„Sich einfach hinsetzen und in ein Mikrofon reinquatschen reicht heute nicht mehr aus“

Felicia Reinstädt (Bild: ©Bremen NEXT)
Felicia Reinstädt (Bild: ©Bremen NEXT)

Felicia Reinstädt gehört zur Garde engagierter Programmmagerinnen der neuen Generation, die in den letzten Jahren die Führung zahlreicher junger ARD-Wellen übernommen haben. Wie etwa beim NDR-Jugendradio N-JOY, bei DASDING (SWR), 1LIVE (WDR) oder beim Jugendprogramm PULS (Bayerischer Rundfunk). Reinstädt arbeitet seit 2015 bei Radio Bremen, hat das crossmediale Angebot Bremen NEXT aufgebaut und leitet das jüngste Programm im Nordwesten sowie eines der jüngsten in Deutschland seit dem Start 2016 erfolgreich. Vor ihrer Zeit bei Radio Bremen war sie als Redakteurin und Autorin für Radio, Online und Print, insbesondere für das BR-Jugendprogramm PULS tätig. Sie ist Absolventin der Deutschen Journalistenschule.

Seit 1. Januar 2021 verantwortet Felicia Reinstädt zudem in Personalunion die massenattraktive Popwelle Bremen Vier. Die 39-Jährige ist außerdem Stellvertreterin von Helge Haas im Programmbereich Pop & Digital. Im Rahmen einer Umstrukturierung der Programmdirektion der ARD-Anstalt wurden im vergangenen Jahr die digitalen Einheiten bei Radio Bremen wie beispielsweise Bremen NEXT, Bremen Vier, die Digitale Garage und die Digitale Strategie zusammengefasst und im neu geschaffenen Programmbereich Pop & Digital unter der Leitung von Helge Haas gebündelt.


RADIOSZENE-Mitarbeiter Michael Schmich sprach mit Felicia Reinstädt unter anderem über Programmausrichtung, digitale Strategien und die Perspektiven junger Radioformate.

 

„Wir machen Programm für jungen Menschen aus der Region und überlegen uns sehr genau, wie und wo wir die Themen für unsere Community umsetzen“

 

RADIOSZENE: Die von Ihnen verantworteten Programme Bremen Vier und das junge Angebot Bremen NEXT haben bei ersten Media Analyse 2022 bei der Stundenreichweiten zweistellig zugelegt. Die aktuelle MA zeigt nun weitere Zugewinne bei Bremen NEXT und eine stabile Hörerbasis bei Bremen Vier im Sendegebiet. Wie bewerten Sie diese Zahlen?

Felicia Reinstädt (Bild: ©Bremen NEXT)
Felicia Reinstädt (Bild: ©Bremen NEXT)

Felicia Reinstädt: Wir freuen uns natürlich, dass uns weiterhin so viele Menschen hören und gerade bei Bremen NEXT weiter neue Leute dazukommen – vor allem so junge Hörerinnen und Hörer. Mit einem Durchschnittsalter von 27 Jahren sind wir das jüngste Radioprogramm in ganz Deutschland und in der Altersverteilung ganz klar jung positioniert. Das ist ein sehr schöner Erfolg! Auch bei Bremen Vier zeigt sich im Sendegebiet eine Konstanz bei den Leuten, die uns täglich einschalten. Im Land Bremen sind wir das meistgehörte Programm in der anvisierten Zielgruppe der 30-49 Jährigen und liegen auch bei der durchschnittlichen Stundenreichweite bei den 14-49 Jährigen vorne. Ich denke, das zeigt, dass wir gerade in schwierigen und anstrengenden Zeiten wie diesen für unsere Leute ein emotionale Konstante sind. Wir halten sie mit den wichtigsten Infos auf dem Laufenden, haben ein offenes Ohr für ihre Themen und Sorgen, sind stark verwurzeln in der Region und sorgen natürlich auch für die nötige Ablenkung Unterhaltung.

