Es gibt sie tatsächlich noch, die Programmen und Sendeschienen, die von den Highways populärer Mainstream-Trassen abbiegen – und die Nachfrage nach Genres wie Alternative Rock, Indie Pop, ausgefallenen elektronischen Spielarten, Singer Songwritern oder Jazz kompakt unter einem Dach bedienen. Oder Musikgenres, Musikhistorisches und Künstlerkarrieren ausführlich beleuchten. Wie etwa die Sender EgoFM, Bayern 2, ByteFM, FluxFM, Bremen Zwei, radioeins oder Deutschlandfunk Kultur. Ihr Markenzeichen: bewusste Abkehr vom alltäglichen Chart-Gedöns, kuratierte Musikshows – präsentiert von profunden Kennern mit Herz, Hirn und Verstand … immer auf der Suche nach den besonderen Sounds von gestern, heute und übermorgen.
Als der Norddeutsche Rundfunk in 2021 seine Hörfunkprogramme nachjustierte, wurde auch das im Sendegebiet über DAB+ ausgestrahlte Musikangebot NDR Blue verändert. Mit diesem Relaunch fanden viele zuvor bei NDR Info angesiedelte Sendeformate (wie der „Nachtclub“ oder Jazz) im Umfeld des alternativen Musiksenders endlich das passende neue Zuhause.
Die NDR Blue-Programmstruktur erinnert mit ihren moderierten Nischen sowie einer breit gefächerten musikalischen Angebotspalette an die (immer mehr aus der Mode kommenden) „Einschaltradios“ früherer Jahre. Und wo im deutschen Radio gibt zum Tagesausklang zu später Stunde exquisite Pop- und Rock-Konzertübertragungen aus den Archiven von NDR, ARD oder EBU?
Die Klammer zwischen den musikjournalistischen Programmteilen liefern Musikstrecken, die sich wohltuend vom Hiteinerlei der meisten konkurrierenden Radioangebote in Norddeutschland abheben. Aber auch von der Monotonie seelenlos zusammengeschusterter, steriler Top-Playlists mancher Streaming-Dienste.
Im Interview mit RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich sprach mit Bettina Taheri-Zacher, Musikchefin von NDR Kultur, über die Musik und Programmstruktur des Musiksenders.
„NDR Blue präsentiert musikjournalistische Sendungen, die einordnen, kritisieren, Bezüge herstellen und exklusive Interviews bieten“
RADIOSZENE: NDR Blue ist ein Musikangebot, das sich – sehr vereinfacht gesagt – an „Freunde von Sounds jenseits der Charts und des Mainstreams wendet“. Welche Bevölkerungsgruppen haben Sie da genau im Blick?
Bettina Taheri-Zacher: Das Expeditive Milieu* haben wir als Haupt-Zielgruppe definiert.
RADIOSZENE: Haben Sie Erfahrungswerte welche Personen den Sender tatsächlich nutzen?
Bettina Taheri-Zacher: Dafür liegen uns leider bislang keine belastbaren Nutzungsdaten vor.
RADIOSZENE: Das Programm wurde in 2021 umgestaltet. Beschreiben Sie uns die derzeitige Sendestruktur und Ausrichtung … Umfang und Art der angebotenen Musikrichtungen ist ja in der Tat sehr beachtlich.
Bettina Taheri-Zacher: NDR Blue steht für ein Best-Of aller musikjournalistischen Sendungen des NDR. Mit Sendungen wie „NDR Kultur NEO“, „NDR 2 Soundcheck – Die Peter Urban Show“ oder den „N-JOY Soundfiles Hip-Hop“, aber auch für die exklusiven, moderierten NDR Blue Nachtclub-Sendungen. NDR Blue präsentiert musikjournalistische Sendungen, die einordnen, kritisieren, Bezüge herstellen und exklusive Interviews bieten.
In den unmoderierten Sendestrecken, die den Hauptbestandteil und das Herz von NDR Blue bilden, findet sich eine immense Vielfalt aus Genres der U-Musik.
RADIOSZENE: Ist NDR BLUE damit eine Art Einschaltprogramm?
