Music made in Germany entwickelt sich weiter ambivalent. Während die Perspektiven bestimmter Genres (wie HipHop/Rap, Dance-Pop, elektronische Musik) als überaus erfolgreich eingestuft werden, verharren andere eher im Tal der Tränen. Auch im Radio. Ein Blick auf die von MusicTrace ermittelten “Offiziellen Deutschen Airplay-Jahrescharts“ (1. bis 33. Woche 2024) zeigt, dass sich unter den derzeitigen Top 100 – mit den Titeln Ayliva x Apache 207 „Wunder“, den Dauerläufern Udo Lindenberg x Apache 207 „Komet“ sowie „Zeit, dass sich was dreht“ von $oho Bani x Herbert Grönemeyer x Ericson – nur drei Hits in deutscher Sprache befinden. Allerdings, – und auch das gehört zur Wahrheit – sind in den Top 100 immerhin 32 Stücke mit nationalem Copyright in englischer Sprache platziert. Ein Trend, der sich seit einigen Jahren verfestigt hat.
Weiterhin schwer tut sich im Hörfunk derzeit das klassische „Deutschpop-Segment“. Also aktuelle Musik deutschsprachiger Singer-Songwriter, die (zumindest bei den AC-Wellen) laut eigener Musikforschung der Sender heute nicht mehr so breitenwirksam den Nerv der Radiohörer treffen soll. Während diese Musikrichtung in den 2010er-Jahren noch ein Fixpunkt der Musikplanung war, hat sich dieser Anteil bei zahlreichen privaten AC-/HOT AC-Wellen auf NULL gedreht!
In dieser Situation sind neue Ideen gefragt, um verlorene (Sende-)Anteile wieder nach vorne zu bringen. Namentlich auch für die alternative Musikszene in Deutschland, die in der Vergangenheit von vielen Medien eher stiefmütterlich beachtet wurde.
Vor rund vier Monaten startete mit “Ein Song reicht“ ein Empfehlungs-Tool, das einen mittlerweile über 10.000 Nutzer*innen umfassenden Kreis täglich mit einer interessanten Musikveröffentlichung aus heimischer Produktion bedient. Begleitend – und dies ist reizvoll – vorgestellt durch explizite Empfehlungen von Musiker*innen oder Persönlichkeiten aus der Gesellschaft. Ein Ansatz, der Musikfans, Medien und Insider kompetent über (vielleicht noch unbekannte) hörenswerte Musik informiert.
Im Interview sprach RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich mit “Ein Song reicht“-Projektleiter Martin Hommel über Hintergründe und Ziele der neuen Initiative.
„Es gibt hier so viel gute Musik aller Genres, die unter dem Radar fliegt und die ein viel größeres Publikum verdient hat“
RADIOSZENE: Welche Intentionen stecken hinter Ihrem Projekt?
Martin Hommel: Wir haben schon lange das Gefühl, dass die Musikpresse-Landschaft im deutschsprachigen Raum mehr und mehr an Einfluss verliert. Viele Magazine stellen den Dienst ein oder kämpfen mit geringen Auflagen. Gleichzeitig werden private wie öffentlich-rechtliche Radioprogramme auf Mainstream-Sound getrimmt. Demgegenüber steht dann noch das große Problem der Streamingdienste – ein Überangebot an Musik (die berüchtigten 100.000 neuen Songs pro Tag) bei gleichzeitig nicht funktionierender Monetarisierung für die Artists. Es fehlen einfach reichweitenstarke Plattformen für neue, unbekannte, spannende und vor allem nicht dem Mainstreamsound entsprechende Künstler*innen. Das ist ein riesiges Dilemma, sowohl für Hörer*innen als auch für Musiker*innen.
Damit die alternative Szene in Deutschland weiterhin beziehungsweise überhaupt lukrativ arbeiten kann, braucht es neue Plattformen und Strategien. Hier setzen wir mit “Ein Song reicht“ an. Wir möchten durch die Fokussierung auf nur einen Song pro Tag und die Wahl des Kanals – der Maileingang als deutlich ruhigeres und wertigeres Umfeld – eines erreichen: Tolle Musik mit einem interessierten Publikum zusammenbringen und dem einen vorgestellten Song echte und relevante Aufmerksamkeit und Reichweite bringen. Wir wollen hochwertige Musik aus Deutschland ins Scheinwerferlicht stellen und ein Schaufenster bieten – ein großes Schaufenster.
RADIOSZENE: Empfehlungen für Musik gibt es zahlreiche. Wo unterscheidet sich “Ein Song reicht“ von anderen einschlägigen Portalen, Promotion-Tools oder Streaming-Diensten?
Martin Hommel: Wir sehen “Ein Song reicht“ nicht als Promotion-Tool – unsere Idee geht eher in Richtung Plattenladen des Vertrauens – da, wo man früher hingegangen ist und die Person an der Theke wusste, was einem gefallen wird.