RADIOSZENE: Sie haben bei Bremen NEXT von Beginn an konsequent auf digitale Strategien gesetzt. Wie intensiv sind Radioprogramm und digitale Wege inzwischen miteinander verknüpft?

Felicia Reinstädt: Bei Bremen NEXT machen wir seit Anfang an Programm, das sowohl im Radio als auch auf digitalen Plattformen stattfindet. Geplant wird das alles aus einem Guss. Klar haben sich die Plattformen und Prioritäten über die sechs Jahre, die es uns gibt, geändert. Die Grundaufstellung ist aber die gleiche: Wir machen Programm für jungen Menschen aus der Region und überlegen uns sehr genau, wie und wo wir die Themen für unsere Community umsetzen. Das Radio ist dabei weiterhin ein starker Ausspielweg für uns, aber eben einer unter vielen.

Chai Society (Bild: © Radio Bremen / Christian Wasenmüller)
Chai Society (Bild: © Radio Bremen / Christian Wasenmüller)

RADIOSZENE: Welche Bedeutung haben inzwischen die digitalen Verbreitungswege? Haben Sie Erkenntnisse, wie viele Hörer – beispielsweise von Bremen NEXT – das Programm jenseits analoger Empfangsmöglichkeiten nutzen?

Felicia Reinstädt: In der MA IP Audio bekommen wir sehr genau aufgeschlüsselt, wie viele Leute uns via Livestream hören und da sehen wir seit Beginn, dass die Kurve deutlich nach oben geht. Allerdings sagt das nichts über das Verhältnis zwischen UKW, Web und DAB+ aus. Wir gehen davon aus, dass uns die meisten Leute auch weiterhin klassisch über UKW hören.

RADIOSZENE: Gerade bei den jungen Zielgruppen scheint sich der Zeitgeist bei Musik und Lifestyles in immer kürzeren Frequenzen zu wandeln. In wie weit nehmen Sie im Programm externe Entwicklungen auf? Welche Musikstile und Trends sind im Sendegebiet von Bremen NEXT aktuell besonders angesagt?

Felicia Reinstädt (Bild: ©Bremen NEXT)
Felicia Reinstädt (Bild: ©Bremen NEXT)

Felicia Reinstädt: Bei einem so jungen Programm wie Bremen NEXT ist es wichtig, sowohl thematisch als auch musikalisch am Puls der Zeit zu sein. Redaktionell sind wir so aufgestellt, dass wir im Programm schnell über Trends berichten und auch neue Formate und Plattformen ausprobieren können. Auch in der Musikwelt ist viel in Bewegung, aber im Grunde sind die dominierenden Stile bei den Jungen weiterhin Hip Hop, Deutschrap und clubbige Sachen. Allerdings klingen die Sachen anders. Tatsächlich findet das oftmals herbei gesehnte Comeback der Gitarre viel im Hip Hop und Deutschrap statt. Ein aktueller Trend in Bremen und auch bundesweit sind UK Rap Tracks mit sehr geschickt gesampleten Hooks älterer Hits. Auch K-Pop spielt bei vielen jungen Menschen eine Rolle und darf hier nicht vergessen werden.

 

„Wertigkeit und Konsum von Musik hat sich geändert, aber auch die Jungen haben nach wie vor ihre Stars“

 

RADIOSZENE: Die Bedeutung und Wertigkeit von Musik haben sich mit der Digitalisierung sowie den Streamingdiensten grundlegend verändert. Welches Gewicht haben Hits und Musikkünstler überhaupt noch bei jungen Radiohörern?

Felicia Reinstädt: Wertigkeit und Konsum von Musik hat sich geändert, aber auch die Jungen haben nach wie vor ihre Stars. Was sich schon seit Längerem zeigt, ist, dass Alben nicht mehr den Stellenwert haben und Hits auf anderen Wegen entstehen, vor allem auf Tik Tok. Dennoch hat auch die aktuelle junge Generation nach wie vor auch ihre Hits, die sie feiern.

