Jazzmusik hat im Radio keinen leichten Stand. Traditionell sind die öffentlich-rechtlichen Anstalten über ihren Auftrag mit dem Kulturgut eng verbunden. Trotz Sparzwängen findet sich – meist zur abendlichen Stunde – eine gute Zahl an regelmäßigen und gelegentlichen Spartensendungen auf den Programmplänen der Kulturradios des ARD-Hörfunks und von Deutschlandradio. Zudem engagieren sich die Sender in besonderer Weise bei der Übertragung, Veranstaltung, Präsentation und Begleitung zahlreicher Konzerte, Konzertreihen oder Festivals.
Darüber hinaus fristet das Genre in Deutschland ein Schattendasein. In Berlin sendet mit dem Privatsender JazzRadio ein 24-stündiges UKW-Angebot. Ansonsten sind es einige stundenweise ausgestrahlte Sendetermine bei verschiedenen Privatsendern oder Sendungen bei nicht-kommerziellen Programmen. Und natürlich diverse, sehr liebevoll gemachten Angebote im Internet.
Ganz andere Zahlen kommen aus den USA, wo landesweit fast 100 terrestrisch sendende Privatstationen rund um die Uhr (überwiegend Mainstream-)Jazzprogramme verbreiten.
Laut einer Statistik des Bundesverbandes Musikwirtschaft (BVMI) trug die Sparte im Jahr 2021 lediglich 1 Prozent zum Gesamtumsatz der Musiklabels (Tonträger + Streaming) bei. Beim Vinylabsatz waren es immerhin 5 Prozent. Wobei der Überbegriff „Jazz“ eine große Spanne vereint – und umgekehrt viele Crossover-Veröffentlichungen ausschließt, die aus statistischen Gründen eher dem Pop-Sektor zugeschlagen werden. Allerdings fehlen in den BVMI-Übersichten die Absatzzahlen von zahlreichen Kleinlabels sowie die Umsätze aus dem (bei Jazz) traditionell starken Livegeschäft.
Schon daher sind pauschale Befragungsergebnisse und Verkaufsstatistiken zum Genre kritisch zu betrachten. Auch beim Radiokonsum. Hier gibt es praktisch keine differenzierten Untersuchungen über die Präferenzen zu bestimmten Ausprägungen. Bei Abfragen nach dem Überbegriff „Jazz“ schneidet das Genre in Zusammenhang mit „Sehr gut“-Bewertungen naturgemäß meist eher mäßig ab und erreicht in dieser Kategorie nur selten mehr als 20 Prozent an Zustimmung.
Braucht Deutschland vor diesem Hintergrund also weitere Hörfunkangebote in denen „zu 90 Prozent Jazz und 10 Prozent Soul, Funk und der ein oder andere einschlägige Rocksong gespielt werden“? Offenbar JA! Nach sieben Jahren bei Frank Laufenbergs Popstop mit der wöchentlichen Zwei-Stunden Sendung „Jazz and more“ glaubte Tom Glagow mit club.radio eine passende Antwort gefunden zu haben. Sein in 2020 gestarteter Internetsender konnte rasch ein beachtliches Stammpublikum binden, das stetig wächst. In der PHONOSTAR-Rangfolge der beliebtesten Jazz-Radios belegt club.radio vom Start weg vordere Top-Positionen – rangiert sogar meist auf Platz 1 –vor den öffentlichen-rechtlichen Platzhirschen.
Im Fokus des 24-stündigen Programms stehen Jazz, Blues, Soul, Fusion, Crossover. Über weite Strecken des Tages gibt es moderierte Musikspecials mit täglich neuen, spannenden Themen. Die club.radio-Musikrotation umfasst rekordverdächtige 12.000 Titel. Im Programm finden sich keine Werbung, Nachrichten oder Wetter. Dafür aber kompetente und von echten Fachleuten vorgetragene Moderationen. Bonuspunkte, die vor allem in der anspruchsvollen Jazzgemeinde bestens ankommen.
