NRW: Lokalfunk auf dem Weg zum Regionalradio

NRW: Lokalfunk auf dem Weg zum Regionalradio (Bild: © Eone Venter / unsplash)

Vor einem Jahr berichtete RADIOSZENE über den Neuzuschnitt der Verbreitungsgebiete des NRW-Lokalfunks. Die Landesanstalt für Medien NRW hatte dazu bei der Beratungsfirma Goldmedia GmbH Strategy Consulting ein medienökonomisches Gutachten in Auftrag gegeben. Dieses wurde in den Fachausschüssen und zuletzt in der öffentlichen Sitzung der Medienkommission am 13. Dezember 2024 diskutiert. Die Sitzung war öffentlich, das Gutachten ist weiterhin geheim. Die Auswirkungen auf den Lokalfunk könnten langfristig erheblich sein.

Neuzulassungen stehen an

Timo Naumann (Bild: VLR NRW)
Timo Naumann (Bild: VLR NRW)

In den kommenden drei Jahren laufen die Zulassungen von 40 NRW-Lokalradios aus. Anstatt die Genehmigungen wie gewohnt um zehn Jahre zu verlängern, sollen diese nur um zwei bis drei Jahre bis zu einem gemeinsamen Stichtag gewährt werden. Die Medienanstalt wird im Jahr 2027 ein neues Zulassungsverfahren durchführen, inklusive einer wirtschaftlichen Prüfung durch einen externen Dienstleister. Diese kurze Laufzeit sorgt für Unsicherheit: „Das erschwert die Planbarkeit und macht die Branche unattraktiv für Personal“, kritisiert Timo Naumann, Geschäftsführer des Verbands Lokaler Rundfunk NRW (VLR NRW).

Solidarität gefordert

Zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Lokalradios wurden zwei Maßnahmen beschlossen: ein System- und ein Überlagerungsvertrag. Allerdings haben sieben Veranstaltergemeinschaften den Überlagerungsvertrag noch nicht unterzeichnet. Dabei geht es um Einsparungen von Ressourcen wie Sendestunden, Planstellen und Mitarbeitern, die für ein erfolgreiches Programm entscheidend sind. Sie sollen helfen, andere Lokalradios im gleichen Cluster zu erhalten.

Die Kritiker argumentieren, dass das Landesmediengesetz keine Querfinanzierung anderer Lokalradios vorsieht. Die Unterzeichnung des Vertrags muss bis zum 31. Januar 2025 erfolgen. Mögliche Konsequenzen: keine Förderung der DAB+ Ausstrahlung, denn auch die Plattformbetreiber, die sich auf landesweite regionalisierte Übertragungskapazitäten beworben haben, sollen sich im Januar einigen. Ohne Einigung entscheidet die Medienkommission über die Vergabe der Übertragungskapazitäten und eine mögliche Förderung der Ausstrahlung.

Medienökonomisches Gutachten und Zukunftsszenarien

Sollten die aktuellen Bemühungen zur Stabilisierung des Lokalfunks scheitern, werden weitere Maßnahmen ergriffen. Das Gutachten skizziert Szenarien für die Zukunft des Lokalfunks. „Wir bereiten uns auf einen Notfall vor“, sagt Prof. Dr. Werner Schwaderlapp, Vorsitzender der Medienkommission.

„Das System wird kollabieren.“
Dr. Tobias Schmid

Dr. Tobias Schmid (Pressefoto)Dr. Tobias Schmid, Direktor der Medienanstalt NRW, warnt: „Das System wird kollabieren.“ Volker König, Vorsitzender des Ausschusses für Medienvielfalt und Medienzugang, betont, dass die Lokalsender möglichst aus eigener Kraft erhalten bleiben sollten. Doch Zweifel an der wirtschaftlichen Tragfähigkeit bleiben bestehen. „Ohne Wirtschaftlichkeit gibt es keine publizistische Dimension“, sagt Schwaderlapp.