RADIOSZENE: Welchen Stellenwert nehmen heute Podcasts beziehungsweise Beiträge zum Nachhören in den Programmen von Bremen NEXT und Bremen Vier ein? Welche Genres und Vorlieben der Hörer sind hier vor allem gefragt?

Felicia Reinstädt: Sowohl bei Bremen Vier als auch bei Bremen NEXT haben wir Musik-Spezialsendungen, die wir im Webchannel anbieten. Den klassischen Beitrag zum Nachhören gibt es bei uns aber nicht. Ich halte auch nicht viel davon, denn die Audio on Demand-Nutzung unterliegt anderen Gesetzmäßigkeiten als die Radionutzung. Podcast sind keine Radiosendungen zum Nachhören, sie haben ihre eigene Form und diese gilt es auch bei der Konzeption zu berücksichtigen. Bei Bremen NEXT haben wir mit “Famillionaires” und “Chai Society” zwei Podcast, die sich mit Themen aus der jungen Lebenswelt beschäftigen und hier auch nochmal ihre eigenen Zielgruppen bedienen. Das merken wir gerade bei “Chai Society”, einem Podcast, der sich mit der Lebensrealität von Menschen mit Migrationshintergrund beschäftigt. Hier haben wir mit dem Podcast und dem dazugehörigen Instagram-Channel eine treue Fanbase aufgebaut.

Chai Society (Bild: © Radio Bremen / Christian Wasenmüller)
Chai Society (Bild: © Radio Bremen / Christian Wasenmüller)

Auch bei Bremen Vier haben wir mit “Shop Your Baby” unsere erste Podcast-Serie über das Thema Kinderwunsch und alternative Familienkonzepte veröffentlicht. Der Podcast ist stark thematisch getrieben, setzt aber auch auf die Personality und die persönliche Geschichte unseres Hosts und spricht offen über Tabuthemen wie gewollte und ungewollte Kinderlosigkeit.

Generell ist weiterhin viel “Musik” im Podcastmarkt und die Angebote sind unglaublich vielfältig, aber das heißt auch, dass man mit guten Ideen und Konzepten an den Start gehen muss. Sich einfach hinsetzen und in ein Mikrofon reinquatschen reicht heute nicht mehr aus.

Francine im Bremen NEXT-Studio (Bild: ©Radio Bremen/Stefan Harms)
Francine im Bremen NEXT-Studio (Bild: ©Radio Bremen/Stefan Harms)

RADIOSZENE: Bremen Vier scheint nach seinem letzten Relaunch inzwischen in ruhigem Fahrwasser angekommen zu sein. Welche Hörerschichten wollen Sie mit dem Programm heute erreichen? Welche redaktionellen Inhalte stehen im Vordergrund?

Felicia Reinstädt: Wir sprechen bei Bremen Vier Menschen aus der Region an, die in der Mitte ihres Lebens stehen. Wenn man sich die Lebenswirklichkeiten von Menschen von Ende 20 bis Mitte 40 anschaut, ist da alles dabei: Viele haben Familie, aber nicht unbedingt alle, die meisten stehen voll im Beruf, aber manche sortieren ihr Leben auch gerade nochmal neu. Insgesamt ist das also eine sehr heterogene Zielgruppe, auch was den Bildungsgrad, das Einkommensniveau und die Interessen betrifft und ob die Leute in der Stadt oder auf dem Land wohnen.