„Den Hörern ist die Moderation sehr wichtig!“
Tom Glagow gilt in der Radio- und Musikszene als ausgewiesener Jazz-Experte. Bevor er 1992 zu Universal Music wechselte und dort für die Jazz-Abteilung verantwortlich zeichnete, arbeitete er als Moderator und Redakteur fünf Jahre beim Hamburger Stadtsender Radio 107 (aus dem später Alsterradio 106!8 hervorging).
Bei seiner Station als Geschäftsführer der Global Chrysalis Musikverlage in München arbeitete Glagow mit Künstlern wie den Crusaders, Herbie Hancock, Till Brönner, Sebastian Studnitzki, Nils Wülker oder Lee Ritenour.
2008 gründete er die C.A.R.E. Music Group. Bis heute hat das Label 40 Alben veröffentlicht – von Tower Of Power, Chuck Loeb bis zu Dave & Don Grusin.
Seit 1998 ist Tom Glagow Mitglied und stimmberechtigtes „Votingmember“ der amerikanischen Institution NARAS (National Academy of Recording Arts and Sciences), die jährlich die begehrten US-“Grammy-Awards“ vergibt. Von 2009 bis 2018 war er Jurymitglied für den “Echo Jazz“.
RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich sprach mit Tom Glagow über sein Radioprojekt und die Lage der Jazzmusik in Deutschland.
RADIOSZENE: Seit Sendestart rangiert Ihr Webradio beständig weit vorne in den Bestenlisten der meist gehörten Programme bei phonostar. Haben Sie eine Erklärung für diesen Erfolg?
Tom Glagow: Wenn ich das wüsste, könnte ich ja als Berater mein Geld verdienen. Ganz ehrlich, ich glaube einfach an die Musik. Das Feedback der Hörer und ihre Kommentare bestärken mich weiter zu machen. Es ist einfach ein großer Spaß für mich, eine Radiosendung, die ich am Abend oder am Wochenende selbst anhöre, so zu gestalten dass es mir selbst gefällt. Manchmal werde ich während der Zusammenstellung einer Sendung unsicher, ob dieser oder jener Titel nicht gerade in einer anderen Sendung von mir gespielt wurde. Dann erinnere ich mich an die Wiederholungen im öffentlich-rechtlichen oder Privatfunk und spiele diesen Titel dann trotzdem, weil ich ihn mag und er in den Flow der Sendung passt.
Die Mischung von club.radio ist für mich ein Spiegel meines Geschmacks. Ich war ja auch 17 Jahre lang DJ in der Hamburger Szene. Vom legendären After Shave bis hin zur Großen Freiheit und dem Kaiserkeller. Auch im Kaiserkeller war ich sehr Jazz und Soulig unterwegs, obwohl der Laden ein richtiger Rockschuppen war.
RADIOSZENE: Welche Hörerschichten wollen Sie mit club.radio genau ansprechen? Haben Sie Erkenntnisse, welche Menschen den Sender nutzen?
Tom Glagow: Nicht wirklich. Ich sende sozusagen ins Blaue. Aber wie erwähnt bekomme ich super Feedback. Das reicht von „ich höre jetzt auch beim Angeln über Kopfhörer, um nichts zu verpassen“ bis hin zu „wir haben am Sonntag spontan in der Küche getanzt“. Viele sagen auch einfach nur danke für die Geschichten, die ich zu den Songs oder den Künstlern erzähle. Es gibt junge wie alte Hörer. Ob mehr alte oder junge ist für mich irrelevant. Phonostar hat mir vor ein paar Monaten erklärt, dass ich im Gegensatz zu den anderen Sendern eine überdurchschnittliche Verweildauer der Hörer habe, was mich sehr freut. Es wird anscheinend nicht so schnell weggeschaltet, die Menschen hören hin.
„Es hat michgereizt, mal etwas zu machen, das eigentlich gegen alle Regeln des ‚erfolgreichen Radio Machens‘ verstößt“
RADIOSZENE: Was hat Sie getrieben ein eigenes Radio zu starten?