Bettina Taheri-Zacher: Für Nachtclub- und Nightloungesendungen, die wir Montag bis Freitag von 20 bis 22 Uhr senden, eindeutig ja. Von 22 bis 24 Uhr gibt es bei Nachtclub in Concert spannende Live-Mitschnitte, darüber hinaus unter anderem Podcasts, Jazzsendungen und NDR Kultur NEO.
RADIOSZENE: Wie hoch ist der Wortanteil bei NDR Blue?
Bettina Taheri-Zacher: Zwischen 10 bis 17 Uhr werden die Wort-Musiksendungen von N-Joy, NDR2 und NDR Kultur wiederholt, zum Beispiel Highlights wie die Peter Urban Show oder Neo. Der Wortanteil variiert je Schwerpunkt zwischen 25 bis 50 %. Ebenso im Nachtclub ab 20 Uhr, wobei hier der Wortanteil bei mind. 40 % liegt.
RADIOSZENE: Ein guter Teil der Sendezeit ist nicht moderiert – etwa am Morgen oder in der Nacht. Nach welchen Kriterien strukturieren Sie hier die Musikauswahl?
Bettina Taheri-Zacher: Singer-Songwriter*innen alt und aktuell, Rock, Alternative-Pop, Electro-Dance, alten und neuen Soul, Deutsch Pop, HipHop, New Jazz, World, „Sophisticated Pop“ et cetera. – wenn man so möchte, alle Spielarten des Indie-Pop, intelligente und anspruchsvolle U-Musik aus diversen Dekaden. Unter Berücksichtigung von Diversität ist zudem ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis in den Rotationsstrecken „NDR Blue Morning“, „NDR Blue After Work“ sowie „NDR Blue Weekend“ gegeben.
RADIOSZENE: In den moderierten Sendungen wird dem gepflegten Musikjournalismus viel Platz eingeräumt. Hier kommen unter anderem einschlägig bekannte Moderatoren wie Peter Urban, Paul Baskerville, Goetz Steeger oder Matias Boem zu Wort. Experten, die ihre Musikauswahl frei und ohne Formatvorgaben treffen. Wie wichtig sind diese Shows in Zeiten, in denen immer mehr Menschen zu den Streamingdiensten abwandern und manche Genres im terrestrischen Radio kaum mehr zu hören sind?
Bettina Taheri-Zacher: Die Moderator*innen sind wie gute alte Bekannte, die die Spreu vom Weizen trennen und verlässliche Tipps geben und so vieles Neue und bisher Ungehörtes entdecken lassen. Die Informationen und persönlichen Einschätzungen oder auch Geschichten über Musiker*innen sind das Salz in der Suppe. NDR Blue bietet eine gute Alternative und einen Gegenpol zu anderen Angeboten, das ist richtig und wichtig. Wir freuen uns, wenn unser Publikum unser Angebot nutzt und wertschätzt.
RADIOSZENE: Die Übernahmen diverser Sendungen kommen von NDR2, NDR Kultur und N-JOY. Welche Voraussetzung muss ein Format erfüllen, um bei NDR Blue eingeplant zu werden?
Bettina Taheri-Zacher: Wir planen moderierte Musiksendungen ein, die über das musikalische Format in der Primetime der einzelnen Sender hinausgeht. Meist sind es Formate, die auf den einzelnen Sendern in den Abendstunden laufen und dann auf NDR Blue ab dem Vormittag eingesetzt werden und so beim gezielten Einschalten oder Nebenbeihören noch andere Hörer*innen erreichen.
„Die Moderator*innen von NDR Blue sind wie gute alte Bekannte, die die Spreu vom Weizen trennen und verlässliche Tipps geben und so vieles Neue und bisher Ungehörtes entdecken lassen“
RADIOSZENE: Die sonstige Primetime eines Radiotages am frühen Morgen ist frei von Moderation. Ist dies bewusst so geplant?
Bettina Taheri-Zacher: Ja, wir setzen bewusst auf mit Sorgfalt kuratierte und unmoderierte Musikstrecken, musikalische Vielfalt, Zeitgeist, ohne die Schwere, die sonst vielleicht im Feuilleton oder anderen Kultur-Angeboten im Unterton mitschwingt. So soll NDR Blue vor allem Spaß beim Hören machen.