Die Besonderheit bei “Ein Song reicht“ ist, dass kein Gatekeeper oder Algorithmus versucht, den eigenen Musikgeschmack zu bedienen. Die vorgestellten Songs kommen von echten Menschen. Diese stellen uns ihren Lieblingssong vor – mit einer kurzen Begründung, warum es gerade dieser ist. Musikempfehlung von Mensch zu Mensch.
Den Kreis der Empfehler*innen versuchen wir so breit und divers zu gestalten wie möglich – was Profession aber auch (kulturellen) Background angeht. Das wiederum hat den tollen Effekt, dass man auch mal mit Musik konfrontiert wird, von der man gar nicht wusste, dass es sie gibt oder dass sie einem gefallen könnte.
RADIOSZENE: Welche Art von Musik und Szenen werden über Ihr Musikmedium vorgestellt? Welche nicht?
Martin Hommel: Alle Genres und Szenen (natürlich abgesehen von diskriminierenden, rassistischen oder menschenfeindlichen Inhalten) dürfen und sollen im “Ein Song reicht“ Newsletter stattfinden. Auch hier setzen wir auf größtmögliche Diversität.
Es gibt im Grunde nur zwei Bedingungen, die wir unseren Empfehler*innen stellen: niemand darf einen Song von sich selbst empfehlen und die empfohlenen Künstler*innen müssen in Deutschland leben – unabhängig von Herkunft, Nationalität, Sprache in der gesungen wird und so weiter. Der Grund dafür ist, dass wir mit dem Format vor allem erstmal die heimische Szene supporten wollen. Es gibt hier so viel gute Musik aller Genres, die unter dem Radar fliegt und die ein viel größeres Publikum verdient hat. Eine Öffnung für den gesamten DACH Raum ist denkbar, für so eine Entscheidung wollen wir uns aber noch etwas Zeit geben.
Am schönsten ist es natürlich, wenn Musiker*innen empfohlen werden, die noch ganz am Anfang stehen und nur eine Handvoll Hörer*innen auf Spotify und Co. haben. Wenn dann ein Song von ihnen in den Postfächern unserer knapp 10.000 Abonnent*innen landet, macht das schon einen merkbaren Unterschied – mal abgesehen von der Freude, dass eine prominente Person ihre Musik empfiehlt.
„Wir sehen ‘Ein Song reicht‘ nicht als Promotion-Tool – unsere Idee geht eher in Richtung Plattenladen des Vertrauens – da, wo man früher hingegangen ist und die Person an der Theke wusste, was einem gefallen wird“
RADIOSZENE: Wie darf man sich in der Praxis die Ausspielung der Musik vorstellen?
Martin Hommel: Der Newsletter erscheint jeden Morgen – 7 Tage die Woche! – um 8.55 Uhr und wird klassisch als E-Mail ausgespielt. Die einzelnen Ausgaben sind immer kurz und knackig – der Fokus liegt klar auf dem empfohlenen Song. Es gibt ein kurzes Intro, in dem die oder der Empfehler*in vorgestellt wird und einen Textblock, in dem die oder der Empfehler*in ihre Song-Empfehlung begründet. Der Song selbst ist als YouTube-Video eingebettet. Wir verlinken außerdem zu Spotify, Apple Music und Tidal.
RADIOSZENE: Ist die Initiative an bestimmte Labels gekoppelt? Über welche Kanäle erhalten Sie Ihre Neuvorstellungen?
Martin Hommel: “Ein Song reicht“ ist ein unabhängiges Format – wir sind an kein Label gebunden. Es darf sich außerdem niemand in das Format einkaufen. Die vorgestellten beziehungsweise empfohlenen Songs kommen immer von unseren prominenten Empfehler*innen. Die entscheiden, welcher Song vorgestellt wird. Auch wir selbst halten uns aus der Musikauswahl zu 100% raus und stellen nur die oben genannten Bedingungen. Für die Abonnent*innen ist der Newsletter kostenlos. Abonnieren geht ganz einfach auf einsongreicht.de.
RADIOSZENE: Wer steht hinter Ihrem Projekt?
Martin Hommel: “Ein Song reicht“ ist ein Projekt von “Golden Ticket”. Fabian Schuetzes Leipziger Boutique-Agentur betreut renommierte Acts im Booking und Management (unter anderem Martin Kohlstedt, CATT, SALOMEA, Black Sea Dahu), sowie weitere Agentur-eigene Projekte und Plattformen wie Low Budget High Spirit – der Musikbusiness-Newsletter und das dazugehörige Magazin gehören zu den meistgelesenen Musikbusiness-Medien im deutschsprachigen Teil der Branche.