Tom Glagow: Die Sommerpause bei Popstop. Ich hatte fertige Sendungen mit Neuheiten, die ich dann erst im Herbst hätte platzieren können. Dann die Kommentare der Hörer meiner Sendung, die mich immer wieder fragten, warum ich nicht mehr Sendungen mit Jazz mache. Es hat mich auch plötzlich gereizt, mal etwas zu machen, das eigentlich gegen alle Regeln des „erfolgreichen Radio Machens“ verstößt. So wie früher die Piratensender. Nicht nur höchstens 1:30 lang reden. Wenn es was zu sagen gibt, es dann auch erzählen. Verbindungen zu Musik erklären. Warum passt AC/DC zu Klaus Doldingers Passport? Zu Beginn ihrer Karriere war AC/DC die Vorband von Passport bei ihrer Tour in Australien. Eberhard Weber spielte bei vielen Aufnahmen von Kate Bush! Das macht mir riesigen Spaß, diese Künstler und ihre Musik gegenüber zu stellen. Miles Davis mit Zucchero und so weiter. Das können die Privaten und Öffentlich-rechtlichen nicht tagsüber oder am Wochenende senden.
RADIOSZENE: Wie lautet Ihre Bilanz nach zwei Jahren Sendebetrieb? Wie viel Herzblut und Eigenmotivation sind nötig, um täglich ein solch ambitioniertes Programm auf die Beine zu stellen?
Tom Glagow: Die Motivation kommt immer wieder aus den positiven Rückmeldungen der Hörer und Hörerinnen, ein Geben und Nehmen, der ständige wechselseitige Kontakt hält mich am Laufen … die Sendungen machen sich ja nicht von selbst, ich brauche für eine Zwei-Stunden-Sendung inklusive Musikauswahl, Recherche, Vorbereitung, sprechen und schneiden circa 6 Stunden. Dann muss das Ganze auf den Server hochgeladen werden. Der 24-Stunden Betrieb als One-Man-Show ist oft harte Arbeit, da muss ich dann dranbleiben und mich disziplinieren. Das ist aber auch mein eigener Anspruch. Es wird glücklicherweise trotzdem bisher nicht weniger mit dem Herzblut und der Eigenmotivation, muss ich gestehen. Ich habe ja auch schon Hörer, die mit mir in Kontakt getreten sind, dazu gebracht, Zwei-Stunden-Sendungen zusammenzustellen, die ich dann moderiert oder als Megamix gesendet habe. Weiter habe ich Gastmoderatoren, die ihre Sendung auf Englisch moderieren. Der Jazzgitarrist David Becker oder der Crusaders Bassist Nicklas Sample, Sohn von Joe Sample hat seine Songs zwei Stunden vorgestellt. Da sind dann oft Musiktitel dabei, die ich gar nicht mehr oder noch nicht auf dem Zettel hatte. Das ist eine große Freude!
Apropos Freude … mein persönliches Highlight ist die im Zwei-Wochen-Rhythmus ausgestrahlte, gemeinsame Sendung mit dem Journalisten Ralf Dombrowski, die sich DIE ZWEI nennt und keine musikalischen Grenzen kennt. Da passiert, dank Ralf, noch viel mehr als in meinen Sendungen. Von Punk, Metall, Soul, Jazz und Afrikanischer Musik ist alles zumindest erlaubt. Wir spielen uns gegenseitig Songs vor, auf die der andere musikalisch antworten muss – besser gesagt, darf. Manchmal geben wir uns Themen vor, die wir nach 4 Songs schon längst wieder lachend über Bord werfen. Ein riesiger, spontaner, musikalischer Spaß, der nach 26 Sendungen auch schon eine feste Hörerschaft mit viel Feedback hat. Ralf kann man ja auch im WDR oder BR mit seinen Jazzsendungen hören. Aber bei club.radio kann er halt auch Ramones oder Gipsy Kings neben Miles Davis und Santana spielen. Wenn dann Jazzpolizisten bei Frank Zappa die Nase rümpfen, haben sie club.radio nicht verstanden. Jazz ja, natürlich! Aber eben auch Überraschungen, die sie nur hier hören. Das hält mich wach und neugierig. Neue Musik und ihre Wurzeln zu entdecken – das motiviert.
„Wenn Jazzpolizisten bei Frank Zappa die Nase rümpfen, haben sie club.radio nicht verstanden“
RADIOSZENE: Über welche Kanäle finanzieren Sie den Sendebetrieb?