NEXT am Morgen mit Milton im Studio (Bild: ©Bremen NEXT / Stefan Harms)
NEXT am Morgen mit Milton im Studio (Bild: ©Bremen NEXT / Stefan Harms)

Für unsere Themenauswahl bedeutet das, dass wir breit gefächert sind. Uns ist es wichtig, unser Publikum mit aktuellen und regionalen Informationen zu versorgen und dazu einen guten Mix aus Unterhaltung, Service und Musik anzubieten. Wir sind in einer Zeit, in der große Themen wie Krieg und Pandemie uns in allen Lebenslagen berühren. Da ein gutes Gleichgewicht aus diesen harten Themen und einer gewissen Leichtigkeit im Programm zu finden, ist die große Herausforderung.

RADIOSZENE: Welche Entwicklungsperspektiven sehen Sie für die von Ihnen verantworteten Programme? Werden sich die sog. Masse-attraktiven Angebote weiter behaupten oder geht der Trend eher in Richtung Special-Interest-Angebote?

Felicia Reinstädt: Wir leben mittlerweile in einer sehr ausdifferenzierten Gesellschaft und genauso ausdifferenziert ist auch das Medienangebot für die Menschen. Ob Special Interest oder vermeintlicher Mainstream – beides hat seine Berechtigung und wird abgerufen. Umso wichtiger ist es, den Leuten eine verlässliche Programmbasis zu bieten. Wenn ich mir heute anschaue, wen sprechen wir mit Bremen Vier oder Bremen NEXT im Radio an und wen mit unseren Auftritten auf unseren sozialen Kanälen an, kann ich schon jetzt sagen, das sind nicht genau die gleichen Leute. Es sind alles Menschen, die wir zu unserer Zielgruppe zählen, aber eben doch eigene Communities und die gilt es in der Ansprache und Konzeption unserer Inhalte für die unterschiedlichen Plattformen zu berücksichtigen.

Felicia Reinstädt (Bild: ©Bremen NEXT)

„Wenn ich mir heute anschaue, wen sprechen wir mit Bremen Vier oder Bremen NEXT im Radio an und wen mit unseren Auftritten auf unseren sozialen Kanälen an, kann ich schon jetzt sagen, das sind nicht genau die gleichen Leute“

 

RADIOSZENE: Im kommenden Jahr feiert in Deutschland das Radio den 100. Geburtstag. In welche Richtung wird sich Ihrer Meinung nach das Medium entwickeln? Welche Bedeutung wird der Hörfunk in der Lebenswelt der Menschen in – sagen wir – 10 Jahren einnehmen?

Felicia Reinstädt: Die Frage nach der Bedeutung des Radios begleitet mich schon seit ich Radio mache. Radio war ja schon früher – auch gegenüber dem Fernsehen – als Nebenbeimedium verschrien. Jetzt zeigt sich, dass bei der Vielzahl an Medienangebote genau das auch seine Stärke sein kann. Radio erreicht weiterhin sehr viele Menschen, aber wir dürfen uns nichts vormachen, es hören heute weniger Leute regelmäßig Radio als noch vor 20 Jahren und gerade bei den Jüngeren gibt es immer weniger, die traditionell das Radio einschalten. Es wird also spannend zu sehen, welche Rolle Radio zukünftig im Medienmix der Leute spielen wird.

Joka im Bremen-NEXT-Studio (Bild: © Radio Bremen / Christian Wasenmüller)
Joka im Bremen-NEXT-Studio (Bild: © Radio Bremen / Christian Wasenmüller)

Da möchte ich keine Prognosen abgeben, aber am Ende haben wir es auch ein bisschen selbst in der Hand: Indem wir relevant und vertrauenswürdig bleiben, interessante Persönlichkeiten on Air bringen, nah an unseren Hörerinnen und Hören dran bleiben, mit ihnen in einen offenen Dialog treten – im Radio, im Netz und mit interessanten Angeboten vor Ort – und bei all dem unser Programm mit Blick auf die Veränderungen im Mediennutzungsverhalten unserer Publikums weiterentwickeln. Es gibt also einiges zu tun, langweilig wird es uns Programmmacherinnen und -machern in den nächsten 10 Jahren definitiv nicht!

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