RADIOSZENE: Eine Besonderheit dürfte auch die werktägliche Konzert-Schiene darstellen. Kein lineares Programm in Deutschland (jenseits der reinen Kulturangebote) weist einen solch hohen Live-Anteil auf wie NDR Blue. Welche Konzertereignisse kommen hier zu Gehör?
Bettina Taheri-Zacher: Bei den Konzerten handelt es sich hauptsächlich um Eigenproduktionen. Darauf sind wir sehr stolz, schließlich sind wir häufig Medienpartner bei renommierten Events wie dem Reeperbahnfestival, dem Elbjazz oder dem Rolling Stone Weekender. Aber auch tolle Liveaufnahmen von kleineren Festivals, wie dem „Kunstflecken“ in Neumünster oder die Reihe „Rockcity On Air“ mit neuen Acts aus dem Norden werden aufgezeichnet. Der NDR tauscht sich darüberhinaus auch mit anderen ARD-Sendern aus oder bedient sich aus dem Angebot der EBU. Dieser Austausch war besonders während der Pandemie sehr vorteilhaft.
Für die Künstler und Künstlerinnen bietet NDR Blue eine zusätzliche Plattform. Nachtclub in Concert versteht sich auch als Ergänzung zum Nachtclub. Es gab schon Beispiele, da wurde im Nachtclub eine Künstlerin im Interview vorgestellt und danach lief dann ihr Konzert in voller Länge.
RADIOSZENE: Ist Ihr Programm nicht auch eine perfekte Plattform für neue Musik?
Bettina Taheri-Zacher: Natürlich, Neue Musik entdecken Sie in allen genannten Formaten.
RADIOSZENE: Über welche Kanäle machen Sie in der Öffentlichkeit auf NDR BLUE aufmerksam?
Bettina Taheri-Zacher: In den vergangenen (Vor Corona-) Jahren gab es mit „NDR Blue Backstage“ auf dem Hamburger Reeperbahn Festival eine Live-Radio-Show: In einem Club auf der Reeperbahn haben NDR Blue Moderator*innen täglich eine Stunde lang mit Veranstaltern, Autorinnen, Journalisten und Musikerinnen über Konzerte und aktuelle Trends sowie die Situation der Clubs in Hamburg diskutiert. Dazu gab es Live-Musik von Künstlern des Festivals. „NDR Blue Backstage“ wurde mit Anzeigenschaltungen im Vorfeld sowie Signalisation auf dem Festival beworben. Ob in diesem Jahr eine Neuauflage von „NDR Blue Backstage“ beim Reeperbahn Festival geplant ist, wird sich in den nächsten Wochen klären.
Darüber hinaus informiert der Norddeutsche Rundfunk seit Jahren regelmäßig über das Thema DAB+ und die drei Digitalradio-Programme des NDR – NDR Info Spezial, NDR Schlager und NDR Blue – auch direkt vor Ort zum Beispiel an Infoständen auf den großen NDR Festivals.
RADIOSZENE: NDR Blue wird terrestrisch ausschließlich über DAB+ verbreitet. Welche Erfahrungen konnten Sie mit der Verbreitungstechnik sammeln? Ist die digitale Technik inzwischen in der Bevölkerung angekommen?
Bettina Taheri-Zacher: DAB+ ist der Nachfolger von UKW. Die Verbreitung von Radioprogrammen über UKW-Frequenzen ist ein beschlossenes Auslaufmodell, somit sind wir damit langfristig gut aufgestellt.
*Anmerkung Expeditives Milieu: Dazu gehören laut Sinus rund 20 Prozent der jungen Männer und Frauen. Sie gelten als gesellschaftliche Avantgarde, weil sie es schaffen, einerseits die gestiegenen Anforderungen der modernen Leistungsgesellschaft zu erfüllen, andererseits aber auch ihren Alltag hedonistisch überformen, also nach Lust und Laune gestalten. Die Expeditiven sind angepasst, ohne langweilig zu sein. Sie suchen nach neuen Wegen und Herausforderungen, ohne schulische und soziale Verpflichtungen zu vernachlässigen.