Reformen sofort möglich

Die Antworten auf einige Probleme des Lokalfunks gibt es im System: Aus Antenne Ruhr wurde am 6. August 2007 Radio Oberhausen und Radio Mülheim – eine Zulassung, eine Veranstaltergemeinschaft, eine Betriebsgesellschaft, eine Redaktion, zwei Sendernamen. Was mit zwei Sendernamen geht, geht auch mit mehr. Ein Indiz dafür ist die Errichtung von Funkhäusern mit vier und mehr Lokalradios in einem Gebäude (RADIOSZENE berichtete). Ein Schelm, der bei der Anzahl der neu eingerichteten Studios an die zukünftige Anzahl der Lokalradios dieser Servicegesellschaft denkt. Funkhäuser gibt es im NRW-Lokalfunk seit 21 Jahren, damals zog Radio EN in die „Wohngemeinschaft“ von Radio Hagen ein.

Wirtschaftliche Lage bleibt angespannt

Dennoch bleiben Zweifel am Erfolg der bisherigen Maßnahmen. „Langfristig müssen wir über andere Fördermodelle sprechen“, vermutet Prof. Herbert Schwering, Vertreter der Filmwirtschaft in der Medienkommission. Das Gutachten prognostiziert die wirtschaftliche Entwicklung nur für die nächsten drei Jahre. „Ein längerer Zeitraum ist nicht absehbar“, erklärt Prof. Dr. Klaus Goldhammer, Geschäftsführer von Goldmedia.

Herausforderungen durch neue Hörgewohnheiten

Ulrike Kaiser (Bild: Anja Cord/DJV-NRW)
Ulrike Kaiser (Bild: Anja Cord/DJV-NRW)

Neue Mediennutzungsgewohnheiten, wirtschaftliche Flauten und die Auswirkungen der Corona-Pandemie belasten den Lokalfunk zusätzlich, führt Ulrike Kaiser, Vertreterin des Deutschen Journalisten-Verbands in der Kommission, aus. Die Vorsitzende des Ausschusses für Programmaufsicht und Programmqualität verweist auf den laufenden Strukturprozess mit zahlreichen Maßnahmen.

Die vielen Maßnahmen waren den Mitgliedern der Medienkommission gar nicht bekannt, erfuhr Timo Naumann während einer Anhörung im Ausschuss für Programmaufsicht und Programmqualität am 25. November 2024. Die systembeteiligten Verbände der Veranstaltergemeinschaften und Betriebsgesellschaften sowie der Verein der Chefredakteure (VdC) erhielten das Gutachten vorab und durften im Ausschuss ihre Stellungnahmen abgeben.

Dem VLR NRW wurde vorgehalten: „Der Lokalfunk unternehme zu wenig gegen seine wirtschaftliche Schieflage.“ Naumann sammelte zahlreiche Beispiele über Kooperationen, Funkhausmodelle, Sparmaßnahmen, Personalabbau und Vermarktungsinitiativen bei den Veranstaltergemeinschaften ein und legte diese in einer Stellungnahme der Medienkommission vor.

Bereits bestehende Kooperationsmodelle, wie das gemeinsame Funkhaus in Essen, werden im Gutachten weitgehend ignoriert, bemängelt Thorsten Kabitz, Vorstand des Vereins der Chefredakteur*innen im NRW-Lokalfunk (VdC). Der Radio RSG-Chefredakteur führt gegenüber RADIOSZENE viele angestoßene Projekte auf, die erst ihre Wirkung entfalten werden, und neue, die längere Vorlaufzeit benötigen, wie das neue „Smart Radio“.

Thorsten Kabitz im Studio (Bild: privat)
Thorsten Kabitz im Studio (Bild: privat)

Alle Lokalradios werden im kommenden Jahr durch den Einsatz einer Cloud-Lösung noch lokaler. Kabitz spricht von der größten technologischen Innovation der vergangenen 30 Jahre. Die Arbeitsabläufe ändern sich, die Sendestunden können flexibler und lokaler gestaltet werden. Mit der Kritik konfrontiert, beteuert Prof. Dr. Klaus Goldhammer jedoch, dass die gemeinsamen Funkhäuser im Gutachten bereits berücksichtigt wurden. Ihre Hebelwirkung ist zu gering, um bei der wirtschaftlichen Lage die Stabilität des Systems dauerhaft zu sichern.

