Germany … No Points! Novum in der Chronik der vom Erlanger Institut MusicTrace ermittelten Offiziellen Deutschen Airplay-Charts: erstmals weist diese Radio-Bestenliste in ihrer Top 100–Jahresübersicht für das zurückliegende Jahr keinen einzigen deutschsprachigen Titel aus. Als bestplatziertes Werk rangiert auf Platz 106 das Lied „Zukunft Pink“ von Peter Fox feat. Inéz. Die Amtssprache der Musik in weiten Teilen der deutschen Radiolandschaft bleibt damit Englisch – immerhin schafften es drei spanischsprachige Hits diese erdrückende Phalanx innerhalb der 100 Punktebesten zu durchbrechen.
Beim Blick auf die Top 200 tauchen dann doch 8 Stücke in deutscher Sprache auf, darunter Werke der beliebten Radiodauerläufer Silbermond, Namika, Mark Forster und Max Giesinger. Wobei Letzterer wohl die Zeichen der Zeit erkannt hat und gerade einen englischsprachigen Song veröffentlichte.
Der Trend in Richtung stark rückläufiger deutschsprachiger Anteile hat sich bereits seit geraumer Zeit verfestigt. Lag in den Top 100 der Jahres-Airplay-Charts der Anteil an Titeln in deutscher Sprache bis Mitte der 2010er-Jahre im zweistelligen Prozentbereich (und bei bis zu 16 %), so sank dieser Wert in den Vorjahren 2020 und 2021 auf jeweils gerade 5 Stücke. Jetzt steht die Null!
Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Natürlich werden noch deutschsprachige Lieder im Radio gespielt. Naturgemäß bei Schlagerformaten wie Schlager Radio, Radio Paloma oder Radio Schlagerparadies, die berechtigt sogar auf eine Quote von „100 Prozent Deutsch“ verweisen. Allerdings sind diese privaten Angebote eher die Ausnahmen.
Hinzu kommt ein Ungleichgewicht bei der Einsatzhäufigkeit: so werden die aktuellen Stücke auf den Playlisten der Schlagerwellen nur dosiert gespielt (bis zu 4 Plays am Tag), während junge AC-Wellen und Jugendradios die Hits in Frequenzen von bis zu 12 Einsätzen pro Tag rotieren lassen. Insgesamt verzeichnet der meist gespielte Song in Deutschland in 2022 („In The Dark“ von Purple Disco Machine x Sophie And The Giants) 75.315 Plays. Der am häufigsten gespielte Schlager („Das größte Glück der Welt“ von Howard Carpendale) erreicht mit 2.999 Plays lediglich Platz 271 der Jahres-Charts.
Diese Programm-strukturellen Nachteile werden durch tendenziell geringere Hörerzahlen der Schlagerradios (als die der Reichweiten-starken Popradios) verstärkt, da bei der Ermittlung der Platzierungen des Airplay-Charts-Rankings auch die ma-Reichweiten der Sender beigemischt werden.
Während in den Musikprogrammen einiger urbaner Popwellen bereits seit Jahren keine, beziehungsweise nur noch wenige deutsche Titel zu hören sind, haben in 2022 weitere Sender nachgezogen. Bei zahlreichen Hörfunkstationen ist heute Deutschsprachiges somit nur noch in Hörerwunschsendungen oder an Aktionstagen hörbar.
Die Radioseite argumentiert übereinstimmend mit einem spürbaren Rückgang an Zustimmung der Hörer für deutschsprachige Popmusik. Ein Trend, der sich bei den regelmäßigen demoskopischen Befragungen der Sender zur Musik inzwischen bundesweit verfestigt hat. Als weitere Ausschlusskriterien werden von manchen Musikverantwortlichen der Programme auch die Breite und derzeitige Qualität des Angebots an neuer Musik sowie die Anmutung deutscher Stücke bemängelt („zu schlagerhaft, passt nicht in unsere derzeitige Soundstruktur“).
Überhaupt spielt die Musikforschung beim Gros der Sender eine wichtige Rolle. Hier wird auch abgefragt, ob KünstlerInnen und deren Musik noch zu Image und Format eines Programmangebots passen. Ist dies (wie in Fällen mancher altgedienter Stars früherer Dekaden) nicht mehr der Fall, wandert der Titelstock hausintern im Zuge der „Flottenstrategie“ von der jungen Popwelle weiter ins nächst „ältere“ Programmformat – wo die Chancen auf häufiges Airplay allerdings eher gering sind.
Und deutscher Rap/HipHop? Trotz erfolgreicher Platzierungen in den Offiziellen Deutschen Charts sowie Streaming-Bestenlisten finden Genre und Radio weiter nur zögerlich – bei einigen urbanen Formaten – wirklich zueinander. Dieses Fremdeln basiert – neben den Hindernissen problematischer Textstellen – ebenfalls auf Erkenntnissen der Musikforscher, die Deutschrap-Nutzer im Kern als „junge, männliche und spitze Zielgruppe“ verorten. Selbst die Erfolgssongs der Stilart „würden die Masse der Radiohörer eher abschrecken und wenig neues Klientel binden“. Vielleicht auch ein Grund, warum vormals beinharte Deutsch-Rapper vermehrt den ursprünglichen Weg verlassen und mit „Radio-tauglichen“ Produktionen in Richtung „Mainstream“ abbiegen.
Also wieder nur schlechte Nachrichten vom Radio? Falsch! In 2022 hat das Medium auch (s)einen starken Beitrag für das (fremdsprachige) nationale Copyright beigesteuert: so stammen mit Purple Disco Machine („In The Dark“) und Leony („Remedy“) die beiden im Hörfunk (mit Abstand) meist gespielten InterpretenInnen aus dem deutschen Lager. Ein bislang wohl einzigartiges Ereignis in den Annalen der Offiziellen Deutschen Airplay-Charts! Zumal auch der auf Position 4 platzierte Song des Singer Songwriters KAMRAD („I Believe“) der heimischen Produktion zuzuordnen ist.
Darüber hinaus belegen die Veröffentlichungen der inländischen DJs Topic, Robin Schulz, Alle Farben oder Felix Jaehn mit ihren gefälligen Dance-Pop Sounds innerhalb der Jahres-Radio-Charts 2022 eine gute Zahl hervorragender Platzierungen. Als weitere nationale InterpretenInnen qualifizierten sich Glockenbach, Lena, Nico Santos, Alvaro Soler, Michael Schulte, Giant Rooks oder Milky Chance für den erlesenen „Hunderter Airplay-Club“ des vergangenen Jahres. Insgesamt finden sich unter den Top 100 der Radio-Bestenliste 32 englischsprachige Stücke, die als nationale Produktionen und/oder InterpretenInnen zu werten sind.
Weiter bleibt die Erkenntnis: Radio kann aber auch im Jahr seines 100sten Geburtstags noch immer neue Talente entdecken und fördern. So erreichten die deutschen Newcomer ClockClock, Malik Harris, Zoe Wees und Loi ebenfalls die Top 100 der Jahresbesten. Hier leisteten die Radiomacher durch massives Airplay wertvolle Luftunterstützung bei der Durchsetzung junger Karrieren. Eine Aufmerksamkeit, die in früheren Jahren in diesem Umfang nicht immer gegeben war – und die gleichzeitig aber auch die heutige Wettbewerbsfähigkeit deutscher Musikschaffender auf dem Popsektor nachhaltig unterstreicht.