Die Projektleitung von „Ein Song reicht“ hat Martin Hommel. Der Musikjournalist hostet die eigene Radiosendung “Miserable Monday” und arbeitete unter anderem für BBC und Musikexpress. Zusammen mit Melanie Gollin entwickelte er 2023 mit „Wo ist hier der Krach?“ eine Kampagne, die sich für mehr Diversität und Airplay für Independent Acts in öffentlich-rechtlichen Radios einsetzt.
RADIOSZENE: Die Tipps werden von prominenten Empfehler*innen unterstützt. Welche Prominente haben bislang Musikstücke vorgestellt?
Martin Hommel: Es ist tatsächlich so, dass alle Empfehlungen von den “Promis” kommen. Wir fragen diese gezielt an – immer in Hinblick auf Diversität was ihre Profession, ihren Background und ihren potentiellen Musikgeschmack angeht. Wir hatten am Anfang natürlich sehr viele Musiker*innen dabei, weil unser Netzwerk zu einem großen Teil aus Menschen aus dem Musikbusiness besteht – Marcus Wiebusch von Kettcar beispielsweise oder die Newcomerin Uche Yara. Mittlerweile sind wir ziemlich breit aufgestellt. Schauspieler*innen wie Friederike Kempter oder Friedrich Mücke haben teilgenommen, Autor*innen wie Kathrin Weßling, Mareice Kaiser und Nilz Bokelberg, Podcasterin Giulia Becker, die DFB Profi-Fußballerin Laura Freigang, Moderator*innen Jo Schück, Arnd Zeigler und Katty Salié. Mit Jessica Rosenthal hatten wir die erste Politiker*in dabei und mit Aileen Puhlmann, Vorständin des Lemonaid & Charitea e.V., bald auch eine Person aus der Wirtschaft – im weitesten Sinne.
Uns erreicht oft die Frage, wie lang man sowas denn machen kann und ob nicht irgendwann die Empfehler*innen ausgehen werden. Mit Blick auf unsere Kontaktliste – beziehungsweise Wunschliste – sind wir aber optimistisch, dass wir das noch sehr lange umsetzen werden. Mittlerweile kommen auch aus der Community selbst immer wieder Vorschläge für Empfehler*innen, die wir natürlich sehr gern annehmen und dann auch anfragen.
„Die Besonderheit bei ‘Ein Song reicht‘ ist, dass kein Gatekeeper oder Algorithmus versucht, den eigenen Musikgeschmack zu bedienen“
RADIOSZENE: Gibt es nach rund vier Monaten bereits einen Überblick auf Nutzerzahlen?
Martin Hommel: Unser Ziel war es, in den ersten sechs Monaten 10.000 Abonnent*innen zu generieren. Dieses Ziel haben wir mittlerweile erreicht – und wir wachsen jeden Tag weiter. Wir haben über 140 Ausgaben verschickt und eben auch über 140 Songs empfohlen.
“Ein Song reicht“ wird als Musikmedium angenommen, die Abonnent*innen sind dabei, bleiben dran, kommunizieren mit uns über Mail oder auf den Social Media Plattformen, geben Hinweise, Verbesserungsvorschläge und Wünsche, fragen nach, sind interessiert, teilen mit uns, ob sie den Song gut fanden oder nicht. Das fühlt sich richtig gut an und bestätigt unser Gefühl, dass es ein neues Format gebraucht hat. Mittlerweile gibt es sogar mehrere inoffizielle Playlisten auf den Streaminganbietern, die wirklich jeden Tag den aktuellen Song aufnehmen – alles ohne unser Zutun, komplett aus der Community heraus.
RADIOSZENE: Sehen Sie auch Reaktionen seitens der Hörfunkszene?
Martin Hommel: Von Seiten der Radiobranche haben wir bisher keinerlei Reaktion wahrnehmen können.
RADIOSZENE: Sie haben zuletzt mit einem ähnlichen Ansatz die Initiative „Wo ist hier der Krach?“ betrieben (RADIOSZENE berichtete). Wie weit konnten Sie diese Kampagne in der Zwischenzeit vorantreiben?
Martin Hommel: “Wo ist hier der Krach?” liegt auf Eis. Wir haben nach Abschluss der 1. Staffel mit sehr vielen Menschen aus der Radiobranche gesprochen. Viele Mitarbeiter*innen sind mit dem Wunsch, etwas verändern zu wollen, auf uns zu gekommen – viele sogar mit vertraulichen Interna. Je mehr wir recherchiert, je mehr Gespräche meine Kollegin Melanie Gollin und ich rund um das Thema geführt haben, desto klarer wurde das Ausmaß des Problems. Die Prozesse sind festgefahren, Willen zur Veränderung ist an den entscheidenden Positionen wenig vorhanden.
Fürs erste haben wir uns deshalb entschieden, unsere Ressourcen in Projekte zu stecken, mit denen wir das Problem von fehlender musikalischer Vielfalt selbst und sehr viel schneller angehen können – wie eben zum Beispiel mit dem „Ein Song reicht“ Newsletter.