Hoffnung auf Selbstheilungskräfte

Die VdC-Mitglieder warteten gespannt auf das Gutachten, wurden jedoch von der Herangehensweise und den Ergebnissen in Teilen enttäuscht. Die Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Verbreitungsgebiete (Struktur, Kaufkraft etc.) wurden überhaupt nicht untersucht, kritisiert Kabitz. Einsparpotenziale wurden in den Redaktionen ermittelt. Wie die Erlöse auf Vertriebsseite gesteigert werden können, wurde nicht beleuchtet. Gleiche Kritik hören wir von Timo Naumann: Dabei wird übersehen, dass sich Lokalfunk nicht nur über den §54 des Landesmediengesetzes definiert, sondern seine Daseinsberechtigung weit darüber hinausgeht. Auch die geänderten Arbeitsweisen in den Redaktionen werden nicht berücksichtigt, kritisiert er.

„Ohne Wirtschaftlichkeit gibt es keine publizistische Dimension“
Prof. Dr. Werner Schwaderlapp

Für die Zukunft des Lokalfunks braucht es keine Brechstange, sondern lokal/regional passende Lösungen, ist Kabitz überzeugt. „Wir haben gegenüber der LfM und Medienkommission daher um Vertrauen geworben und begrüßen es, dass die Kommission die Bedeutung des Lokalfunks für den Medienstandort NRW nicht nur anerkennt und unterstreicht, sondern „das System“ auf dem Weg in die Zukunft begleiten will.“

Cluster und Zukunftsszenarien

Das Gutachten teilt NRW in neun Cluster auf, sieben orientieren sich an den Grenzen der Vermarktungsgesellschaften, zwei an den Verbreitungsgebieten von zwei Lokalradios. Von den neun Clustern sind fünf defizitär und nur ein Cluster stabil. Festgelegt wurde, dass die EBIT-Quote – der Gewinn vor Zinsen und Steuern – 10 Prozent betragen muss, unter fünf Prozent sind Investitionen nicht möglich, führt Schmid aus. Bei null Prozent gibt es keinen Spielraum. Schmid appelliert an die unternehmerische Verantwortung der Lokalfunk-Beteiligten. Sie müssen die Finanzen der 45 Lokalradios stabil bekommen, sonst übernimmt die Medienanstalt NRW das Handeln und schneidet die Verbreitungsgebiete neu zu.

Lokalfunk oder Regionalradio? – Vier Szenarien

Das Gutachten enthält vier Szenarien für die Zukunft des Lokalfunks, die jedoch noch nicht öffentlich gemacht werden. Ein milderes Szenario kann die Medienanstalt erzwingen. Ziel ist es jedoch, das Szenario zu erreichen, bei dem der Lokalfunk am stärksten stabilisiert wird und eigene Mittel zum Investieren hat. Doch wird es noch ein Lokalradio sein, wenn mehr als drei Gebietskörperschaften zu einem Lokalradio zusammengefasst werden? Schon heute sendet Radio Emscher Lippe für die drei Ruhrgebietsstädte Gelsenkirchen, Gladbeck und Bottrop. Mangelnde Transparenz eröffnet Raum für Spekulationen, wie viele es in Zukunft sein werden.

Ein System in der Krise

Das Zwei-Säulen-Modell aus Veranstaltergemeinschaften und Betriebsgesellschaften bleibt in NRW unangetastet – zumindest wird damit weiter geplant. Bereits vor zehn Jahren hat der Gesetzgeber ein Ende dieses Modells ins Gesetz geschrieben. Spätestens mit der kompletten Digitalisierung des Lokalfunks entfällt die Grundlage für die komplizierteste Hörfunklandschaft der Welt. In anderen Bundesländern schließen Lokalradios, NRW hat sich auf den Weg gemacht seine Hörfunklandschaft zu retten. Doch der Weg erweist sich als holprig. Die Medienanstalt NRW bereitet sich jedenfalls auf einen möglichen „Kollaps des Lokalfunks“ vor.

Weiterführende Informationen