Tom Glagow: Der Plan war ja, Kooperationen mit Jazzclubs einzugehen. Aber dann kam Corona und die Clubs fingen an zu streamen und so weiter. Alles war plötzlich anders als geplant, die finanzielle potentielle Grundlage war einfach weggebrochen. Zu meinem großen Glück trudelten langsam Spenden von Hörern ein. Erst über Facebook-Freunde, dann über Instagram und Freunde aus meinem privaten Umfeld. Ein Hoteldirektor hat ungefragt die ersten Monate finanziert. Der Server, die Gema und GVL finanziert sich bis heute tatsächlich aus Spenden. Manchmal weiß ich nicht, ob es für den nächsten Monat reicht, aber bisher hatte ich richtiges Glück. Es spricht sich erstaunlicher Weise tatsächlich rum! Man redet über club.radio! Ich werde von mir fremden Hörern und Hörerinnen in Clubs und Restaurants angesprochen, fast wie ein Popstar. Ich war in Berlin so verdutzt über die Danksagung nach einem Konzert, dass ich ganz vergessen habe, die Dame zu fragen, wie sie auf club.radio gestoßen ist. Hinterher fielen mir so viele Fragen ein! Ich muss nur einfach weiter machen.
RADIOSZENE: Beschreiben Sie uns Ihre Musikausrichtung ein wenig konkreter. Jazzmusik ist ja per se sehr facettenreich …
Tom Glagow: Die jungen Leute – zum Beispiel – haben es anscheinend satt, von Algorithmen und ewigen Playlisten ihre Musik vorgespielt zu bekommen. Sie wollen Neues hören und entdecken. Spotify kann doch nicht wirklich auf Stimmungen eingehen, behaupte ich mal! Natürlich geben die Algorithmen geschickt Songs vor, die dem vorher Gehörten ähnlich sind, aber was kommt nach dem gnadenlos schönen „River Man“ oder „The Peacocks“? Da habe ich auch immer Schwierigkeiten, den passenden Song zu finden und manchmal fällt mir dann nur ein musikalischer Bruch ein, der nicht musikalisch, aber textlich zu 100 Prozent passt. Es muss in sich stimmen, nicht immer einfach, aber da kommt wohl die Motivation wieder ins Spiel. Gregory Porter mit Billy Holiday, dieser Herzschmerz, die fröhliche Lässigkeit von Louis Armstrong, Lady Gaga mit Piano Solo vs. Sarah Vaughan, da hören auch Youngster anscheinend gerne hin und bedanken sich bei mir per Mail auf meiner Homepage oder Facebook. Wie sagte neulich ein Nachbar, der bei mir auf einen Kaffee war und zum ersten Mal club.radio bei mir hörte: „Wer ist das? Wolfgang Haffner? Ist das Jazz? Gefällt mir, muss ich mir besorgen. Wusste gar nicht, dass so schöne Musik bei Dir zu hören ist, ich dachte Du spielst Jazz!?“ Natürlich hätte ihn John Coltrane oder Ornette Coleman in dem Moment verschreckt oder bestätigt, aber wer mal einen „schrägen“ Song aushält, wird danach vielleicht mit einem warmen, ruhigen Sound belohnt.
RADIOSZENE: Nach welchen Kriterien treffen Sie Ihre Songauswahl?
Tom Glagow: Es muss mir gefallen… Das ist natürlich auch immer stimmungsabhängig, was wiederum Luxus ist, wenn man sich treiben lassen kann. Es ist schon Jazz, Groove, Funk, Soul oder eben auch Rock und ja, Hiphop – wenn es Sinn macht! Aber ich versuche nicht, irgendwelchen Strömungen zu folgen. Wolfgang Haffner, Till Brönner oder Nils Wülker sind zu Recht in den Popcharts vertreten und finden natürlich auch bei mir ihren verdienten Platz, aber auch ein Thomas Siffling oder Sebastian Studnitzky, alles Trompeter, haben die gleichen Chancen bei mir. Gerne auch ihre alten Aufnahmen. Für den Hörer ist es vielleicht neue Musik, die ihn plötzlich fasziniert, obwohl das Album oder der Song 1978 veröffentlicht wurde. Auch schnelle, harte Saxophon-Nummern können schön sein. Ronnie Laws mit „Always There“ ruft immer wieder Feedback der Hörer hervor!
