir gezielt eingesetzt und überprüft, um die Qualität meiner Show zu verbessern. Vielleicht gibt es schon bald einen KI-Talkmaster, der sicher auch großartige Fragen und Antworten liefern kann. Aber so gut er auch sein mag – er wird nie aus eigener Erfahrung sprechen können. Er weiß nicht, wie sich Liebeskummer anfühlt, wie Schmetterlinge im Bauch sind oder wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren. Für manche mag die Simulation und Illusion eines emphatischen Gesprächspartners ausreichen. Aber ich glaube, dass sich viele Menschen durch die zunehmende Präsenz von KI wieder mehr nach echtem menschlichem Austausch sehnen werden. Und falls nicht – möge uns Gott beistehen.