„Die jungen Leute haben es anscheinend satt, von Algorithmen und ewigen Playlisten ihre Musik vorgespielt zu bekommen. Sie wollen Neues hören und entdecken“
RADIOSZENE: Wie viele Stunden sind moderiert? Welche redaktionellen Themen und Schwerpunkte berücksichtigen Sie?
Tom Glagow: Zwar bekommt die Rotation unter der Woche von 10:00 bis 16:00 Uhr ein gutes Feedback, aber den Hörern ist die Moderation sehr wichtig, wie ich in vielen Mails lesen kann. Bei redaktionellen Themen bin ich ein wenig Old School muss ich gestehen. Natürlich kommen bei mir auch Geburtstage und Todestage vor. Was meine Sendungen lebendig und einzigartig macht, sind – glaube ich -, die Hintergrundinformationen und erlebten Geschichten, die ich aus meiner aktiven Zeit und der Arbeit mit den Künstlern erzähle … mein ganz persönlicher Bezug. Nach so einer Vorgeschichte hört man den Song ganz anders, hat mir eine Hörerin mal geschrieben.
Schwerpunkte entstehen oft in der Club Special Sendung. Gitarre, Jazzige Versionen der Beatles, Bass, Klavier, was mir gerade so in die Finger kommt oder durch Hörer angeregt wurde! Es gibt jede Woche fünf neue Sendungen zu je zwei Stunden, die zeitversetzt gesendet werden. Es gab noch keine Beschwerden, dass ich zu viel wiederhole. Aber es kann passieren, dass man beim Abendbrot eine Sendung hört, die dann morgens um 6:00 Uhr beim Frühstück wiederholt wird.
RADIOSZENE: Über welchen Stellenwert verfügt heute die Jazzmusik Ihrer Meinung nach in Deutschland? Über viele Jahre wurde das Genre ja in einer Nische verortet, die vermeintlich nur ein intellektuelles Publikum anspricht …
Tom Glagow: Das mit dem intellektuellen Publikum kann und ist vermutlich ein wenig durch die öffentlich-rechtlichen Sender verursacht. Quoten sind halt wichtig und keiner traut sich mehr. Auch im privaten Radio Mitte/Ende der 1980er-Jahre wurden die ersten Umfragen gemacht. Nur durch Zufall habe ich erfahren, dass ich gut bis sehr gute Hörerzahlen mit meinen Sendungen damals hatte. Obwohl ich Jazz immer nur kurz vor den Nachrichten gespielt habe, war ich der Jazz Guy! Steely Dan wurde mir gestrichen, weil „das eine Jazz-Kapelle ist“. Tracy Chapman wurde mir gestrichen, weil „sie eine verkappte Joan Armatrading“ sei. Dann kam sie nach ihrem Nelson Mandela 70th Birthday Tribute Concert in die Charts auf Platz 1 der deutschen Album Charts und lief dann natürlich den ganzen Tag im Tagesprogram …
RADIOSZENE: Die deutsche Sendelandschaft ist – im Gegensatz zu anderen Ländern wie den USA – nicht gerade überversorgt mit Jazzradios. Meist gibt es nur zeitlich begrenzte Angebote – und auch diese werden tendenziell weniger. Selbst bei den öffentlich-rechtlichen Sendern. Wo sehen Sie die Gründe für diese Entwicklung?
Tom Glagow: Nur noch zu später Stunde gibt es Jazz. Die Moderatoren sind in so ein enges musikalisches Korsett gezwängt durch die Vorgaben der Redaktion, da kann ja gar kein Spaß entstehen. Die Playlisten werden vorher von der Redaktion abgenommen, genau wie die Texte, die dann gelesen werden … Wenn der Kollege dann noch ein vorgegebenes Thema behandelt, das nicht so sein Ding ist … Ich schalte dann ab, wenn ich das höre. Das Lustige ist ja auch noch, dass die deutschen Musik-Majors nur die öffentlich-rechtlichen Anstalten bemustern, weil die ja „ihre“ Musik spielen. Die Neuheit oder Schwerpunkte, was halt gerade Sinn macht.
RADIOSZENE: Sie gelten als aufmerksamer Beobachter der Jazzszene. In welche Richtung entwickelt sich die Musik gerade? Welchen Beitrag leistet hier der Trend, dass bekannte PopkünstlerInnen immer häufiger hörbare Elemente des Genres in ihre Songs einfließen lassen?
Tom Glagow: Dass Popkünstlerinnen sich im Jazz bedienen ist nicht neu und hat eigentlich eine lange Tradition. Aber das hat oft auch damit zu tun, dass zum Beispiel Lady Gaga eine fantastische Musikerin ist und man sie sehr wohl alleine ans Klavier setzen kann. Das kann man ja mal mit Madonna versuchen. Bruce Springsteen bleibt immer Bruce. Ob er, wie gerade, Soul singt oder ein Jazz Album gemacht hätte. Robbie Williams mit seinem Swing Album hat mir sehr gefallen!
„Die Moderatoren […vieler Jazzsendungen im Radio…] sind in so ein enges musikalisches Korsett gezwängt durch die Vorgaben der Redaktion, da kann ja gar kein Spaß entstehen“
RADIOSZENE: Wie hat die Corona-Pandemie die Jazzszene beeinflusst?
Tom Glagow: Ganz furchtbar! Dass es viele Jazz Clubs noch gibt, hat wohl eher mit dem Herzblut der Macher zu tun als mit vorhandenem Geld. Vielen Musikern geht es nicht gut und die Konzertsituation hat sich noch längst nicht normalisiert! Auch im Jazz gilt, was bei den großen Konzerten gilt. Die Superstars machen die Konzerte voll, die kleinen, jungen Künstler haben es sehr schwer.
RADIOSZENE: Wie ist es um den Jazz-Nachwuchs bestellt?
Tom Glagow: Ich finde es traurig, dass viele junge Piano-Trios immer noch versuchen, wie E.S.T. zu klingen. Das war damals neu und hat natürlich bis heute nicht an aktuellem Einfluss eingebüßt. Ich vermisse aber oft das Melodische, die Schönheit eines Lyle Mays oder Joe Sample fehlt einfach. Es gibt junge Künstler, denen ich noch viel zutraue. Clara Haberkamp oder Simon Oslender, der hat jetzt schon ein Weltklasse-Niveau. Till Brönner ist ein wenig seinem eigenen Image erlegen und ist nicht mehr so wegweisend. Da ist Nils Wülker spannender, der sich mit fast jedem Album mehr oder weniger immer neu erfindet, was sein Umfeld und seine Musik betrifft. Von Rock Band, HipHop Grooves, Orchestra oder gerade im Duett mit Gitarre. Einer der wirklich melodischen Komponisten, die wir haben. Das trifft natürlich auch auf Wolfgang Haffner zu!
RADIOSZENE: Welche nächsten Pläne haben Sie mit club.radio?
Tom Glagow: Weitermachen! Mit offenen Ohren und Augen. Kollegen finden, die mir die eine oder andere Sendung abnehmen. Vielleicht einen Sponsor oder Partner finden, der die Ausrüstung von mir und die Reichweite auf ein neues Level hebt und die monatliche Sicherheit gewährleistet, dass es weitergehen kann. Das wäre schon ein kleiner Traum. Aber nur, wenn die Freiheit der Musik bleibt. Ich werde niemals einen „Smooth Jazz Sender“ oder ein „Hit Radio“ machen. Das können andere so viel besser!
RADIOSZENE: Was bedeutet Radio generell für Sie – auch vor dem Hintergrund, dass das Medium in diesem Jahre 100jährigen Geburtstag feiert?
Tom Glagow: Der 29. Oktober 1923 mit der allerersten Sendung des „Unterhaltungsrundfunks“ in Berlin wird auch von mir sicherlich nicht unbedacht bleiben. Aber nicht ganz unwichtig für mich ist vorher der 4. September. Da gehe ich, wenn ich die Finanzierung schaffe, mit club.radio ins „Funky 4. Jahr“! Jazz und Radio sind und bleiben der Soundtrack meines Lebens.